Matthias Sellmann ruft zu mehr Verbindlichkeit angesichts der Titanic-Situation der Kirche auf. Nach Wolfgang Beck, der die Pastoraltheologie hier im Bild des Bordfunkers verortet, greift nun der Theologe und Seelsorger Markus Heil das Bild auf und betrachtet es mit den Augen eines Matrosen.
Das sinkende Schiff
Das Bild vom sinkenden Schiff und der nach Verbindlichkeit im Artikel von Matthias Sellmann und die Wahrnehmung von Panik im offenen Brief von Wolfgang Beck geben Anlass zu weiterem Nachdenken.
Schon länger ist die Situation der Kirche schwierig: Wenige Junge, wenige Eltern, wenige Grosseltern, viele Urgrosseltern. wenig Priester, kaum Ordensnachwuchs, wenige Theologen, wenige Theologinnen, weniger Freiwillige. Wenig Richtung, wenig Enthusiasmus, viele Richtungskämpfe, viele überkommene aber nicht überarbeitete Regeln, viel Zwang, viel Ballast. Dazu kommen In diesen Wochen immer wieder neue Meldungen von sexuellem und Macht-Missbrauch, welche den maroden Zustand der Institution offen legen Panik-Szenario: Es brennt in der Kirche
Manche redeten letzte Woche davon, dass das Haus der Kirche brennt. Zur Bekämpfung des Missbrauchs wurde das Bild verwendet: Die US amerikanischen Bischöfe wollten löschen, aber der Vatikan hat ihnen nicht erlaubt, die Schläuche anzuschliessen.
Wiederum andere sagen voller Inbrunst, wenn das Haus brennt, dann könne man es doch nicht alleine lassen, sondern müsse hineingehen und das Haus retten, und machen denen Vorwürfe, die fliehen. Das Bild vom brennenden Haus löst schnell Panik aus, wo man doch eher zielstrebig und gefasst die richtigen Kommandos geben sollte oder sich zuerst überlegen könnte, was überhaupt noch zu retten ist.
Diese Panik ist zeitgemäss. Es brennt.
Ganz mit Greta Thunberg könnte man sagen: „Ich will, dass ihr in Panik ausbrecht, denn das Haus brennt!“ Diese Panik ist zeitgemäss, nicht weil es schnell geht, sondern weil es ernst ist, und weil soviel Arbeit da liegt, dass man nicht nachlassen darf.
Für unsere untergehende Form von Kirche scheint mir das Bild des sinkenden Schiffs ein passenderes Bild zu sein, wo heutigen Menschen gleich die Titanic einfällt.
Das Schiff sinkt – unaufhörlich aber langsam.
Das Schiff sinkt unaufhörlich aber langsam. Wir müssen gezielt mit den richtigen Bildern und mit reflektierten Handlungen unserem Dienst gerecht werden. Wir dürfen keine falschen Signale setzen. Vielmehr werden wir uns mit anderen auf die nächsten Schritte vorbereiten.
Für mich als Matrose auf dem sinkenden Schiff gibt es noch sehr viel Arbeit.
Auch wenn ich verstehe, dass andere gehen, weil sie für die Kirche keine Hoffnung mehr haben, so muss ich sagen, dass es für mich als Matrose auf diesem sinkenden Schiff noch viel zu viel Arbeit gibt, bis alle Passagiere in Sicherheit gebracht sind, oder zumindest bis sich die, die wollen, in Sicherheit gebracht haben. Dass der Kapitän als letzter von Bord geht, hat etwas mit Verantwortung und nicht mit Blauäugigkeit oder Hoffnung zu tun. In einer hoffnungslosen Situation Alternativen aufzuzeigen, ist eine schwierige Aufgabe.
Evakuationsplan
Die Evakuation kann deutlich erschwert werden, wenn unter der Mannschaft keine Einigkeit über den Ernst der Lage herrscht und kein Evakuierungsplan vorliegt. Einen solchen zu erstellen, müsste ein erster Schritt sein. Doch immer noch meinen einige, das alte leckgeschlagene Schiff sei noch zu retten, was ich durchaus auch Matthias Sellmann in seinem Artikel unterstelle, wenn er nicht über die Forderung nach mehr Verbindlichkeit hinaus geht.
Wenn das Schiff sinkt, stellt sich die Frage nach Schwimmwesten und den Rettungsbooten.
Wenn das Schiff sinkt, braucht man Schwimmwesten und Rettungsboote.
Mit den Rettungswesten ist die Rettungsaktion eine individuelle: Jede und jeder kann dies alleine tun und überlegen: «Was wird mich in den Stürmen tragen?» Ebenfalls kann man sich mit anderen austauschen: «Was beobachtet ihr, was trägt und was geht unter?» Hier würde ich im Gegensatz zu Wolfgang Beck die Aufgabe der Pastoraltheologie sehen.
In Rettungsmanövern braucht man in der Regel sowohl die Schwimmweste als auch ein Rettungsboot. Welche Rettungsboote geeignet sind, da gibt es noch keine allgemein gültigen Richtlinien, da braucht es die Wachheit von jedem und jeder Einzelnen.
Was trägt mich? Was trägt uns?
Es ist ein in jedem Fall ein wertvoller Anfang, sich für sich selbst bewusst zu machen, was man braucht und was einen trägt. Nicht zuletzt ist dies wichtig, um dann auch bei den Rettungshilfsmitteln das richtige zu finden.
Unterscheidung zwischen Schiff und Rettungsboot
Ja, die Unterscheidung zwischen Rettungsboot und Schiff scheint mir allerdings derzeit das vordinglichste Gebot zu sein. Hier herrscht viel Uneinigkeit im Benennen dessen, was in Kürze untergehen wird.
Auf dem Rettungsboot braucht es eine Gemeinschaft, die miteinander auch die zu erledigenden Aufgaben verteilt und die sich in Stürmen bewährt. Auch wenn im Rettungsboot jede und jeder eine Rettungsweste trägt, ist es eine Herausforderung, alle an Land zu bringen.
Im Rettungsboot kommt die Frage nach dem Moment, wann man es vom Schiff losbindet.
Vor allem muss das Rettungsboot so vom Schiff unterschieden werden, damit der Moment klar wird, wann man es losbinden muss, damit es nicht mit dem Schiff untergeht. Dies ist eine Frage des Überlebens und keine Wahl, ob ich das Alte wirklich verlassen will, ob ich alle Verdienste am Alten gebührend gewürdigt habe, ob ich ihm also nicht Unrecht tue, wenn ich es verlasse. Vielmehr ist es eine Frage des eigenen Überlebens.
Ein Rettungsboot hat ganz andere Werte, da ist nicht mehr der feine Wein auf der Titanic, das gute Essen, die schöne Musik entscheidend, oder ob gestern das Wetter schön war. Entscheidend ist die Beobachtung, dass das Schiff nicht mehr trägt, es marode ist und heutigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist.
Arbeit als Matrose
Die Arbeit als Matrose auf einem sinkenden Schiff ist alles andere als ruhig.
1. Wir müssen die Alarmglocke läuten. Man muss die Leute auffordern, die nötigen Sicherheitsmassnahmen vorzunehmen. Wenn man das zum falschen Zeitpunkt macht, dann hört niemand und wird auch später nicht hören, weil ja der erste Alarm verklungen ist. Das «Wie» des Alarmschlagens will überlegt sein.
2. Wir müssen vorher die einzelnen Schritte durchstudiert haben, um die Leute in Sicherheit zu bringen. Wovor wollen wir sie retten und was ist genau zu tun?
Alarmglocken läuten und Evakuierung üben
3. Wir müssen missverständliche Befehle vermeiden lernen. Wenn bei einem sinkenden Schiff jemand noch die Speisekarte von morgen aufhängt, lässt er die Menschen im falschen Glauben. (Die pastoralen Grossräume gaukeln eine Versorgungssicherheit vor, doch sind sie eher das Öffnen der Sicherheitsschleusen an Bord, welches das Sinken beschleunigt.)
4. Wir müssen die Befehle jener, die uns glauben machen, dass das Schiff nicht sinkt, von den Rettungsanweisungen unterschieden lernen. Ja, wir müssen die falschen Befehle zurückweisen lernen.
Missverständliche und falsche Befehle erkennen
5. Wir müssen die Leute ermutigen und ausbilden, selbst zu schwimmen und Verantwortung zu übernehmen. Ein Rettungsboot bildet eine lebendige Gemeinschaft, in der die Charismen aller anderen zu nutzen sind, um auch zukünftige Herausforderungen zu erkennen, die nach dem Wassern des Rettungsbootes zu leisten sind.
Verantwortung im Rettungsboot übernehmen
Mit dem Wahrnehmen dessen, was überleben könnte, geht das Erkennen der Rettungsboot-Kultur einher: Wo ist Lebendigkeit, die auch in Krisensituationen Hilfestellung bietet?
Das Ausbilden von Ehrenamtlichen ist entscheidend, damit sie sich zutrauen, in den verschiedenen Funktionen ihre Gemeinde verantwortungsvoll zu gestalten.
6. Zuletzt muss man der Rettungsboot-Besatzung noch die Kommunikation auf See wie auch Orientierungshilfen für die Weiterfahrt beibringen. Auch Erleichterungen der Kommunikation untereinander können überlebenswichtig sein.
Um den Abschied vom grossen Schiff konsequent einzuleiten, muss man sich von alten überkommenen Mustern lösen. Einige werden aufgrund ihrer eigenen inneren Bilder auf dem alten Schiff bleiben und mit ihm untergehen. Das ist nicht unser Versagen. Wir müssen nur sicherstellen, dass wir das uns Mögliche getan haben, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Schmerzhaft ist diese mangelnde Einsicht dann immer noch.
Mag sein, dass Sie ihr Rettungsboot schon gefunden haben. Ich hoffe, dass Sie sich nicht täuschen.
Jetzt mögen Sie mir antworten: «Aber in meiner Pfarrei oder in meinem kirchlichen Verein ist es doch nicht so schlimm.» Mag sein, dass Sie ihr Rettungsboot schon gefunden haben. Ich hoffe, dass Sie sich nicht täuschen. Dennoch werden wir das Rettungsboot vom grossen alten Schiff losbinden müssen, wenn wir nicht mituntergehen wollen. Dafür jetzt selbst – und noch besser mit anderen – Verantwortung zu übernehmen, ist das Gebot der Stunde.
Zuletzt ermöglicht diese Unterscheidung zwischen sinkendem Schiff und Rettungsboot, dass Mitarbeitende nicht immer auf die Hoffnung für die Zukunft rekurrieren müssen, um ihrer Arbeit einen Sinn zu geben. Auch ohne Hoffnung für die Institution der „klerikalen Kirche“ und ihrer Zukunft macht die Arbeit als „Matrose“ oder als „Matrosin“ Sinn, weil der Auftrag, das spirituelle Überleben der Menschen zu sichern, das Bewusstsein schärft, wie viel Arbeit auch auf einem sinkenden Schiff noch zu tun ist. Oder wie Vaclav Havel sagte: „ Hoffnung ist eben nicht Optimismus ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“
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Dr. Markus Heil ist Diakon und Seelsorger im Pastoralraum St. Wolfgang im Thal, Schweiz.
Bild: FIRE – ABANDON SHIP – RESCUE : von einem Evakuierungsplan auf einer Fähre bei Seattle (USA) (Markus Heil)