Monika Heidkamp und Verena Suchhart-Kroll setzen die Diskussion um das „sinkende Kirchenschiff“ fort und plädieren für eine „zeugende Pastoral“, die das Alltägliche sucht und die Kirche als Institution relativiert.
Der Weckruf von Matthias Sellmann – zusammen mit den Repliken von Wolfgang Beck und Markus Heil – hat uns als Nachwuchswissenschaftlerinnen intensiv zum Diskutieren gebracht. Zwischen den Zeilen lesen wir viel Frust und können ihn gut nachvollziehen: Sind Fortbildungen so nachhaltig, wie sie sein könnten und gibt es eine Bereitschaft, in Auftrag gegebene Analysen auch praktisch werden zu lassen? Auch der Appell an die Theologie, sich nicht in eine interessierte Beobachterinnen-Rolle zurückzuziehen, und das Einfordern von professionellem Handeln treffen einen Nerv. Es ist schade, wenn Elan, Wissen, Energie, geistliche Prozesse – egal auf welcher Ebene – verpuffen… Darum möchten wir gerne unsere Rückfragen in die Suche nach tiefergreifenden Antworten einbringen – und freuen uns, wenn die inhaltliche Diskussion weitergeht.
Das Bild vom sinkenden Schiff, auf dem man jetzt endlich aktiv werden sollte, macht uns nachdenklich. Liegt dem nicht die Überzeugung zugrunde, dass, wenn „wir“ (wer ist wir?) nur mehr und „unsere“ Aufgaben insgesamt besser machen würden, dass „wir“ dann die Kirche wieder auf ihren alten Erfolgskurs bringen (wenn es ihn gab) und die Kirchenbänke wieder füllen könnten? Diese Haltung kennen wir nicht zuletzt aus unseren Kirchengemeinden: „Wenn wir uns nur überzeugter zur Evangelisierung entschließen, wenn der Pfarrer mal im Gottesdienst Gitarre spielt, wenn die Frauen im Eine-Welt-Kreis nur einen Kuchen mehr backen, dann wird unsere Gemeinde wieder so, wie sie bei den schönen Gemeindefesten früher war!“
Gefühle von Frustration, Versagen und Wut
Allgegenwärtig sind dabei die Gefühle von Versagen und von Wut auf alle anderen Gemeindemitglieder und die Hauptamtlichen, weil sie das Projekt Kirchenrettung nicht genug mittragen, nicht verbindlich genug sind. Was in den Hintergrund tritt, ist Freude unabhängig von der Agenda der Kirchenrettung, d.h. das Genießen eines schönen Gottesdienstes, egal wie viele Leute da sind; die Arbeit für eine soziale Sache, einfach weil man von ihr überzeugt ist; oder die Begeisterung für ein anregendes Glaubensgespräch auch ohne, dass man dadurch ein neues Gemeindemitglied gewinnt. Tut das alleinige Einfordern von mehr Engagement für die Krisenrettung also wirklich gut?
Im Kontrast zum Bild vom sinkenden Schiff fielen uns die Überlegungen von Jean-Marie Donegani1 ein. Er sieht die Kirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht als das Schiff an, das durch akutes Krisenmanagement gerettet werden müsste oder auch nur gerettet werden könnte. Das entbindet die Kirche, wie Sellmann zu Recht nachdrücklich betont, natürlich nicht von planvollem Handeln und qualitativ hochwertiger Arbeit.
Als Politikwissenschaftler hat Donegani einen weniger wertenden Blick auf die gesellschaftlichen Prozesse, denen die Kirche gegenübersteht. Als wesentliche Veränderung macht er aus, dass die Menschen weniger nach einer Logik der Zugehörigkeit handeln und suchen, sondern vielmehr nach einer Logik der Identität. Konkret bedeutet das, dass es nicht um Autoritäten und um die bloße Zugehörigkeit zur Kirche geht, sondern darum, selbst Erfahrungen zu machen (Donegani, 58f.).2
Die „Pastoral der Weitergabe“, also der Zugehörigkeit, sieht Donegani (67) dagegen „im krassen Missverhältnis zur säkularen Kultur“. Mit der Spendung der Sakramente (Taufe, Ehe etc.) die Hoffnung oder den Anspruch zu verbinden, dass die Leute nun in Zukunft auch Teil der Gemeinde sein wollen, wäre also wiederum der Versuch, über eine Logik der Zugehörigkeit mit den Menschen in Kontakt zu treten. Vielleicht sollten wir uns in dieser Diskussion also nicht auf das Bild vom Schiff versteifen, auf dem man nur voll mitfahren, mit dem man sich aber nicht lockerer verbunden fühlen kann?
Logik der Identität statt Logik der Zugehörigkeit
Vielleicht zeigt das aber auch, dass die „zeugende Pastoral“ („pastorale d’engendrement“) mehr ist als „eine Sau, die durchs Dorf getrieben wird“ (Sellmann). Sich mit ihr (der „zeugenden Pastoral“) zu beschäftigen, lohnt unserer Meinung nach nicht zuletzt deshalb, weil sie dazu anregt, sich darüber Rechenschaft zu geben, aus welcher Haltung heraus man im pastoralen Kontext Menschen begegnet oder im theologischen Kontext Kirche und Seelsorge denkt.
Es geht „um einen anderen Stil der Evangelisierung“ (Donegani, 69), um ein vorrangiges Interesse am Menschen: „Der Bruch, das Neue, liegt […] in einem wirklichen Desinteresse am Erhalt der Institution“ (Donegani, 69). Desinteresse am Erhalt der Institution – das bedeutet nicht, Gemeinden einfachhin „sterben“ zu lassen, indem die Kirchen, Orte, Personal usw. einfach verschwinden. Es bedeutet nur, Kirche als „Institution“ den Menschen unterzuordnen. Und wo sie Institution ist, darf sie auch einfach Dienstleisterin sein, denn als Pfarrei vor Ort ist sie für alle da, die in ihrem Zuständigkeitsbereich wohnen (Donegani, 73).
Donegani (76f.) führt weiter aus, dass aber gerade die Merkmale der Säkularisierung sehr gut zum Territorialprinzip der Kirche passen. Eine Pfarrei kann sich so ausrichten, dass sie mit ihren Kräften die Identität und Glaubensentwicklung der Menschen so fördert, dass es ihr zuallererst darum geht, sie in ihrer Suche nach dem Leben und dem Lebensglauben zu unterstützen – nicht nur dem Glauben derer, die immer wieder und regelmäßig da sind, sondern auch derer, die nur einmal kommen.
Wie kann man Glauben und Gott-Suche heute leben?
Gerade diese punktuelle Begegnung darf nicht nur sein, sondern hat seine prominenten Vorbilder in den Evangelien: Sehr häufig ist dort von punktuellen, „alltäglichen“ – aber nachhaltigen und verändernden – Begegnungen zwischen Jesus und einzelnen Menschen die Rede, an deren Ende aber nicht steht, dass Jesus versucht, sie zu Jünger*innen zu machen. Vielmehr geht es um Situationen, in denen der Lebensglaube (neu) aktiviert wird – in der Dynamik, die in der Begegnung mit Jesus entsteht, die aber genauso immer und überall in unserem alltäglichen Leben entstehen kann.
Die „zeugende Pastoral“ sucht den Alltagsmenschen und die alltäglichen Situationen, in denen es zu Begegnungen kommt; und sie bindet sich darin zurück an die Heilige Schrift, wobei sie besonderen Wert auf die Erzählungen des Alltags legt, die sie in den synoptischen Evangelien erkennt. 3 Damit kann die „zeugende Pastoral“ – mehr als Haltung, und nicht als ein weiteres pastorales Konzept – dazu sensibilisieren, dieses Interesse am Leben anderer zu lernen und die Unterbrechungen wahrzunehmen, „in denen die von unseren Institutionen mit Recht eingeführten funktionalen Sprachspiele außer Kraft gesetzt sind und plötzlich Tiefendimensionen unserer Lebensgeschichten aufleuchten können, dank des spezifischen Interesses, das ihnen [den Menschen; Anm. MH/VSK] entgegengebracht wird“ (Theobald, 190).4
Statt sich also auf das Drohszenario eines sinkenden Schiffes bzw. auf den Mangel zu konzentrieren – an Priestern, an Glaubenden usw., kann die „zeugende Pastoral“ Anstoß zu tiefergreifenden Fragen geben: Wie kann man Glauben und Gott-Suche heute leben? Wie kann man Gott erkennen und wer ist er/sie* eigentlich? Wie kann man für das Alltägliche sensibel werden und wie kann die Pastoral es unterstützen?
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Monika Heidkamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Pastoraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster, Verena Suchhart-Kroll wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung ebendort.
Photo: Rainer Bucher
- Wir nehmen hier inhaltlich Bezug auf Donegani, Jean-Marie: Säkularisierung und Pastoral, in: Frei geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, hrsg. von Reinhard Feiter und Hadwig Müller (Bildung und Pastoral 1), Ostfildern 22013, 56-80. Jean-Marie Donegani ist Professor für Politikwissenschaft in Paris. ↩
- Donegani (59f.) weiter: „Wenn Religion mit einem System gleichgesetzt wird, das mit der Logik der Zugehörigkeit und einem entsprechenden institutionellen Regelwerk Einfluss ausübt, so kann vom Auszug aus der Religion ausgegangen werden, der bedeutet, dass insbesondere Europa nicht mehr christlich ist. Wenn jedoch darauf verzichtet wird, im Vorhinein zu definieren, was eine Religion ist, und wenn ernst genommen wird, dass eine Mehrheit einzelner Menschen sich immer noch Christen nennt und mit dieser Identität eine Gesamtheit von Glaubensinhalten und festzumachenden Werten verbindet, dann muss dem einfach Rechnung getragen werden, dass sich das Christentum heute mit einem völlig neuen Gesicht zeigt: dem einer modernen Religion, die mit den für unsere Gesellschaften typischen Prinzipien des Individualismus und der Autonomie übereinstimmt.“ ↩
- Vgl. Theobald, Christoph: Brennendes Interesse am Alltag des Menschen, in: Ders.: Hören, wer ich sein kann. Einübungen, hrsg. von Reinhard Feiter und Hadwig Müller (Bildung und Pastoral 5), Ostfildern 2018, 183-198, hier 186, 190. ↩
- Christoph Theobald unterscheidet drei Schwellen: die des Lebensglaubens, die des Glaubens als Jünger*in und die des Glaubens als Apostel*in. ↩