Der Angriff auf die Gedenk-Kultur in Wien verstört, vereint aber auch im Widerstand. Von Jan-Heiner Tück.
„Schau gegen das Vergessen“ – auf der Ringstraße vor dem Heldenplatz werden die Bilder der Opfer gezeigt. Das ist kein Zufall. Der gedächtnispolitische Kontrapunkt ist gezielt gesetzt. Hier, wo Hitler nach dem „Anschluss“ am 5. März 1938 seine Rede gehalten hat und von den Massen frenetisch bejubelt wurde, säumen zweiundsiebzig großformatige Porträts von Holocaust-Überlebenden die Straße. Der deutsch-italienische Photograph Luigi Toscano hat die Installation gestaltet, der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat sie Anfang Mai mit einer nachdenklichen Rede eröffnet, er zeichnet als Schirmherr.
„Schau gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano
Sechs Millionen jüdische Opfer. Keiner, der diese Zahl der NS-Vernichtungspolitik verstehen oder begreifen könnte. Der Künstler Toscano will dieser Unbegreiflichkeit etwas entgegensetzen. Er will dem Verbrechen die Abstraktheit nehmen und gibt den Opfern, die als Kinder deportiert und im KZ auf namenlose Nummern reduziert wurden, ein Gesicht und einen Namen. Den Entrechteten, den Gepeinigten wird so symbolisch zurückgegeben, was ihnen damals brutal genommen wurde: Würde. In die Gesichter der Überlebenden haben sich die Passionsgeschichten eingeschrieben: die Augen, Falten und Furchen spiegeln Trauer, Melancholie und Leiden, aber auch den Lebensdrang, den Überlebenswillen – hier verdichten sich Biographien, die Abgründiges durchlitten und Ungewöhnliches erlebt haben. Das will nicht vergessen, sondern erinnert und auch erzählt werden.
Aber das Gedenken hat Risse. Anders als in San Francisco und anderen Städten Europas, wo Toscanos „Schau gegen das Vergessen“ im öffentlichen Raum ohne Störungen gezeigt werden konnte, hat es in Wien bilderstürmerische Attacken gegeben. Unbekannte haben im Schatten der Nacht die Bilder der Opfer mit Hakenkreuzen und judenfeindlichen Aufschriften beschmiert, ja mit Messerstichen demoliert. Zerschnittene, besudelte Gesichter!
Perfide Schändungen
Im Antlitz eines Menschen verdichtet sich sein Geheimnis. Nach Emanuel Levinas zeigt sich im Gesicht des anderen die Spur der Transzendenz. „Dem Anderen von Angesicht zu Angesucht gegenüberstehen – das bedeutet, nicht töten zu können.“ Nur, wer sich dem Blick des anderen entzieht und ihn als Person missachtet, kann ihn gewaltsam ausradieren. Im Antlitz begegnet etwas Metaphysisches. Das gilt abgeschwächt auch für das Bild, in dem ein Abwesender anwesend wird. In Wien ist die ikonische Repräsentation der jüdischen Opfer beschädigt, ja gewaltsam malträtiert worden.
Besonders perfide ist eine Aufschrift: „Jesus = 6 Millionen“. Das spielt auf ein altes antijudaistisches Narrativ an, dem zufolge Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung der Juden die gerechte Strafe für den sog. „Gottesmord“ auf Golgotha sein sollen. Die Kirchen haben nach 1945 viel getan, um die judenfeindlichen Spuren in Liturgie, Katechese und Lehre selbstkritisch aufzuarbeiten. Die bleibende Erwählung Israels wurde im Anschluss an die Theologie des Paulus neu betont. In traditionalistischen Kreisen aber hat man sich dieser Neupositionierung im Verhältnis zum Judentum bis heute hartnäckig verweigert. Die Übergänge ins rechtsradikale Milieu sind fließend.
Die Schändungen der Bilder sind ein Angriff auf die anamnetische Kultur, die die Wunden der Vergangenheit mahnend wachhalten will. Die Solidarität mit den Opfern von gestern soll sensibilisieren für aufkeimenden Rassismus heute. Ausgrenzung des Anderen und Stigmatisierung des Fremden greifen in der politischen Debatte erneut um sich, um die eigene nationale Identität zu stabilisieren.
Die Autorität der Leidenden
Das Hören auf die Autorität der Leidenden hat darüber hinaus eine theologische Dimension. Nach Walter Benjamin machen wir im Eingedenken eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte a-theologisch, das heißt ohne Gott, zu begreifen. Damit stehen Fragen im Raum: Wird es eine Instanz geben, die rettend an das Vergangene rührt und die Namen der Toten bleibend aufbewahrt? Die überdies verhindert, dass die Täter auf Dauer über ihre Opfer triumphieren? Die dafür sorgt, dass die verstummten Schreie und Klagen nicht resonanzlos verhallen? Die anamnetische Solidarität mit den Opfern reißt einen Horizont auf, der über die Geschichte hinaus ins Eschatologische reicht.
Erfreulich ist, dass die vandalistischen Übergriffe in Wien Solidaritätseffekte gerade in der nachrückenden Generation ausgelöst haben. Die Young Caritas, die Pfadfinder, die Gewerkschaft VIDA, aber auch die Muslimische Jugend Österreichs haben Mahnwachen organisiert. Freiwillige haben die zerschnittenen Gesichter der Holocaust-Überlebenden genäht, die Beschmierungen abgewaschen, die Hakenkreuze entfernt. In Zelten harren sie aus, um die Bilder zu schützen. Auch bei Nacht und bei Regen. Sie verteidigen so gemeinsam das Anliegen der Ausstellung, der NS-Opfer würdig zu gedenken und ein Mahn-Zeichen gegen Fremdenhass zu setzen. Das ist großartig. Passanten kommen, um Blumen niederzulegen. Auch der Bundespräsident hat die kultur- und religionsübergreifende Solidaritätsaktion gelobt.
Nicht nachlassen im Kampf gegen das Vergessen
Die Nähte in den Gesichtern aber bleiben. Die Attacken gegen das Projekt des Erinnerns sind den Porträts nun selbst eingeschrieben. Sichtbare Spuren der Gewalt, Male der Zerrüttung, hinter denen sich ein Abgrund auftut. Das stimmt nachdenklich, spornt aber auch an, im Kampf gegen das Vergessen nicht nachzulassen. Auch über das Ende der Ausstellung hinaus.
Dr. Jan Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Bild: Jan-Heiner Tück