Eine exegetische Stimme zur sexuellen Gewalt gegen Kinder: Andrew Doole liest bekannte Bibelstellen gegen den Strich. Jesus hat möglicherweise sehr direkt zum Kindesmissbrauch Stellung genommen! Dabei erfährt man unter anderem, was es mit den berühmten Worten vom Mühlstein und vom Handabhacken auf sich hat…
Es gibt Dinge, die man nicht bespricht. Aber die Zeit des Schweigens ist längst vorbei. Nun reden Opfer offen von Kindermissbrauch und Täter werden angeklagt und verhaftet. Das Urteil fällt.
Wenn zu diesem Thema ‚theologisiert‘ wird, sucht man Bibelstellen aus, die Motive wie Gewalt oder Vergebung ansprechen. Man glaubt, keinen Anknüpfungspunkt zu haben, wo das Thema ausdrücklich behandelt wird. Aber ich glaube, das stimmt gar nicht. Denn Jesus äußert sich zur Frage des Kindermissbrauchs in Mt 18,1–14.
Kinder in die Mitte
In Mt 18,1–5 ruft Jesus ein Kind herbei, stellt es in die Mitte seiner Jünger und spricht: „Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen.“ Und: „Darum, wenn jemand ein solches Kind aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt er mich auf.“
Dabei sind zunächst zwei Aspekte dieses Kindes zu berücksichtigen.
- Erstens muss man „kindisch“ werden, um in das Himmelreich hineinzukommen (vgl. Mk 10,15). In jeder Auslegung dieses Spruches gibt man sich Mühe, das kindliche Vertrauen zu betonen, weil wir Erwachsene die kindliche Unbefangenheit schätzen und weil es sich ziemt, Vertrauen in Gott zu haben. Aber wie die Kinder (ὡς τὰ παιδία) zu werden, sollte auch heißen: frei von sexuellem Begehren und sexuellen Handlungen. Sex hat keinen Platz im Himmelreich (Engel haben daher keine Geschlechtsorgane!). Das Himmelreich ist insofern „kindisch“.
- Zweitens: Wer ein Kind aufnimmt, nimmt eigentlich Jesus selbst auf (vgl. Mk 9,37). Später im Matthäusevangelium ist das ganze Menschengeschlecht ahnungslos, warum einige gerecht sind und andere verbannt werden; doch der König erklärt, dass es am eigenen Handeln mit den Geringsten der Geschwister liegt (Mt 25,31–46). In Mt 18 sind die Geringsten aber Kinder, und wer ein Kind aufnimmt, nimmt Jesus auf. Daher sollte es an dieser Stelle klar sein, wen man als „Jesus“ behandeln sollte: ein jedes Kind (ἓν παιδίον).
Mit dem Mühstein in die Tiefe
Doch Jesus hört noch gar nicht auf, über Kinder zu reden: „Wenn aber jemand eins dieser Kleinen, die an mich glauben, skandalisiert, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“ (Mt 18,6).
Jesus redet jetzt über „Kleine“. Das wird oft gern metaphorisch gelesen, kann aber im gegebenen Kontext offensichtlich „Kinder“ meinen. In meiner wörtlichen Übersetzung heißt es: Wer eines dieser Kleinen „skandalisiert“. Lorne Zelyck hat 2017 gezeigt, dass hier wahrscheinlich von Kindermissbrauch die Rede ist (Biblica 98). Der sanftmütige Jesus verschwindet hier plötzlich, denn wer ein Kind „skandalisieren“ oder missbrauchen will, endet besser am Meeresboden mit einem Mühlstein um den Hals!
Kinderschänder im Jüngerkreis?
An dieser Stelle folgen die berühmten – und selten, wenn gar nie wörtlich genommenen – Anweisungen für Täter: die eigene Hand abhacken bzw. das eigene Auge ausmeißeln (Mt 18,7–9). Bezieht sich Jesus hier auf Kinderschänder? Er endet mit dem Spruch: „Seht zu, dass ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet!“ (Mt 18,10). Es geht also immer noch um Kleine, um Kinder. Und an der anderen Stelle im Matthäusevangelium, wo es Körperteile zu entfernen gilt, geht es um „skandalisieren“ und Ehebruch (Mt 5,27–30). Will Deming hat schon 1990 auf eine Stelle in der rabbinischen Literatur (b. Nid. 13b) hingewiesen, die besagt, dass sowohl Masturbation mit Hand oder Fuß als auch Sex mit Knaben die Rückkunft des Messias verzögern (NTS 36)! Die Parallelen sprechen deutlich dafür, dass auch Jesus hier vom sexuellen Missbrauch von Kindern redet.
Jesus begründet nun seine harte Aussage: Kinder haben „Engel im Himmel, die allezeit das Angesicht meines Vaters schauen“ (Mt 18,11). Diese Engel sehen das, was unter vier Augen passiert. So etwas wie Schutzengel gibt es also schon. Und die von Kindern genießen eine besondere Nähe zum Vater. Es sind solche Engel, die schlussendlich alle Schänder in den Feuerofen werfen werden (Mt 13,41–42).
Die Lehre schließt mit einem kurzen Gleichnis über Schafe ab. Die Geschichte ist in der lukanischen Version berühmter und bekannter, in der es um Sünder und Umkehr geht (Lk 15,3–7). Aber im Matthäusevangelium ist die Geschichte eines verlorenen Schafes die Geschichte eines verlorenen Kindes: „Es ist nicht der Wille eures himmlischen Vaters, dass eines dieser Kleinen verloren gehe.“ (Mt 18,12–14). Gott sorgt auch für das eine Kind. Das klingt für Zelyck wie eine Aussage gegen das Aussetzen von ungewollten Kleinkindern.
„Ich bin das Kind. Ihr habt mich missbraucht.“
Wenn Zelyck Recht hat, dann bezieht sich Mt 18,1–14 auf Kindermissbrauch und das Aussetzen von Kindern. Und nun sind Jesu Ausführungen zum Thema fertig. Was haben die Jünger gelernt? Sie müssen wie Kinder werden, denn Sex hat keinen Platz im Himmelreich. Sie müssen Kinder aufnehmen, denn eigentlich ist jedes Kind Jesus. Daher ist es keine Überraschung, dass Jesus die Strafe für Kinderschänder so wütend beschreibt! Auch wenn ein Kind von keinem geliebt wird und sich allein in der Welt fühlt, sorgt sich Gott um das Kind.
Während Jesus das alles erzählt, steht das Kind immer noch in der Mitte der Jünger. Aber Jesus redet nicht mit dem Kind. Dafür sind seine Worte viel zu hart und gewaltsam! Nein, es hört sich so an, als würde Jesus Kinderschänder in seinem Jüngerkreis direkt ansprechen. Und mitten unter den ganzen Bedrohungen kommt vielleicht die härteste Botschaft: „Ich bin das Kind. Ihr habt mich missbraucht.“
Dr. J. Andrew Doole ist wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Neues Testament an der Kath.-theol. Fakultät der Universität Innsbruck.
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