Christian Bauer und Maria Mesrian haben in den 1990er Jahren Theologie studiert. Die eine ist heute eine engagierte Ehrenamtliche, der andere lehrt an einer theologischen Fakultät. Sie sind sich einig: Es kann in der Kirche nicht so weitergehen wie bisher, wenn es mit ihr überhaupt weitergehen soll. Zukunft lässt sich in den Trümmern von Notre Dame, aus Angela Merkels Harvard-Rede oder beim nächsten Friday for future lernen…
Wir kennen uns seit dem Studium in den 1990er Jahren. In Würzburg haben wir Karlheinz Müller gehört, Hans-Josef Klauck und Martin Ebner, Elmar Klinger und Rolf Zerfaß. Und wir haben dort auch miteinander gefeiert, sind am Main gesessen und hatten Träume von einer anderen Kirche in einer besseren Welt. Aber wir waren dennoch realistisch und sind es geblieben – es war ja noch die bleierne Kirchenzeit des schier endlosen Doppelpontifikats von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Kein Papst Franziskus war damals in Sicht, nur die longue durée eines im Sprung gehemmten, kirchenamtlich eingehegten und weitgehend zurückgenommenen konziliaren Aufbruchs.
Harte Probe für die eigene Kirchengeduld
Jahrzehntelang wurde unsere zunächst jugendliche, dann erwachsene Kirchengeduld auf eine harte Probe gestellt. Wir hatten viel Zeit, uns in innerkirchlicher Pluralitätsfähigkeit, Ambiguitätstoleranz und Dilemmakompetenz zu üben. Dabei wären wir jedoch nie auf die Idee gekommen, den Papst als solchen in Frage zu stellen oder ihn gar der Häresie zu bezichtigen. Was rechte Kirchenkreise momentan tun, verlässt den common ground des Katholischen und stellt sich damit selbst ins kirchliche Abseits.
Unsere Generation reagierte auf diese unendlich langen Jahre des innerkirchlichen Überwinterns mit einem theologischen Einfrieren aller heißen Eisen: Frauenordination, Pflichtzölibat, Machtmissbrauch – alles kein Thema für uns. Eine Veränderung ist doch sowieso unrealistisch. Da verbrennt man sich nur die Finger und ruiniert sich die berufliche Perspektive. Theologisch haben wir uns mehr für die französischen Arbeiterpriester, die Geschichte des Zweiten Vatikanums und den Poststrukturalismus interessiert als für innerkirchliche Reformthemen (auch wenn all das durchaus zusammenhängt).
Eingefrostet im Kirchenwinter
Wir waren eingefrostet in einer, so Karl Rahner, winterlichen Kirchenzeit. Im zögerlich anbrechenden, massiv gefährdeten Tauwetter des gegenwärtigen Pontifikats erwachen nun aber langsam auch jene Teile unserer theologischen Hirne und Herzen, die sich eben doch damit beschäftigen wollten.
Die Missbrauchskrise verändert dabei vieles, mehr als alle wohlmeinenden Reformbemühungen des Papstes. Selbst in bestem Sinne konservative Theologinnen und Theologen, Haupt- und Ehrenamtliche, kurzum: gute Katholikinnen und Katholiken sagen inzwischen, dass ein Punkt erreicht sei, an dem sich endgültig etwas ändern müsse. Dass es nun wirklich reiche und alles nicht mehr so weitergehen könne…
Entsprechende Äußerungen hört man längst nicht mehr nur bei Protesten kritischer Kirchenfrauen auf der Kölner Domplatte oder vor dem Goldenen Dachl in Innsbruck, sondern im Pfarrgemeinderat genauso wie von der frommen Großmutter, im Umfeld der Bischofskonferenz genauso wie im theologischen Fakultätsrat. Mit Aktionen wie Maria 2.0, Overcoming silence oder BleibenErhebenWandeln setzen vor allem katholische Frauen entsprechende Hoffnungszeichen. Auch die Religionslehrerinnen und Religionslehrer begehren auf.
Rückenwind aus Rom?
Der Kairos dafür ist da. Denn inzwischen kann man auch in der Kirche wieder etwas freier atmen. Habitualisierte, jahrzehntelang eingeübte theologische Grundreflexe lassen sich jedoch nicht von heute auf morgen ablegen. Man kommt kaum nicht nach damit, die lehramtlichen Impulse des Papstes zu verarbeiten. Frischer Wind aus dem Süden, gar Rückenwind aus Rom – ein völlig neues Kirchengefühl…
Mit Papst Franziskus kam zwar kein schlagartiger und flächendeckender Ausbruch des Reiches Gottes in der Kirche, aber es ist doch so etwas wie ein Hauch von katholischer Morgenluft spürbar. Der Karneval jedenfalls, so Papst Franziskus, der klerikale Mummenschanz, ist vorbei. Das M.-Wort kommt auf den Tisch und wird innerkirchlich besprechbar: Machtfragen sind nicht mehr tabu.
„Keine Zivilisation der Liebe ohne Zivilisierung der Macht“ – so hatte es Rolf Zerfaß schon zur Zeit unseres Studiums auf den Punkt gebracht. Josef Ratzinger soll auf die Münsteraner Studierendenfrage nach der Macht in der Kirche noch geantwortet haben, dort gebe es überhaupt keine (weltliche) Macht, sondern nur (geistliche) Vollmacht… Eine spiritualisierende Machtverschleierung, die am Tag seiner Wahl zum Papst in der Aussage gipfelte, er sei nur ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn.
Tribalisierung des Katholizismus
Papst Franziskus hingegen spricht ganz offen von Klerikalismus und sexuellem wie geistlichen Machtmissbrauch. Und er fordert zu einem synodalen Weg aller in der Kirche auf: Mit Demut hören und mit Freimut sprechen. Das gilt insbesondere für die Ecclesia docens mancher Kleriker, die endlich einmal auch auf die vermeintliche Ecclesia audiens der letzten verbliebenen Laien hören sollten!
Ja, wir brauchen eine neue Kommunikationskultur in der Kirche – nicht nur in Rom, sondern auch in Köln und anderswo. Wir müssen eine weitere Tribalisierung des Katholischen verhindern. Verhindern, dass es seinen Zusammenhang verliert und sich in verfeindete Stämme („tribes“) auflöst. Anders gesagt: Wir müssen herauskommen aus unseren Filterblasen und Echokammern.
Was aber tun, wenn die Bereitschaft dazu nur asymmetrischer Weise vorhanden ist? Wenn die einen wollen, die anderen aber nicht? Mit Blick auf den baldigen 90. Geburtstag von Jürgen Habermas gefragt: Was tut man eigentlich mit Diskursverweigerern, die es ja nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche gibt?
Altbekannte Beschwichtigungsformeln
Dort trifft man nicht nur auf eine kirchliche Alte Rechte, die zuweilen auch personidentisch die gesellschaftliche Neue Rechte verkörpert, sondern auch prinzipiell zugängliche und wohlmeinende kirchliche Amtsträger, die auf die neuen alten Forderungen aus der Mitte des kirchlichen Mainstreams jedoch mit altbekannten Beschwichtigungsformeln reagieren: Viel wichtiger als Strukturfragen seien die Glaubensinhalte. Keine binnenkirchliche Nabelschau, alles müsse man jetzt an die Missionsfront werfen. Und überhaupt: bei den Evangelischen sei es ja auch nicht besser.
Darauf kann man eigentlich nur antworten: Strukturfragen reflektieren Glaubensinhalte – oder sie sind nicht evangeliumsgemäß. Das größte pastorale Missionshindernis überhaupt ist eine Kirche, deren äußere Gestalt permanent ein Zeugnis wider das Evangelium darstellt, weil sie in ihrer alltäglichen „Körpersprache“ (Bischof Hermann Glettler) der jesuanischen Frohbotschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft (und eben nicht: Männer- oder Klerikerherrschaft) widerspricht.
Kirchenkrise und Gotteskrise dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn: Kirchenreform ist Gotteszeugnis. Die beharrliche, nie abgeschlossene Arbeit an den eigenen Strukturen ist eine Form der reichgottesfrohen Selbstevangelisierung, die der akuten, von der Kirche selbst ausgehenden pastoralen ‚Verdunklungsgefahr‘ entgegenwirkt: „Die Gläubigen können […] durch […] die […] Mängel ihres eigenen religiösen Lebens das wahre Antlitz Gottes […] eher verhüllen als offenbaren [potius velare quam revelare].“ (Gaudium et Spes 9).
Keine Illusionen – was tun?
Dabei machen wir uns keine Illusionen: auch veränderte Zulassungsbedingungen werden die Priesterseminare nicht wieder füllen – so wie auch die PGR-Kandidaturlisten nicht aus allen Nähten platzen werden oder die Altarräume vor lauter Ministrantinnen und Ministranten. Wir Christinnen und Christen bleiben auf dem Weg, eine im besten Fall schöpferische Minderheit zu werden. Aber darum geht es ja auch gar nicht, sondern darum, wieder mehr eine Kirche im Geiste Jesu zu werden.
Was also tun? Protestieren, innerkirchliche Öffentlichkeit schaffen und zukunftswillige und -fähige Bischöfe unterstützen. Dem synodalen Prozess der deutschen Kirche eine Chance geben. Viele Bischöfe haben nämlich verstanden: es wird die letzte sein. Sie reden glaubhaft von einer Zäsur und haben unser Vertrauen verdient.
Selbst wenn es für die breite Masse vieler – ehemaliger – Katholikinnen und Katholiken längst schon viel zu spät ist: dieser möglicherweise letzte Versuch sollte noch gemacht werden, die Kirche wieder auf die Spur Jesu zu bringen. Die Argumente für evangeliumsgemäße Kirchenreformen liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch, sie wurden regalmeterweise theologisch durchgearbeitet.
Notre Dame als Zeichen
Notre Dame ist ein Zeichen dafür. Nach dem Brand der Pariser Kathedrale ging ein Bild um die Welt: herabgestürzte Trümmer, rauchende Holzbalken und inmitten von Schutt und Asche – ein leuchtend glänzendes Kreuz. In diesem Meme-artig verbreiteten Bild verdichtet sich etwas Erstaunliches: Je mehr die Krise der katholischen Kirche sichtbar wird, umso klarer wird für uns die Botschaft Jesu. Und die verweist auf eine Kirche, in der nicht die Rangfolge, sondern allein die Nachfolge zählt.
Jesus wollte keine autoritäre, identitäre, patriarchale, totalitäre, klerikale, misogyne, homophobe und traditionalistische Kirche. Er wollte das Reich Gottes – und somit das gute Leben für wirklich alle: Liebe, Gerechtigkeit und Frieden unter den wohlwollenden Augen Gottes. Diesem allein hat die Kirche zu dienen: in ihrer inneren Haltung genauso wie auch in ihrer äußeren Gestalt. Sonst ist sie nicht das, was sie ihrem letzten Konzil zufolge so gerne sein würde: „Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium 1).
„Wir sind das Volk!“
Im Alltag des katholischen Mainstreams ist die Geduld für überfällige Kirchenreformen längst aufgebraucht: mit jeder schlechten Predigt eines Pfarrers, wo die Pastoralreferentin das doch so viel besser könnte; mit allen konzelebrierenden Priestern, die sich die Hostie beim Kommunionausteilen selbst aus der Schale nehmen, während die Laien sie gereicht bekommen; mit jedem frauenfreien Chorgestühl bei einem Pontifikalamt; mit jeder Willkürentscheidung eines Pfarrers gegen den eigenen Pfarrgemeinderat; mit jedem jungen Kaplan, der auf rechten Internetseiten mehr zuhause ist als im Lebensgefühl der eigenen Zeit…
Nein, wir werden diese Kirche nicht verlassen. Wir bleiben, weil wir selbst die Veränderung sind, die wir für sie sein möchten. Wir werden all jene Stimmen großzügig überhören, die uns – wie zu den von uns noch erlebten BRD-Zeiten – sagen: Geh’ doch rüber! Oder katholisch: Werd’ doch evangelisch! Andersherum gewendet, aber noch immer im selben historischen Erinnerungsbild: Die kirchliche ‚Berliner Mauer’ steht zwar noch, aber es mehren sich die innerkatholischen Stimmen, die inzwischen längst auch außerhalb der Kirchenvolksbewegung der 1990er Jahre lautstark rufen: Wir sind das Volk! 1989 jährt sich 2019 zum dreißigsten Mal – mehr als nur ein schöner Zufall?
‚Fremdprophetin‘ Angela Merkel
In jedem Fall lohnt es sich auch in diesem Zusammenhang, Angela Merkels inspirierende, mit Blick all auf diese bedrängenden innerkirchlichen Probleme fast schon ‚fremdprophetische’ Rede an der Harvard University zu lesen. Wer hätte je gedacht, dass wir Angela Merkel einmal so toll finden würden? Ihre Worte jedenfalls sind nicht nur mit Blick auf die aktuelle politische Weltlage, sondern auch für die gegenwärtige krisenhafte Kirchensituation von geradezu prophetischer Kraft:
„Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, in der DDR […]. Menschen wurden unterdrückt und überwacht. Politische Gegner wurden verfolgt. Die Regierung der DDR hatte Angst, dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit. Deshalb hatte sie die Berliner Mauer gebaut. […] Dann kam das Jahr 1989. Überall in Europa setzte der gemeinsame Wille zur Freiheit unglaubliche Kräfte frei. […] Die Menschen demonstrierten und brachten die Mauer zu Fall. Was viele Menschen nicht für möglich gehalten hatten – auch ich nicht –, wurde Realität. Da, wo früher eine dunkle Wand war, öffnete sich plötzlich eine Tür. […] Ich konnte […] ins Offene gehen. […] Überraschen wir uns damit, was möglich ist – überraschen wir uns damit, was wir können!“
Und weiter:
“That’s why I want to leave this wish with you: Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is. Take joint action – in the interests of a multilateral global world. Keep asking yourselves: Am I doing something because it is right or simply because it is possible? Don’t forget that freedom is never something that can be taken for granted. Surprise yourselves with what is possible. Remember that openness always involves risks. Letting go of the old is part of a new beginning. And above all: Nothing can be taken for granted, everything is possible.”
„Die Dinosauer dachten auch… „
Zum Schluss noch eine letzte ‚fremdprophetische’ Stimme. Die vielen jungen Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten auf den Straßen und in der eigenen Wohnung haben mit ihren Plakaten gegen die Realitätsverweigerung der älteren Generationen nämlich auch mit Blick auf aktuelle kircheninterne Problemlagen nur allzu recht: „Die Dinosaurier dachten auch, sie hätten noch Zeit… “
Maria Mesrian ist katholische Diplomtheologin, Mutter von fünf Kindern, ehrenamtliche Mitarbeiterin in einer Kölner Pfarrgemeinde und Aktivistin von Maria 2.0.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Innsbruck, Vater von zwei Kindern, Pfarrgemeinderat und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.