Seit 25 Jahren besteht das Austauschprojekt Sandiwaan zwischen dem auf den Philippinen beheimateten Inter-Congregational Theological Center (ICTC) in Quezon City und dem Fachbereich für Theologische Ethik an der Katholisch Theologischen Fakultät der Universität Wien, das von Veronika und Gunter Prüller-Jagenteufel sowie Christine Rod ins Leben gerufen wurde. Die universitäre Exkursion im Februar 2019 gab Anlass für die folgenden Überlegungen von Katharina Mairinger.
Dieser Beitrag widmet sich der Auseinandersetzung europäischer Theologien mit der philippinischen theology of struggle, die sich in Abgrenzung zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie nicht nur als Kampf gegen alle Arten von Unterdrückung, sondern auch als Widerstand gegen den Neokolonialismus und damit die Vereinnahmung durch europäische Wahrnehmungs- und Denkkategorien versteht.[1] Es geht dabei um die Option einer praxeologischen Wende europäischer Theologien durch die Methode der Immersion (Babad)[2], die dem Vorwurf begegnen will, dass eine Theologie ohne Reflexion gelebter Praxis verkopft und realitätsfern sei.
Es geht um die Option einer praxeologischen Wende europäischer Theologien
Die Grundtendenz der auf spekulativer Vernunft basierenden Theologie wie auch jene anderer Geistes- und Sozialwissenschaften fasst der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu unter dem Terminus scholastischer Epistemozentrismus, der zu einer Leugnung der praktischen Logik führe. So würden Widersprüche, die sich in der Praxis zeigen, in die bestehende Logik entweder integriert, oder von ihr ausgeschlossen werden.[3]
„Besonders dort, wo die Reflexion interner kirchlicher Strukturen und die sie stabilisierenden Denkmodelle zur Diskussion stehen, scheint der Vorbehalt gegenüber religionssoziologischen Analysen groß.“
Als Konsequenz daraus muss sich auch die philippinische Theologie bis heute für ihre praxisorientierte Methode rechtfertigen und sie verteidigen. Sie bleibt wenig rezipiert und umstritten, weil sie als unnütz, gefährlich oder unwissenschaftlich disqualifiziert wird, wie sich auch am Konflikt der römischen mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aufzeigen lässt.[4] Besonders dort, wo die Reflexion interner kirchlicher Strukturen und die sie stabilisierenden Denkmodelle zur Diskussion stehen, scheint der Vorbehalt gegenüber religionssoziologischen Analysen groß.
Es ist notwendig, Selbstreflexivität und Selbstkritik innerhalb des religiösen Feldes einzuüben.
Howard Sanks stellt in Anlehnung an Bourdieu fest, dass die marxistischen Kategorien von Klassenkonflikten zur Interpretation der prekären gesellschaftlichen Lage deswegen keinen Eingang in die europäische Theologie fanden, weil befürchtet wurde, die Kirche der Armen könnte die hierarchischen Strukturen der Kirche umstoßen.[5] Es sei allerdings notwendig, Selbstreflexivität und Selbstkritik innerhalb des religiösen Feldes einzuüben, damit sie gleichsam zu einem Habitus werden, der sich der wirksamen Symbolordnungen und Machtverteilungen innerhalb des Feldes bewusst ist. Letztlich gehe es darum, wer die Kontrolle über das symbolische Kapital behalte und verwalte.[6]
Schlüsselmethode: Sich-Einlassen und zeitbegrenztes Mitleben in kulturell, ökonomisch oder religiös marginalisierten Gesellschaftsbereichen
Die Befreiungstheologie wie die theology of struggle optieren daher für eine praxeologische Wende der Theologie. Die Vermittlung von Theorie und Praxis ergibt sich notwendig aus konkreten Lebenserfahrungen, die durch die Immersion gewonnen werden – eine Schlüsselmethode, worunter man das Sich-Einlassen und zeitbegrenzte Mitleben in kulturell, ökonomisch oder religiös marginalisierte Gesellschaftsbereiche versteht.[7] Auch das Sandiwaan-Projekt „folgt dem Grundansatz, dass ein wesentlicher Indikator für eine gute theologische (Aus-)Bildung deren ganzheitliche Aneignung darstellt […].“[8] Die Immersion lässt Theolog_innen am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, marginalisiert und strukturell benachteiligt zu sein. Die emotionale und rationale Bindung daran schafft „Erfahrungs- und Reflexionsräume, innerhalb derer erfahrungsgesättigte Theologie entwickelt wird.“[9] Handlungsoptionen werden daraus für die jeweilige Einzelperson, Gruppe oder Gesellschaft entwickelt und resultieren bestenfalls in konkreten Handlungen.
In der Immersion begibt sich Theologie bewusst in die Spannungsfelder der Gesellschaft und nimmt damit ihre Rolle „als sozial handelnde Größe“[10] ernst. Damit entspräche sie außerdem dem Grundsatz von Gaudium et spes, die Erfahrung neben dem Evangelium als Grundlage theologischer Reflexion anzusehen.[11] So wird sie sich der eigenen Symbolordnungen bewusst und reflektiert den Einfluss ihrer Worte und Taten auf Menschen, die Schutz suchen. Die Marginalisierten sind so nicht länger Objekte theologischer Reflexion und kirchlichen Handelns, sondern Subjekte, denen Zeit und ein offenes Ohr geschenkt werden. Nicht mehr länger erleiden sie die Folgen „symbolischer Zurücksetzung“[12], sondern erhalten eine Stimme im theologischen Diskurs.
Bleibt die Theologische Ethik beim Sprechen von den Armen, Bedrängten, Marginalisierten, ohne aber jemals mit ihnen gesprochen zu haben, verliert sie ihre politische Unschuld.
Eine Theologische Ethik muss aus dieser Praxisorientierung notwendigerweise folgern, dass sie die Probleme der Marginalisierung nicht reflexiv auf sich zukommen lässt, sondern sich an die Verhandlungsorte von Inklusion und Exklusion begibt und maßgeblich am Dialog über Anerkennung beteiligt ist. Bleibt sie umgekehrt aber beim Sprechen von den Armen, Bedrängten, Marginalisierten, ohne aber jemals mit ihnen gesprochen zu haben, verliert sie ihre politische Unschuld – denn in der sprachlichen Distinktion von arm und reich, wird nur allzu offensichtlich der „Antagonismus von Ober- und Unterschichten“[13] symbolisch abgebildet und damit im theologischen Denken verfestigt.
Es liegt an den Theolog_innen selbst, immer wieder zu hinterfragen, ob sie einem scholastischen Epistemozentrismus aufliegen, wenn sie aufgrund philippinischer Volksfrömmigkeit und Theologie die Stirn runzeln und mit missionarischem Enthusiasmus Traditionen der Armen zu modernisieren suchen. Die Immersion legt ein praktisches Mittel bereit, um den eigenen Habitus zu überwinden und neue Freiheitsräume entstehen zu lassen. Die Hoffnung, dass Gott das Wort an die Armen richtet, ist damit nicht aufgehoben, wohl aber die Selbstsicherheit der europäischen Theologien, sich selbst aus dieser Armut herausnehmen zu können.
[1] Zum Programm dieser Theologie vgl. V. R. Aguilan, Theology of Struggle. A Postcolonial Critique of Philippine Christianity (Draft), 2013, https://www.academia.edu/32732251/Theology_of_Struggle_a_Postcolonial_Critique_of_Philippine_Christianity_and_Society, (17.5.2019).
[2] Vgl. dazu: P. Choudhury, ISA Holds Public Lecture on Spirituality of Immersion, 2019, https://isa.org.ph/isa-holds-public-lecture-on-spirituality-of-immersion/ (23.5.2019).
[3] Vgl. P. Bourdieu / A. Russer, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, 12001, 66.
[4] Vgl. T. H. Sanks, Homo Theologicus. Toward a Reflexive Theology (with the Help of Pierre Bourdieu) (Theological Studies 68, 2007, 515–530), 517. Vgl. bspw. W. Levada, Notifikation zu den Werken von P. Jon Sobrino S.J., 2006, http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20061126_notification-sobrino_ge.html (17.5.2019).
[5] Vgl. Sanks (s. Anm. 4), 527.
[6] Vgl. aaO 530.
[7] Vgl. Aguilan (s. Anm. 1), 13.
[8] G. M. Prüller-Jagenteufel / R. Perintfalvi / H. Schelkshorn (Hg.), Macht und Machtkritik. Beiträge aus feministisch-theologischer und befreiungstheologischer Perspektive (Concordia Band 70), 12018, 298.
[9] AaO 301.
[10] M. Striet, Sich selbst als geworden beschreiben wollen. Theologie und Soziologie (in: Ders. [Hg.], „Nicht außerhalb der Welt“. Theologie und Soziologie [Katholizismus im Umbruch], 2014, 13–32), 18.
[11] Vgl. Gaudium et Spes. Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, 1965, 46, http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html (4.6.2019).
[12] A. Kreutzer, Politische Theologie für heute: Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programmes, 2017, 92.
[13] AaO 84.
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Katharina Mairinger ist Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Wien und nahm im Februar 2019 an der Exkursion auf die Philippinen teil, welche unter dem Motto „Sandiwaan“ steht, d.h. in einem Geist/solidarisch sein.
Beitragsbild: Magdalena Pittracher