Christian Bauer (Innsbruck) zum morgen anlässlich des Konzilsjubiläums eröffneten „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“.
Rom im September 2015. Wir haben noch ein paar Tage an den Familienurlaub drangehängt. Und nun sind wir in San Luigi dei Francesi, der französischen Nationalkirche von Rom. Die Augen gewöhnen sich allmählich an das erhabene Dunkel. Wo ist denn nun die Seitenkappelle mit dem Caravaggio? Die Kirche birgt nämlich ein Gemälde, das nicht nur kunstgeschichtlich von Bedeutung ist, sondern auch für das Pontifikat von Papst Franziskus – insbesondere für das von ihm ausgerufene Heilige Jahr der Barmherzigkeit.
Immer wenn er als Kardinal in Rom zu tun hatte, logierte er in einer nahen Priesterunterkunft. Und stets führte ihn sein Weg dann auch in diese Kirche und zu dem gesuchten Caravaggio. Im Gespräch mit Antonio Spadaro erinnert er sich: „Wenn ich nach Rom kam, habe ich immer in der Via Scrofa gewohnt. Von dort besuchte ich oft die Kirche San Luigi dei Francesi; dorthin ging ich, um das von Caravaggio gemalte Bild von der Berufung des heiligen Matthäus zu betrachten. […] Dieser Finger Jesu, der auf Matthäus weist – so bin ich, so fühle ich mich, wie Matthäus.“ Das Gemälde ist schnell gefunden. Allein die Lichtführung Caravaggios ist schon atemberaubend: Ein kinoartiges Spotlight fällt direkt auf das verblüffte Gesicht des Zöllners, der gerade – seiner Profession entsprechend – Geldgeschäften nachgeht. Matthäus scheint wie vom Blitz getroffen: Wie – ausgerechnet mich beruft Jesus? Mich, den gesellschaftlichen Außenseiter? Den verhassten Kollaborateur, der an seiner Zusammenarbeit mit der römischen Besatzungsmacht nicht gerade schlecht verdient? Man kann sich gut vorstellen, wie Kardinal Bergoglio in ihm die eigene Person wiedererkennt, seine biographischen Ambivalenzen in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur, sein vorsichtiges Agieren in dieser überaus schwierigen Zeit. Er weiß darum, dass er als Provinzial damals vielleicht „nicht genug getan“ hat. Darum mag er in dem Zöllner Matthäus auch sich selbst gesehen haben – denn auch dieser war in politische Herrschaft verstrickt. Und auch dieser folgte dem Umkehrruf Jesu, der ihm die Barmherzigkeit Gottes erschloss.
Programmatischer Wahlspruch
Miserando atque eligendo – so lautet denn auch sein bischöflicher und päpstlicher Wahlspruch: Aus Barmherzigkeit erwählt, wie man frei übersetzen könnte. Begonnen hat die Geschichte dieses programmatischen Leitwortes schon früh. Im biographischen Rückblick erinnert Kardinal Bergoglio sich an eine besondere Beichte am Festtag des Apostels Matthäus im Jahr 1953: „In dieser Beichte ist mir etwas Seltsames passiert. Ich weiß nicht, was es war, aber es hat mein Leben verändert. […] Es war die Überraschung, das maßlose Erstaunen über eine wirkliche Begegnung. Ich merkte, dass ich [von Gott] erwartet wurde. Das ist die religiöse Erfahrung: das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich erwartet.“
Im Sinne dieser frühen Beichterfahrung deutet Bergoglio dann später auch seine zweite Berufung – seine Bekehrung zu einem anderen Leben, als er nach dem ordensinternen ‚Exil’ in Cordoba zum Weihbischof von Buenos Aires ernannt wurde und in die dortigen Armenviertel zu gehen begann, wo er die Welt mit den Augen der Peripherie zu sehen lernte. Im Kontext dieser persönlichen Gnadenerfahrung eines biographischen Neubeginns wählte Bergoglio dann auch sein bischöfliches Leitwort aus: „Mich hat immer eine Lesung aus dem Stundenbuch beeindruckt, in der die Rede davon ist, dass Jesus Matthäus in einer Haltung anschaute, die in der Übersetzung ungefähr als ‚durch Erbarmen auserwählend’ umschrieben werden könnte. Das war genau die Weise, wie ich mich während dieser Beichte [des Jahres 1953] von Gott angeschaut fühlte. Und das ist die Weise, wie er mich stets die anderen anzuschauen bittet: mit großer Barmherzigkeit […]. ‚Durch Erbarmen auserwählend’, das […] ist einer der Schlüssel zu meiner religiösen Erfahrung: der Dienst der Barmherzigkeit und die Erwählung von Menschen aufgrund dieses Angebots.“
Ruf in die Nachfolge
Vergebung und der Ruf in die Nachfolge gehören zusammen. Die neutestamentliche Erzählung von der Apostelberufung des Zöllners Matthäus verbindet beides in lakonischer Kürze: „Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm.“ (Mt 9, 9). Die matthäische Rahmung dieser knapp erzählten Berufungsgeschichte verallgemeinert die Berufung des sündigen Zöllners und reichert sie soteriologisch an: „Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mt 9, 10-13).
Wie Caravaggio fokussiert Papst Franziskus auf diesen Moment der Erwählung des Sünders Matthäus durch den barmherzigen Blick, mit dem Jesus ihn anschaut und zum Apostel beruft. Ihm entspricht der Titel der Einberufungsbulle des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, der Jesus als vultus misericordiae patris herausstellt: als das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters – als ein Antlitz, dessen Umkehr ermöglichender Blick den Beginn eines Weges in die Nachfolge markiert. Papst Franziskus spricht davon beispielsweise auch in seiner Predigt zur Osternacht 2014: „Nach Galiläa zurückkehren bedeutet […], zu jenem glühenden Augenblick zurückzukehren, in dem die Gnade Gottes mich am Anfang meines Weges berührt hat. […] In diesem Sinn bedeutet nach Galiläa zurückkehren, die lebendige Erinnerung an diese Berufung im Herzen zu bewahren, als Jesus meinen Weg gekreuzt hat, mich barmherzig angeschaut und mich aufgefordert hat, ihm zu folgen […].“
Rückblickende Schuldeinsicht
Nachfolge beginnt für Papst Franziskus mit einer „wirklichen Begegnung mit Christus“ im eigenen Leben. Sie ist ihm zufolge der innerste „Kern“ des Christentums. Und sie ist keine Belohnung für besonders gute Taten, sondern Gnade, pure und umsonst geschenkte Gnade. Das eigene menschliche Scheitern wird zu einem Ort erfahrener Barmherzigkeit Gottes – zum gnadentheologischen Luther-Erlebnis mit nachfolgender Umkehr. Bergoglio im Rückblick auf seine Zeit als rigider Jesuitenprovinzial während der argentinischen Militärdiktatur, in der er ad intra zwar gegen Mitbrüder durchgriff, die befreiungstheologisch inspiriert waren, ad extra aber nicht eindeutig Partei ergriff: „Ich möchte mir nichts einbilden, denn ich bin wirklich ein Sünder, den die Barmherzigkeit Gottes in einer privilegierten Weise geliebt hat. Schon in jungen Jahren hat mich das Leben auf leitende Positionen geführt […] und ich musste alles an Ort und Stelle lernen, anhand meiner Fehler. Denn eines stimmt: Fehler habe ich haufenweise begangen. […] Was mich am meisten schmerzt, ist: oft nicht genügend verständnisvoll […] gewesen zu sein. […] Entscheidungen können großen Schaden anrichten. Man kann sehr ungerecht werden.“
Bergoglio verbindet diese retrospektive Einsicht mit einem aufrichtigen Schulbekenntnis. In Österreich haben viele noch die ‚Entschuldigung’ von Kardinal Hans Hermann Groer für den von ihm begangenen sexuellen Missbrauch an Schutzbefohlenen im Ohr: „Ich bitte Gott und die Menschen um Vergebung, wenn ich Schuld auf mich geladen habe.“ Ganz anders Papst Franziskus. Er steht zu seiner Schuld – und so kann diese für ihn zu einem Ausgangspunkt glaubwürdiger Umkehr werden: „Es wäre falsch, wenn ich […] sagen würde: Ich bitte um Vergebung für die Sünden und Beleidigungen, die ich möglicherweise begangen habe. Ich bitte heute um Vergebung für die Sünden und Beleidigungen, die ich tatsächlich begangen habe.“
Päpstliches Sündenbekenntnis
So ist es denn auch mehr als nur eine fromme Floskel, wenn Papst Franziskus auf Antonio Spadaros Frage „Wer ist Jorge Mario Bergoglio?“ antwortet: „Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition.“ Bereits im Konklave hatte er auf die Frage, ob er die Papstwahl annehme, in ganz ähnlicher Weise reagiert: „Peccator sum, sed super misericordia et infinita patientia Domini nostri Jesu Christi confisus et in spiritu penitentiae accepto.“ – Ich bin ein Sünder, aber im Vertrauen auf die Barmherzigkeit und die unendliche Geduld unseres Herrn Jesus Christus nehme ich im Geist der Buße die Wahl an. Hier ist bereits vieles von dem da, was das Pontifikat von Papst Franziskus seither kennzeichnet – nicht zuletzt auch die von ihm einberufene Bischofssynode zu Ehe und Familie.
Menschliche Sünde und göttliche Barmherzigkeit sind zentrale Brennpunkte seiner Spiritualität. Und wie jede Spiritualität, so hat auch diese ihren biographischen Hintergrund, ihren konkreten Sitz im Leben. Im Gespräch mit Spadaro bekennt der Papst: „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat. […] Meinen Wahlspruch Miserando atque eligendo habe ich immer als sehr zutreffend für mich empfunden.“ Die Gestalt des Zöllners, auf die diese Aussage anspielt, taucht im Pontifikat von Papst Franziskus seither immer wieder auf. Zum Beispiel auch in jener Predigt, in welcher er mahnt, kirchliche Sakramentenspender dürften keine „Zollwächter der Gnade“ sein – auch dies eine Reminiszenz an die eigene Biographie? Der ehemals so überaus strenge Jesuitenprovinzial und heutige Papst Franziskus – ein durch die Barmherzigkeit Gottes bekehrter kirchlicher ‚Gnadenzöllner’?
Weg der Barmherzigkeit
Aus Erbarmen erwählt, schlägt Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires und mehr noch als Papst in Rom, den „Weg der Barmherzigkeit“ ein: „Ich wurde immer von Gott geliebt. Er war es, der […] mir geholfen hat, den Weg zu gehen, vor allem auf seinen härtesten Etappen, und so habe ich nach und nach gelernt. […] Die Herausforderung besteht darin, das Vergangene anzunehmen. […] Christus nahm alles an. Und man kann nur das erlösen, was man angenommen hat. […] Die richtig angenommene Sünde ist der bevorzugte Ort für eine persönliche Begegnung mit Christus, dem Erlöser.“ Die Umkehr Bergoglios war kein plötzlicher Augenblick der Gnade, sie geschah vielmehr „nach und nach“ , in einem langen Prozess: „Ich habe ihn wachsen sehen“ , sagt sein argentinischer Mitbruder Juan Carlos Scannone. Heute sagt und tut Papst Franziskus Dinge, die der Provinzial Bergoglio sicher nicht gut geheißen hätte. Und auch so manch anderer kirchenstrenger Zollherr der Gnade nicht. Das Gegenbild zum kirchenamtlichen ‚Gnadenzoll’ wäre eine Haltung der „herzlichen Aufnahme“ die an das französische Pastoralkonzept des accueil erinnert: „In Gottes Barmherzigkeit ist Raum für alle.“
Barmherzigkeit steht bei Franziskus daher auch in keinem Gegensatz zur Gerechtigkeit. Denn es meint nichts anderes als das, was das lateinische Wort miseri-cordia nahelegt: ein Herz („cor“) für Menschen haben, die in der Misere („miseria“) leben – und zwar in jeder Art von Misere. In San Luigi dei Francesi hängt daher auch ein, wenn nicht der theologische Schlüssel zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Caravaggios Bild sollte im kommenden Jahr ein prominenter Pilgerort werden. Denn es erschließt die hochaktuelle Bedeutung der Berufung des sündigen Zöllners Matthäus zum Apostel Jesu. Ein überraschter Kollaborateur, ein bekehrter Jesuit – und am Ende der Bischofssynode eine klare Botschaft:
„Heute ist die Zeit der Barmherzigkeit!“
Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Berufung_des_Hl._Matth%C3%A4us