Das Schreiben von Benedikt XVI. zum Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche hat für großes Aufsehen gesorgt. Lucia Scherzberg und August H. Leugers-Scherzberg arbeiten heraus, dass Benedikts Schreiben wesentliche Kriterien populistischer Propaganda erfüllt.
Es handelt sich bei dem Schreiben von Benedikt XVI. zum Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche, das am 11. April dieses Jahres veröffentlicht wurde, nicht um eine theologische Ausarbeitung oder autobiographische Aufzeichnung, sondern ausdrücklich um eine kirchenpolitische Denkschrift. Der emeritierte Papst will damit nach seinen eigenen Worten „zu einem neuen Aufbruch“ der Kirche beitragen.
Bei kirchenpolitischen Texten sind inhaltliche und formale Analyse gleichermaßen wichtig.
Politische, auch kirchenpolitische Texte müssen nicht nur nach ihren expliziten Aussagen, sondern auch nach der Form, in der sie präsentiert werden, beurteilt werden, um ihre Zielrichtung ganz erfassen zu können. Insbesondere sind dabei die rhetorischen Mittel, die verwandt werden, zu untersuchen. Das soll im Folgenden unter Hinzuziehung eines Kriterienkataloges für populistische Rhetorik geschehen.[1]
- Am sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche ist, Benedikt zufolge, die „westliche Gesellschaft“ schuld, weil in ihr angeblich „geradezu selbstverständlich geworden ist, was böse ist und den Menschen zerstört“. Auch macht er dafür diejenigen Bischöfe verantwortlich, „die die katholische Tradition insgesamt ablehnten und in ihren Bistümern eine Art von neuer moderner ,Katholizität‘ auszubilden trachteten“. Die Kirche zu reformieren, um künftig sexuellen Missbrauch zu verhindern, ist für ihn „ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will durch eine lügnerische Logik, auf die wir zu leicht hereinfallen.“ Kirchenreformer sind somit nach seinen Worten Handlanger des Teufels.
Damit nimmt der Theologe Josef Ratzinger eine „schwarz-weiß-malerische Einteilung […] sozialer Akteure“ vor mit der typischen „Freund-Feind-Dichotomisierung“ und der „Konstruktion von internen und externen Sündenböcken“[2]
- Dass es nicht gelungen sei, nach dem Konzil eine auf die Heilige Schrift gegründete katholische Moraltheologie zu entwerfen, lag für den zurückgetretenen Papst nicht an der wissenschaftlichen Unmöglichkeit des Unterfangens, sondern an dem Versagen des Moraltheologen und Jesuiten Bruno Schüller und dessen Studienaufenthalt in den USA. Für die sog. „Sexwelle“ der 1960er und 70er Jahre ist für den Papa emeritus nicht der sexuelle Aufklärungsbedarf der Nachkriegsgesellschaften der Auslöser, sondern Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) und der von ihr initiierte Aufklärungsfilm „Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens“ (1967).
Benedikt bedient sich damit des Mittels der „Komplexitätsreduktion durch drastische, vereinfachende Veranschaulichung, Hypostasierung […] und Personalisierung“.[3]
- Der Aufklärungsfilm „Helga“ habe nach Ratzinger nicht nur die „Sexwelle“ initiiert, sondern auch „alles, was bisher nicht öffentlich gezeigt werden durfte, einschließlich des Geschlechtsverkehrs“, vorgeführt. Auch das Aufklärungsmaterial der österreichischen Regierung, das in den öffentlichen Auseinandersetzungen als „Sexkoffer“ bezeichnet wurde, habe ähnliche Wirkungen erzielt. Nämlich: „Sex- und Pornofilme wurden nun zu einer Realität bis dahin, daß sie nun auch in den Bahnhofskinos vorgeführt wurden.“ Ausgerechnet am Karfreitag seien im Jahr 1970 Städte mit Werbeplakaten überflutet worden, die „zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung“ zeigten. In einem Priesterseminar habe ein Bischof den Seminaristen „Pornofilme vorführen lassen“ und in einigen Priesterseminaren hätten sich „homosexuelle Clubs [gebildet], die mehr oder weniger offen agierten und das Klima in den Seminaren“ bestimmten.
Damit bedient sich der einstige Präfekt der Glaubenskongregation des Mittels der „suggestiven pathetischen Dramatisierung und Emotionalisierung“.[4]
Der Papa emeritus streut „Fake News“.
- Entgegen der Behauptung Benedikts gibt es im Aufklärungsfilm „Helga“ keine Szene, in der der Geschlechtsverkehr gezeigt wird. Der „Sexkoffer“ genannte Medienkoffer der österreichischen Bundesregierung zur Sexualerziehung enthielt entgegen der Insinuation des ehemaligen Papstes keine Pornofilme, sondern Anschauungsmaterialien (z.B. diverse Verhütungsmittel) und Informationen zu Themen wie Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch. Zudem wurde er erst 1989 eingeführt, als Pornofilme schon lange in Bahnhofskinos gezeigt wurden.
Der Papa emeritus scheut sich folglich nicht, zum Zwecke der Dramatisierung Falschinformationen zu liefern, sog. „Fake News“, die die Debatte emotionalisieren sollen.
- Benedikt redet in diesem Schreiben von Pornofilmen und homosexuellen Clubs in Priesterseminaren. Er behauptet, dass ihm eine ehemalige Ministrantin anvertraut habe, ihr Priester habe sie sexuell missbraucht und dabei die Wandlungsworte gesprochen. Er spricht die pädophilen Tendenzen in der 68er-Bewegung an. Er beklagt, dass man heutzutage in führenden katholischen Kreisen die Kirche „nur noch als eine Art von politischem Apparat“ betrachte, über sie „fast ausschließlich mit politischen Kategorien“ spreche und kirchliche Zukunftsvorstellungen „weitgehend ausschließlich politisch formulier[e]“.
Damit will Benedikt den Eindruck erwecken, als würde er in diesem Schreiben kein Blatt vor den Mund nehmen, offen und ungeniert reden – ganz im Gegensatz zu den verklausuliert redenden und politisierenden Theologen und Bischöfen.
- Benedikt stellt kirchliche Reformkräfte als Personen dar, die den Einflüsterungen des Teufels folgen. Über den Moraltheologen Franz Böckle berichtet er, dass dieser angekündigt habe, gegen die zu erwartende päpstliche Enzyklika „Veritatis splendor“ und deren Feststellung, „daß es Handlungen gebe, die immer und unter allen Umständen als schlecht einzustufen seien“, mit allen Mitteln protestieren zu wollen. Dafür hat der ehemalige Pontifex lediglich die zynische Bemerkung übrig: „Der gütige Gott hat ihm die Ausführung dieses Entschlusses erspart; Böckle starb am 8. Juli 1991.“
Kontrahenten werden in diesem Text also nur in abwertender Weise dargestellt.
- Das einstige kirchliche Oberhaupt streicht heraus, dass er und Papst Johannes Paul II. ernsthaft für die Aufrechterhaltung der Moral in der Katholischen Kirche gekämpft hätten, doch habe sich „ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft“ gemacht habe. Seine Bücher seien „wie schlechte Literatur verborgen und nur gleichsam unter der Bank gelesen“ worden. Studenten, die beim Lesen seiner Bücher „ertappt“ worden seien, seien als für das Priesteramt ungeeignet angesehen worden.
Benedikt stilisiert sich zum Sprachrohr des einfachen Volkes.
Damit positioniert sich der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation und ehemalige Papst in den kirchlichen Auseinandersetzungen seit Ende der 1960er Jahren als jemanden, der marginalisiert wurde. Er beschreibt die Auseinandersetzungen aus einem Blickwinkel von unten (aus der „Froschperspektive“) auf die angeblich übermächtigen Kräfte in Kirche und Gesellschaft, denen gegenüber er machtlos gewesen sei.
- Nicht in den etablierten Kreisen der kirchlichen Leitungsträger und der wissenschaftlichen Theologie finde man nach Benedikt den rechten Glauben (auch wenn es hier und da „in den hohen Rängen der Kirche“ auch aufrechte Glaubenszeugen gebe). Die, die „mit ihrem Leben und Leiden für Gott einstehen“, fänden sich „unter den einfachen Menschen“.
Damit suggeriert Benedikt, Sprachrohr des einfachen Volkes zu sein. „Ich bin einer von euch und mit euch und für euch“.[5]
- Indem er die zentrale Bedeutung der Enzyklika „Veritatis splendor“ für die Bekämpfung der angeblichen Auflösungserscheinungen im Bereich der kirchlichen Moral und deren Verantwortung für den Missbrauchsskandal in der Kirche herausstreicht, stellt er sich gegen Papst Franziskus auf die Seite der sog. Dubia-Kardinäle, die das nachsynodale Schreiben „Amoris Laetitia“ an „Veritatis splendor“ maßen, und dessen angeblich letzte Konsequenz von einem der Kardinäle so beschrieben wurde, „dass etwas, was in Polen eine Sünde ist, in Deutschland gut ist und das, was in der Diözese Philadelphia verboten ist, ist auf Malta erlaubt.“ Trotz dieser impliziten Distanzierung dankt der ehemalige Papst am Ende seines Schreibens überschwänglich Papst Franziskus „für alles, was er tut, um uns immer wieder das Licht Gottes zu zeigen“.
Benedikt bedient sich damit in seinem Schreiben des Mittels der „kalkulierten Ambivalenz“.[6]
Fazit:
Die hier herausgearbeiteten rhetorischen Stilmittel sind zentrale Bestandteile populistischer Propaganda. Neben den Elementen populistischer Rhetorik enthält das Schreiben Benedikts auch Kernelemente rechtspopulistischer Ideologie. Benedikt beschreibt die kirchlichen und weltlichen Eliten als korrumpiert, sich selbst als Vertreter des „reinen“ katholischen Volkes. Er nimmt Stellung gegen die „westliche Gesellschaft“ und ihre liberalen Errungenschaften und plädiert in seiner Kritik am „Garantismus“ des neuen Kirchenrechts für eine Rücknahme von Prinzipien von Rechtssicherheit im kirchlichen Justiz- und Verwaltungssystem. Das Schreiben Benedikts kann daher als ein populistisches Manifest betrachtet werden, das als Argumentationsarsenal für kirchen- (aber auch allgemein-)politisch agierende Rechtspopulisten dienen kann.
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[1] Dabei handelt es sich um einen Katalog, den Martin Reisigl durch eine Analyse der Sprache österreichischer FPÖ-Politiker als zentrale Elemente für populistische Rede ermittelt hat, vgl. ders., „Dem Volk aufs Maul schauen, nach dem Mund reden und Angst und Bange machen“. Von populistischen Anrufungen, Anbiederungen und Agitationsweisen in der Sprache österreichischer PolitikerInnen, in: Eismann, Wolfgang (Hrsg.), Rechtspopulismus. Österreichische Krankheit oder europäische Normalität?, Wien 2002, 149–198, besonders 166-168.
[2] Ebd., S. 166.
[3] Ebd.
[4] Ebd., 167.
[5] Vgl., ebd. 167.
[6] Ebd., 168.
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AutorInnen: Prof. Lucia Scherzberg ist Inhaberin des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes. August H. Leugers-Scherzberg ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Beitragsbild: Elvis Bekmanis on Unsplash.