Adornos neu veröffentlicher Vortrag liegt nach kurzer Zeit bereits in der 4. Auflage vor. Jan-Hendrik Herbst nimmt die Begeisterung in den Feuilletons unter die Lupe und zeigt die Aktualität Kritischer Theorie.
Vermehrt gerät das Verhältnis von „Rechtspopulismus“ und Religion ins theologische Blickfeld.[1] Religion wird zur Basis populistischer Identitätspolitik, ein fundamentalistisches Christentum entwickelt sich zum wichtigen politischen Verbündeten der AfD, ebenso berufen sich neurechte Vordenker auf einen traditionalistischen Katholizismus.[2] Aus diesem Grund erscheint es geboten, Adornos vor einigen Wochen neu im Suhrkamp-Verlag herausgegebenen und bisher eher unbekannten Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“[3] (1967) auch theologisch zu rezipieren. Dessen Aktualität wird nicht nur vom Historiker Volker Weiß hervorgehoben (59), der das Nachwort zum Vortrag geschrieben hat, sondern auch in den vielfältigen Rezensionen in u.a. SZ, FAZ, NZZ, Spiegel, Deutschlandfunk, FR oder Zeit.
Auch für heute noch adäquate Erklärungsansätze
Trotzdem überrascht es, dass ein Vortrag Theodor W. Adornos, der für diesen eher typische Gedankengänge umfasst, gegenwärtig in den Feuilletons so einschlägt. Vorwiegend wird darauf abgehoben, dass Adornos Gedankengang weitsichtig ist und auch für heute noch adäquate Erklärungsansätze bietet. Diese Begeisterung ist nachvollziehbar, insofern auch gegenwärtig einige Diagnosen Adornos noch zutreffen: das Feindbild eines kulturellen Marxismus wird konstruiert (10, 30-31, 77-78), die Überwindung vom Schuldkult gefordert (50-51, 79-80) oder ein politischer Ausnahmezustand beschworen (19-20, 24, 82). Und manche Analyseaspekte treten heute ggf. sogar verstärkt auf, wie das „Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit“ (11-12), ein Konflikt zwischen urbanen und ländlichen Gebieten (15) oder die Strategie des relativierten Tabubruchs, der „durch einen permanenten Konflikt zwischen dem Nicht-sagen-Dürfen und dem, was […] die Zuhörerschaft zum Sieden bringen soll“ (36), gekennzeichnet ist. Die Aktualität mancher Passagen ist somit fraglos beeindruckend, allerdings ist sie von eher geringem Erkenntniswert.
Drei Anschlussfragen …
So finden sich heute vielfältige Erklärungsansätze, die zwar im Einklang mit Adornos Überlegungen stehen, aber die Situation präziser analysieren.[4] Spannender als die Aktualität von Adorno zu konstatieren, erscheint es mir also drei Anschlussfragen zu formulieren, die auf der Aktualitätsbeobachtung aufbauen.
„The Frankfurt School knew Trump was Coming?“
1. Welche theoretischen Grundlagen ermöglichten es Adorno so weitsichtige Zeitdiagnosen aufzustellen, sodass in den USA gemutmaßt wird: „The Frankfurt School knew Trump was Coming“[5]? Der Grund dafür liegt m.E. in einer tief ansetzenden Kritik, der es um eine „Analyse des Zusammenhangs von Ökonomie, Gesellschaft und Subjektstruktur“ (71) geht. Gerade die Verbindung von marxistischer Gesellschafts- und psychoanalytischer Subjekttheorie hat es der Kritischen Theorie Adornos ermöglicht, weder einem einseitigen Ökonomismus noch Psychologismus zu erliegen.[6] Damit geraten grundlegende Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft in den Blick wie sie beispielsweise zwischen Kapitalismus und Demokratie bestehen (10, 15, 69) und seit 1969 – trotz gewisser Transformationen – als stabile Invariante der sozialen Verhältnisse gelten können. Weil sich der gesellschaftliche Kontext in dieser Hinsicht nicht substanziell verändert hat, besitzt die Kritische Theorie Adornos trotz ihrer Kontextualität eine enorme prognostische Qualität.
Neue Debattenfreudigkeit der Rechten
2. Welche Unterschiede lassen sich zwischen heute und 1969, zwischen AfD und NPD feststellen – Adorno untersucht den Aufstieg der 1964 gegründeten Partei (60-62)? Was also macht die neue Rechte gegenwärtig so stark und erfolgreich? Ein eklatanter Unterschied springt dabei direkt ins Auge, Adorno diagnostiziert Diskursfeindlichkeit und „Theorielosigkeit“ (23) auf Seiten der NPD-Funktionäre. Diese hätten nicht mit einer Universitätsprofessorin über ihre Positionen streiten wollen, weil es sich um „existentielle Gegensätze“ (34) handle. Eine solche Haltung findet sich heute kaum noch in der neuen Rechten. Eher gegenteilig wünschen sich diese ihre Teilnahme an öffentlichen Debatten und versuchen durch Theoriebildung Metapolitik zu betreiben. Allerdings lässt sich auch mit Adorno argumentieren, dass diese Neuausrichtung vorwiegend aus strategischem Kalkül, als ein besonders kluges Mittel im politischen Kampf um Hegemonie, vorgenommen wurde (41).[7]
Wer denkt, ist nicht wütend
3. Welche Handlungsoptionen lassen sich aus Adornos Überlegungen ableiten? Gerade im Umgang mit rechter Propaganda offenbart Adornos Vortrag einige luzide Umgangsweisen (41-55). Bereits die Vortragsform zeigt, dass eine sachliche und unaufgeregte Reaktion auf das neurechte Empörungspotenzial zielführend sein kann, denn – wie Adorno zu sagen pflegte – wer denkt, ist nicht wütend. Der Frankfurter Philosoph ist überzeugt, dass moralisierende Appelle an die Humanität nicht weiterführen. Allein vom Ansprechen der ureigenen Interessen der rechten Wählerschaft verspricht er sich eine Situationsveränderung (27-29, 51-52). Er plädiert dafür, den Menschen „klar [zu] machen […], daß diese Politik auch seine eigenen Anhänger unweigerlich ins Unheil führt und daß dieses Unheil von vornherein mitgedacht worden ist“ (28). Auch wenn er diese Überlegungen empirisch fundiert und exemplifiziert, bleiben sie letztlich vage; sie weisen zwar in die richtige Richtung, müssten jedoch noch konkret weitergedacht werden.
Desiderat Religion
Abschließend lässt sich darauf verweisen, dass das Themenfeld der Religion ein Desiderat in Adornos Vortrag darstellt. Volker Weiß deutet in seinem Nachwort darauf hin, dass sich die Theorie des autoritären Charakters auch auf religiösen Fundamentalismus, hauptsächlich den islamistischen Dschihadismus, ausweiten ließe (75). Und Christopher C. Brittain zeigt, dass man anhand von Adorno erklären kann, warum weiße US-amerikanische Evangelikale Donald Trump so stark unterstützt haben, obwohl dieser eher wenig Interesse am Christentum zeigt.[8]
Rettung der Theologie durch Kritische Theorie?
Diese Leerstelle markiert einen möglichen Impuls für die Theologie, sich wieder stärker der Kritischen Theorie zuzuwenden. Denn schließlich, so hält der Soziologe Stefan Breuer fest, beschäftigt sich sein Fachbereich nicht mehr mit Kritischer Theorie, weil ihr Anliegen die „‚Rettung der Metaphysik‘, ja […] ‚Rettung der Theologie‘“[9] war. Und wo, wenn nicht in der Theologie, wäre dann der angemessene Ort, diesen größtenteils marginalisierten, aber doch weiterhin unabgegoltenen Theoriestrang wiederaufzugreifen?
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Jan-Hendrik Herbst, M.A. und M.Ed. (Mathematik und katholische Theologie) ist ausgebildeter Lehrer und promoviert an der TU Dortmund im Fach „Religionspädagogik“.
Bild: Antonio Doumas auf Pixabay
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[1] Vgl. z.B. Walter Lesch (Hg.): Christentum und Populismus: Klare Fronten? Freiburg: Herder 2016.
[2] Vgl. z.B. Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern. Bonn: bpb 2019, 33-42.
[3] Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus: Ein Vortrag. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019 (2. Aufl.). Im Folgenden wird aus diesem Werk in Klammern zitiert, ab Seite 58 handelt es sich um das Nachwort von Volker Weiß.
[4] Von den nicht eingelösten Versprechen der Demokratie (18, heute z.B. Dirk Jörke und Veith Selk oder Colin Crouch), der Alternativlosigkeit in der Debattenkultur (40, heute z.B. bei Chantal Mouffe), über die Angst vor Privilegienverlust und Deklassierung sowie dem politischen Kontrollverlust durch den globalen Kapitalismus (10-12, 70, heute z.B. bei Cornelia Koppetsch oder Wilhelm Heitmeyer) und der empirischen sowie theoretischen Anwendung der Theorie des autoritären Charakters (41-42, 52, 73, heute z.B. bei Oliver Decker, Jan Weyand oder Peter E. Gordon) hin zur Analyse der Mechanismen populistischer Propaganda (35-37, 41-51, 67, heute z.B. bei Jason Stanley oder Johannes Hillje), der weiterhin zentralen, aber subtilen Bedeutung von Antisemitismus (35-36, heute z.B. bei Samuel Salzborn oder Volker Weiß) sowie der politischen Bedeutung von Emotionen (30, 70, heute z.B. bei Uffa Jensen oder Birgit Sauer).
[5] Alex Ross: The Frankfurt School knew Trump was Coming, in: The New Yorker 5.12.2016.
[6] Vgl. Jan-Hendrik Herbst und Judith Wüllhorst: Der europäische Erfolg des Rechtspopulismus als Herausforderung Christlicher Sozialethik – Eine Ursachenanalyse im Spiegel der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos, in: Felix Geyer et al.: Europa – verkauft und verführt? Sozialethische Reflexionen zu Herausforderungen der europäischen Integration. Forum Sozialethik 19, Münster: Aschendorff 2018, 129-164.
[7] Zumindest Volker Weiß vertritt in einem Interview zum Band die Position, dass mit Adorno zwar für eine öffentliche und rationale Widerlegung der rechten Positionen zu plädieren wäre, zugleich jedoch von einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Vertreter*innen der neuen Rechten Abstand genommen werden sollte, weil diesen an einer ernsthaften Debatte nicht gelegen sei: https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-50-todestag-von-theodor-w-adorno-was-tun-gegen.2162.de.html?dram:article_id=455426.
[8] Vgl. Christopher C. Brittain: Racketeering in religion: Adorno and evangelical support for Donald Trump, in: Critical Research on Religion 6 (2018), 269–288.
[9] Stefan Breuer zitiert hier aus dem Briefwechsel von Adorno und Gershom Scholem. Stefan Breuer: Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen. Tübingen: Mohr Siebeck 2016, 262.