Eine Oper zu einem biblischen Stoff lässt die Titelfigur Bibelverse singen – so weit, so unspektakulär. Doch wenn die Oper „Salome“ heißt und die allerorts als blutrünstige femme fatale verschriene Hauptperson die schönsten Verse des Hoheliedes zitiert, darf das getrost als Provokation betrachtet werden – mit erstaunlichen Folgen. Eine Spurensuche von Elisabeth Birnbaum
Die Oper „Salome“ von Richard Strauss (UA 1905) beruht auf der gekürzten deutschsprachigen Version des gleichnamigen Schauspiels von Oscar Wilde (1891) und schildert die Enthauptung Johannes des Täufers. Wie im Markus- und Matthäusevangelium erfolgt die Enthauptung auf Wunsch von Herodias und deren Tochter. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten mit der biblischen Vorlage.
Zwei gegensätzliche Charaktere
Die biblisch vermutlich kindliche Salome ist im Stück eine junge schöne Frau, die gewohnt ist, zu bekommen, was sie will. Der Mann ihrer Mutter, Herodes, begehrt sie auf inzestuöse Weise. Johannes der Täufer (im Stück: Jochanaan) dagegen verkörpert eine Reinheit, nach der sie sich sehnt. Zum ersten Mal fühlt auch sie Liebe und Verlangen. Er jedoch weist sie zurück. Schließlich verlangt sie die Enthauptung des Täufers – nicht wegen ihrer Mutter, sondern aus verschmähter Liebe. Der Vorläufer Christi und die sinnliche Prinzessin – diese beiden gegensätzlichen Gestalten konfrontiert das Libretto nun miteinander und mit ihrer je eigenen Begierde. Und legt ihnen zur näheren Charakterisierung Bibelworte und -motive in den Mund. Und hier beginnt es spannend zu werden: Denn die Wahl der Bibelverse unterläuft die erwarteten Rollenzuweisungen.
Jochanaan und Ezechiel
Johannes der Täufer hat in der Bibel zwei Botschaften: Er verkündet die Ankunft des Messias und er ruft zur Umkehr auf. Das tut auch Jochanaan in der Oper. Doch der äußerst kurzen Frohbotschaft zu Beginn (vgl. Mk 1,7) folgen ausgedehnte Unheilsankündigungen. Statt zur Umkehr zu bewegen, prophezeit er Tod und Verderben. Statt an das Volk richten sich seine Worte direkt gegen Herodes, Herodias und in weiterer Folge vor allem gegen Salome.
Die Worte gegen die Frauen entstammen auffällig oft aus dem Ezechielbuch, und da aus zwei Kapiteln mit besonders problematischer Bildsprache (Ez 16; 23). Das Verhältnis von Gott zu seinem Volk wird hier in eine Ehemetapher gegossen, Israel als ehebrecherische Frau von ihrem „Eheherren“ angeklagt und verurteilt. Wenn diese Worte nun von Jochanaan über Herodias bzw. Salome gesprochen werden, wird die Verurteilung eines Volkes zu einer Verurteilung einer konkreten Frau, verkündet von einem Propheten, der sich an Gottes Stelle setzt. So prophezeit er der „Tochter Babylons“, dem „geilen Weib“, einen gewaltsamen Tod (im französischen Original ordnet er ihn sogar an). Aus dem Kontext wettert Jochanaan hier offenkundig gegen Salome, auch wenn Herodias es auf sich bezieht.
O über dieses geile Weib, die Tochter Babylons … Die Kriegshauptleute werden sie mit ihren Schwertern durchbohren … (Jochanaan, vgl. Ez 23,47)
Der Fluch des Jochanaan
All das spricht Jochanaan aus seinem Gefängnis, einer Zisterne, heraus. In der direkten Begegnung mit Salome ändert sich seine Sprache auffällig. In seinen Antworten werden die biblischen Bezüge schwächer und aus dem Kontext gerissen. So bezeichnet er sich selbst als „Erwählten des Herrn“, was in der Bibel nur dem alttestamentlichen Gottesknecht, dem Volk als Ganzes bzw. dem neutestamentlichen Jesus zugesprochen wird. Sein „Entweihe nicht den Tempel des Herrn“ bezieht er auf seinen Leib. Biblisch ist es jedoch Jesus, der seinen Leib metaphorisch mit dem Jerusalemer Tempel gleichsetzt.
Salome nennt er wahlweise „Tochter Sodoms“ oder „Tochter Babylons“ und begründet seine Haltung damit, dass durch die Frau „das Übel in die Welt kam“. Das entspricht einer gängigen misogynen Schlussfolgerung aus Genesis 3, dem sogenannten Sündenfall. Nur einmal findet Jochanaan kurz in seine biblische Rolle: wenn er Salome empfiehlt, zu Jesus zu gehen und – wie die Sünderin aus Lukas 10 – um Vergebung ihrer Sünden zu bitten.
Häufiger jedoch verlässt Jochanaan die biblische Diktion. Stattdessen gleichen seine Worte nun jenen von Salome in der zweiten Szene. Hatte Salome über Herodes gesagt: „Warum sieht mich der Tetrarch fortwährend so an mit seinen Maulwurfsaugen unter den zuckenden Lidern?“ fragt Jochanaan nun: „Warum sieht sie mich so an mit ihren Goldaugen unter den gleißenden Lidern?“. Während jedoch Salome zugibt, dass sie weiß, was das bedeuten soll, betont Jochanaan, dass er es gar nicht wissen will. Er, der Prophet, der zur Umkehr aller aufrufen sollte, versucht sogar das Gespräch zu verweigern („Zu ihr will ich nicht sprechen“) und verflucht sie zuletzt.
Sei verflucht, Tochter der blutschänderischen Mutter, sei verflucht! (Jochanaan)
Salome und das Hohelied
Salome dagegen spricht ausgerechnet und nur mit ihm in biblischen Versen und Motiven. Und alle inspirieren sich am Hohelied, einem Text, der jahrhundertelang als Metapher für Gott und sein Volk gelesen wurde und für viele das schönste Liebeslied der Welt ist. „Sein Gaumen ist Süße, alles ist Wonne an ihm“ (Hdl 5,16) und: „Träfe ich dich draußen, ich würde dich küssen“ (Hdl 8,1) wünscht sich die Frau im Hohelied. Und Jochanaans Mund zu küssen ist das, was Salome begehrt. Dreimal holt sie zu einer Liebeserklärung aus: auf Jochanaans Leib, sein Haar und seinen Mund. Dreimal folgt diese demselben Muster:
Dein Mund … ist wie ein Granatapfel, von einem Silbermesser zerteilt (Salome, vgl. Hld 4,3 )
Sie vergleicht ihr Objekt der Begierde zunächst mit Motiven, die dem biblischen Hohelied entstammen: Sein Leib ist „weiß wie die Lilien auf dem Felde“, sein Haar schwarz wie „Weintrauben, Büschel schwarzer Trauben“, sein Mund wie „ein Scharlachband an einem Turm wie Elfenbein“ bzw. „wie ein Granatapfel“. Das inspiriert sich an Vergleichen, die die Liebenden des Hoheliedes selbst einander zusprechen (Hld 4,3; 5,11.14; 7,5). Später werden die Vergleiche jeweils exaltierter und entfernen sich schrittweise von der biblischen Diktion. Neuzusammenstellungen wie die „Weinstöcke Edoms“ oder „die Gärten von Tyrus“ verbinden biblisch positiv (Weinstöcke, Gärten) mit biblisch negativ konnotierten Elementen (Edom, Tyrus) und lassen das Bild ins Bizarre kippen. Zuletzt greifen die Vergleiche über das Hohelied hinaus und bringen andere Bilder mit hinein, wie etwa „die Brüste des Mondes“ oder „des Waldes Schweigen“.
Die eindrucksvollste Zitation des Hoheliedes erfolgt im Abschlussmonolog Salomes. Den abgehauenen Kopf Jochanaans in Händen hebt sie zu einem Hochgesang auf Liebe und Begehren an – angelehnt an die zentralen Versen des Hoheliedes: „Nicht die Fluten, noch die großen Wasser können dieses brünstige Begehren löschen … Und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes“ (vgl. Hld 8,6–7). Der Kontrast zwischen dem grausigen Szenario und der Schönheit der Verse könnte größer nicht sein.
Und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes (Salome, vgl. Hld 8,6)
Eine Prophetin des Begehrens
Oscar Wildes „Salome“ lässt durch die beiden Hauptfiguren Bibel gegen Bibel sprechen. Und für wen Wilde Partei ergreift, ist offenkundig: Jochanaan auf der einen Seite zitiert neben Markus 1,17 vor allem Texte wie Ezechiel 16 und 23 und spiegelt damit die ganze Ambivalenz einer bestimmten Form von Frömmigkeit. Die Botschaft des Kommens des Erlösers steht neben einer unbarmherzigen, sinnesfeindlichen Haltung, die auf Sünde und Verdammnis fokussiert ist. Salome dagegen inspiriert sich ausschließlich an Versen aus dem Hohelied, die Liebe und Begehren preisen. Durch die Hoheliedverse wird Salomes Handeln quasi geheiligt, unbeschadet der darin enthaltenen Perversität und Obsession. Weder die dekadente Lüsternheit des Herodes noch die leibfeindliche Gynophobie des Jochanaan präsentieren sich als akzeptable Alternativen dazu.
Die biblischen Texte und Motive konterkarieren somit die Handlung und hinterfragen subtil die moralischen Bewertungen des Publikums. Der vielgerühmte heilige Vorläufer Christi erweist sich in Wildes Libretto als fanatischer Frauenfeind. Und die vielgeschmähte, mörderische Frau, die ihre Lust an einem Toten auslebt, wird durch die schönsten Worte der Liebesliteratur zu einer Prophetin, ja zu einer Märtyrerin des Begehrens.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bild: Maud Allan in der Rolle der Salomé; ca. 1906–1910; publicity Photo wikimedia commons