Dem Verrat folgt die Entlarvung, der Entlarvung die Strafe: Was aber folgt nach der Strafe? Nach katholischer Bußdisziplin das Versprechen tätiger Reue. Von Rainer Bucher.
Das Versprechen
Der ehemals drittmächtigste Mann der katholischen Kirche sitzt in einem australischen Gefängnis, der irenisch gesinnte Wiener Kardinal Schönborn spricht davon, dass „fast“ ein „Krieg in der Kirche“[1] herrsche und Kardinal Marx befindet kurz und knapp „Die Menschen glauben uns nicht mehr“: so ziemlich die Maximalstrafe für eine Glaubensgemeinschaft.
Nach katholischer Bußdisziplin folgt der Strafe die tätige Reue. Sie beginnt mit einem Versprechen, dem der grundlegenden Besserung. Welche Versprechen muss die Kirche geben? Natürlich: Dass sie alles unternehmen wird, dass in ihr nicht mehr missbraucht wird und die Missbraucher nicht mehr gedeckt werden.
Sie hat dieses Versprechen nunmehr neuerdings gegeben und auch umgesetzt in Präventionsmaßnahmen und verschärften Melderegelungen, endlich auch auf gesamtkirchlicher Ebene. Freilich: Vergangene Täter werden nicht durchgängig identifiziert, schon mit der confessio steht es also nicht nur gut. Das Versprechen, dass man alles tun werde, damit nicht mehr missbraucht und vertuscht wird, ist natürlich noch nichts Besonderes, es ist eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit.
Die Überlebenden hören.
Der nächste Schritt, der Täter-Opfer-Ausgleich, also die Opfer, die sich selbst oft lieber „Überlebende“ nennen, zu hören, zu ehren, ihnen beizustehen und zu helfen, von ihnen eine Wahrheit über sich zu vernehmen: Dieses Versprechen wurde zögerlicher schon nur gegeben und zögerlich auch nur realisiert. Es brauchte Zeit bis man halbwegs gute Formen fand. Aber auch hier gilt: Ist es nicht eigentlich menschlich selbstverständlich?
Seit der MHG Studie dreht sich die Diskussion nun, so der nächste Schritt, um die systemischen Voraussetzungen des Missbrauchsgeschehens.[2] Die zentralen Forderungen der akademischen Theologie, zumindest jener unserer Breiten, zeichnen sich ab: das Ende der sakralisierten Amtsüberhöhung des Priesters, der männerbündischen Klerikalkultur und überhaupt einer Priesterausbildung, die eine „künstlich geschaffene Einheitskultur“[3] auf Internatsbasis favorisiert, die Überwindung einer absolutistischen kirchlichen Rechtsstruktur und -kultur durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit und eine grundlegende Gewaltenteilung, schließlich die Reform einer kirchlichen Sexualmoral, die begründungstheoretisch mindestens wackelig, humanwissenschaftlich unterinformiert und pastoral schlicht unkommunizierbar geworden ist.
Nachholen, was Vernunft und Erfahrung nahelegen.
Hier nun verlassen uns viele kirchlichen Entscheidungsträger: Diese Versprechen mag man kirchenamtlich schon nicht mehr wirklich geben – zu deutlich brechen sie mit der katholischen Identitätspolitik der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte. Dabei würden auch diese Forderungen doch nur erfüllen, was Vernunft und Erfahrung nahelegen, vor allem die säkularen Absturzerfahrungen der modernen Gesellschaften selbst.
Es ist ja nicht so, dass Amtsüberhöhung, Männerbündisches, Absolutismus und die Herrschaft eines moralisch-elitären ideologischen Rigorismus nicht auch die Geschichte der modernen europäischen Gesellschaften durchzögen: Sie tun es vielmehr massiv und mit einer schauerlichen Blutspur. Aber die europäischen Gesellschaften haben, schmerzlich und spät genug, aus ihren Abstürzen gelernt, die katholische Kirche, zugegeben an diesen Abstürzen nicht unmittelbar ursächlich beteiligt, glaubte lange und glaubt bisweilen immer noch, von diesen anti-totalitären Lerneffekten der modernen Gesellschaften selbst nichts lernen zu müssen.
Das holt sie spätestens in Skandalen wie jenen der sexualisierten Gewalt in ihren eigenen Reihen ein, wo dann das Beste, das man anbieten kann, die Auslagerung der Aufarbeitung des Skandals an die Aufarbeitungsmechanismen jener säkularen Gesellschaft ist, der man sich sonst doch überlegen erachtet – gerne auch an Frauen, die ansonsten vom inner circle der Kirche gewissenhaft ferngehalten werden. Den jetzt eigentlich naheliegenden Schritt, die in einer langen und schmerzlichen Lerngeschichte entwickelten säkularen Sicherungsmechanismen gegen Machtmissbrauch auch im eigenen Innen zu installieren oder gar Frauen in den inner circle aufzunehmen, wagt man schon nicht mehr wirklich. Und doch: Auch das wäre nur nachholende Entwicklung.
Das „allumfassende Sakrament des Heiles“.
Welches Versprechen müsste die Kirche, heute, am Ende ihrer selbstverständlichen Herrschaft, im Angesicht ihrer Opfer, vor Gott eigentlich aus ihrem Glauben heraus geben? Die katholische Kirche hat dieses Versprechen schon gegeben, feierlich und mit höchster Verbindlichkeit. Sie hat im II. Vatikanum versprochen, ein „allumfassende(s) Sakrament des Heiles“ zu sein, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (GS 45).
Was würde es bedeuten, dieses Versprechen, gegeben in einer Pastoralkonstitution, also in einem Text, der das Wesen der Kirche in ihren Praktiken festmacht, tatsächlich in allem, was man tut, einhalten zu wollen? Was würde es bedeuten, diesen Text weder als bewährungsbefreite dogmatische Selbstzuschreibung noch als pastorale Rhetorik zu verstehen, weder also als klerikale Ideologie noch als romantische Utopie, sondern als Versprechen, das die Kirche Gott und den Menschen gibt, dazu fähig natürlich nur im Vertrauen auf Gottes Offenbarung und Gnade? Was würde es bedeuten, dieses letztlich ungeheure, anmaßende, unerfüllbare Versprechen zu wagen, das Geheimnis der Liebe Gottes offenbaren und verwirklichen zu wollen und sich selbst unter dieses Versprechen zu stellen, also in die geradezu metaphysische Demut, es nie wirklich erfüllen zu können, aber ihm unausweichlich verpflichtet zu sein?
Wenn die anderen der Ort sind, an dem sich erweist, was Kirche ist.
Es würde zuallererst bedeuten: Die anderen sind in allem, was sie sind, der Ort, an dem sich entscheidet, was Kirche ist. Sie erfahren Kirche oder erfahren sie gerade nicht als Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes. Erfahren sie sie nicht so, erfahren sie gar das Gegenteil, dann gibt es keine Rettung in ein handlungsunabhängiges heiliges Wesen der Kirche. So wenig autoritäre Behauptungsdiskurse gegen historische Relativierungen helfen, so wenig helfen sie gegen manifeste Gegenerfahrungen.
Das Versprechen, ein „allumfassende(s) Sakrament des Heiles“ zu sein, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (GS 45), würde auch bedeuten, die Ernsthaftigkeit des Glaubens, die „unüberbietbare Authentizität der Offenbarung“[4] als „Unüberbietbarkeit an Anerkennung, an Solidarität und Kooperationsbereitschaft“, als Unüberbietbarkeit „an Gottvertrauen und Feindesliebe“, als Unüberbietbarkeit „an Gewaltverzicht und Ermächtigung der Ohnmächtigen“[5] zu realisieren, wie Ottmar Fuchs eindringlich schreibt.
Wie aber würden Sozialformen der Kirche ausschauen müssen, die solches erfahrbar, wenigstens ahnbar werden lassen? Sie müssten wohl weniger einer Logik der Mitgliedschaft, eher einer Logik des Ereignisses[6] folgen, weniger einer Logik der Wiederholung als einer Logik der abduktiven, also gewagten, erhofften, spontanen Entdeckung, weniger einer Logik der Totalität als einer Logik situativer und liquider Partikularitäten. Anders gesagt: Sie würden weniger auf der Basis der nach-tridentinischen Ekklesiologie als auf der Basis der Inhalte des Glaubens als praktischer Wahrheiten zu gestalten sein.
Die Hoffnung
„Wenn es nur so einfach wäre“, schreibt Solschenizyn, „daß irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen.“[7]
Maria Elisabeth Aigner hat Recht: „Opfer sind auch Überlebende, ‚survivals‘, denen nicht nur Not und Elend widerfahren sind. Sie haben auch eine widerständige Lebenskraft an den Tag gelegt“. Und es gilt auch: „Täter und Täterinnen haben sich schuldig gemacht und dennoch sind sie weder die Schmuddelkinder noch der kirchliche Abschaum. Täter und Täterinnen sind Menschen. Auch in ihren Geschichten sind Not und Elend präsent, selbst wenn nichts davon bewusst ist.“[8]
Was wäre, wenn nichts neu ist an diesem Bösen?
Was wäre, wenn wirklich nichts neu ist an diesem Bösen in uns und der Kirche? Wenn das Neue vielmehr wäre, dass es aufgedeckt wird? Wenn neu wäre, nicht länger verdrängen zu können, dass die anderen und nicht unsere religiösen Interessen, Gefühle und Befindlichkeiten die eigentliche Prüfstrecke des Christseins und der Kirche sind, dass die kirchlichen Sozialformen die christliche Botschaft immer wieder mit Herrschaft, Selbstbezüglichkeit und Mitleidlosigkeit amalgamiert haben und auch, dass unsere theologischen Diskurse so oft nicht mehr wirklich präsentieren können, was sie präsentieren wollen, und wir daher in unserer Theologie oft das Evangelium ungewollt in selbstreferentieller Selbstgenügsamkeit verraten?
Wenn all das das Neue wäre, dann wird das Erschrecken über den Missbrauchsskandal zum erschreckten Erwachen über das Versagen vor dem Versprechen, das die Kirche gegeben hat.
„Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“, heißt es bei Brecht. Genau das ist es, was gerade passiert. Wie es ausschaut liegt darin noch die größte Hoffnung.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Bild: Jen Theodore / Unsplash
[1] https://religion.orf.at/stories/2934915/ (abgerufen 22.8.2019).
[2] Vgl. Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt … doch wir lassen das nicht zu, Freiburg/Br. 2019; sowie Magnus Striet/Rita Werden (Hrsg.), Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester, Freiburg/Br. 2019.
[3] Wolfgang Reuter, Brief-Geheimnis. Das Schreiben des Papstes an das Volk Gottes zwischen den Zeilen gelesen, (https://www.feinschwarz.net/brief-geheimnis-das-schreiben-des-papstes-an-das-volk-gottes-zwischen-den-zeilen-gelesen/ (12.7.2019).
[4] Ottmar Fuchs, Freigabe vom „Muss“ des Glaubens. Kopernikanische Wende für die Zukunft religiöser Spiritualität, in: Volker Sühs (Hg.), Die entscheidenden Fragen der Zukunft. Theologinnen und Theologen nehmen Stellung. Essays anlässlich 100 Jahren Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2019, 79-85, 82.
[5] Ebda.
[6] Vgl. Michael Schüßler, Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013; Ders./J. Gruber, Das Ereignis theologisch denken. Eine einführende Spurensuche, in: SaThZ 21 (2017), 1-24.
[7] Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag, Bern 1974, Bd. I, 167.
[8] https://www.feinschwarz.net/vom-versagen-das-versagen-anzuerkennen-kirchlicher-missbrauchsskandal-reloaded/.