An den Landtagswahlen in Berlin und Brandenburg fokussieren sich wesentliche Fragen der Wahrnehmung gegenwärtiger politischer Kultur – der Aufschwung des Populismus, bleibende Differenzen zwischen Ost und West, die Frage nach gleichwertigen Lebensbedingungen in Stadt und Land. Feinschwarz schaut im September genauer hin. Kurzbeiträge von Jan Witza, Ulrike Franke und Frank Schürer-Behrmann bilden den Auftakt.
Sachsen – mal nach dem Rechten sehen
von Jan Witza, Referent für gesellschaftspolitische Jugendbildung im Evangelischen Landesjugendpfarramt Sachsen. Podcast „Sächsische Verhältnisse“
Es ist unglaublich, aber die Welt dreht sich im Freistaat Sachsen auch am Morgen des 02.09.2019 noch weiter. Zugegebenermaßen noch etwas ruckelig und auf der Zunge schmecke ich den schalen Geschmack eines bitteren Abends, aber die Sonne ist auch an diesem Morgen im Osten aufgegangen. Und ihr Licht fällt immer noch auf ein gespaltenes Land. Mehr als deutlich stechen die schroffen Klippen zwischen Ost- und Westdeutschland, Stadt- und Landgesellschaft, kosmopolitischer und nationaler Weltsicht hervor.
Ressentiments und demokratiegefährdende Einstellungen
Doch die Ergebnisse der Landtagswahl im Freistaat Sachsen waren alles, aber keinesfalls überraschend. Die drei bisher veröffentlichten Sachsenmonitore 2016, 2017, 2018 machen mehr als deutlich, was jetzt im Kreuz des Wähler*innenwillens seinen Ausdruck und die Öffentlichkeit fand. In Sachsen gibt es einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung mit Ressentiments und demokratiegefährdenden Einstellungen. Das ist in der Sozialforschung nahezu unbestritten. Die Geister der Debatte scheiden sich eher an den Quellen und Wurzeln dieser Einstellungen und an den daraus abzuleitenden gesellschaftspolitischen Konsequenzen für politische und zivilgesellschaftliche Akteur*innen.
Das Narrativ des „Alle sind gegen uns“ wird eher verstärkt werden.
Für den Moment tröste ich mich auch mit dem Gedanken, dass die Mehrheit der Wähler*innen nicht die AfD gewählt hat und sogar häufig strategisch gewählt wurde, um eine*n Direktkandidat*en der AfD zu verhindern. Auf kurze Sicht wird die vermutliche Regierungskoalition von CDU-GRÜNE-SPD das Narrativ des „Alle sind gegen uns“ der AfD verstärken. Auf lange Sicht werden viele Protestwähler*innen einsehen müssen, dass ihre Stimme lediglich eine Oppositionskraft stärkt und wenig bewirkt. Das könnte auch Auswirkungen auf die Programmatik der AfD haben und sie zu einem deutlicheren Mittekurs nötigen. Vielleicht.
Was es jetzt nicht braucht sind neue Spiegel-Titel im Stil der Ausgabe 36/18 und der Versuch von überwiegend westdeutsch geprägten Medien die Entwicklungen in Sachsen (und Brandenburg) zu erklären und in einem Blick auf den Osten zu verallgemeinern.
Bitte keine stereotype Betrachtung „des Ostens“!
Nach allem, was ich bisher bei den Sächsischen Verhältnissen gelernt habe, ist eine stereotype Betrachtung „des Ostens“ zum Scheitern verurteilt und muss durch einen sehr differenzierten Blick, zum Teil bis in die Sozialräume hinein, abgelöst werden. Umgekehrt käme ja vermutlich auch niemand auf die Idee Landtagswahlen in Bayern und Nordrhein-Westfalen mit „dem Westen“ zusammenzufassen. Die schnelle Formulierung von Stereotypen bestenfalls in moralisierendem Tonfall muss einer ruhigen Analyse weichen.
Auch dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution haben wir es immer noch mit einer krassen Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen den alten und neuen Bundesländern zu tun.
Menschen bewerten ihr Leben in Relationen und diese sind, auch dreißig Jahre nach dem magischen Jahr 1989 eben in einigen Lebensbereichen noch krass verschieden. Und ich kann niemandem in den Weiten der Oberlausitz, der die Deindustrialisierung der Nachwendezeit in der Region er- und überlebt hat, die große Skepsis verübeln, wenn jetzt bundesweit der Ausstieg aus der Braunkohle diskutiert und gefordert und damit gleichzeitig über die Berufsbiographie von Dörfern und Region entschieden wird.
Einige Menschen haben dem Versprechen der „blühenden Landschaften“ zu sehr geglaubt und nicht sehen können, dass auch in der Bonner BRD nicht alles Gold ist, was glänzt. Dennoch ist die Leistung, die unsere vergleichsweise junge Bundesrepublik mit der Wende und den damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen und Entwicklungen vollbracht hat aus meiner Sicht einmalig in Europa. Für solche Entwicklungsprozesse gibt es keine Vorbilder und Blaupausen. Gerade deshalb braucht es gesellschaftliche Akteur*innen wie die Kirchen und die freien Träger der Jugendarbeit, die auf dem Hintergrund bestimmter Werte und Menschenbilder ihre Begegnungs- und Dialogräume öffnen.
Einige wollen wiederkommen.
Eine Woche vor der Landtagswahl in Sachsen haben in Dresden über 300 Initiativen im Unteilbar-Bündnis auf die Straße gerufen und etwa 40.000 Menschen sind diesem Aufruf gefolgt. Einige sind extra mit Sonderzügen und -bussen aus Hamburg, Berlin und München angereist, um ein sichtbares Zeichen gegen die soziale Spaltung und das gegenseitige Ausspielen von menschlichen Bedarfen und Bedürfnissen zu setzen. Viele sind wieder abgereist, einige wollen wiederkommen.
Was es jetzt braucht, ist ein echtes, ein ehrliches Interesse am Osten, seinen Menschen und den Lebensrealitäten und -herausforderungen hier. Mit der Ostsee hat das ja auch ganz gut geklappt. Bitte macht Euch auf und kommt nach Sachsen, besucht Dresden, Görlitz, Hoyerswerda, Leipzig, Panschwitz-Kuckau und kommt mit Neugier, Mut und Offenheit. Davon können wir alle nie genug bekommen.
Meine Nachbar*innen
von Ulrike Franke, evangelische Pfarrerin im Kirchspiel Regis-Breitingen, südlich von Leipzig, sowie in der dortigen Jugendstrafvollzugsanstalt.
Schon seit der Europawahl weiß ich: ein Drittel meiner Nachbar*innen wählt AfD. Die übrigen wählen CDU und Linkspartei, einige wenige entscheiden sich für die SPD, die übrigen für alle möglichen kleinen Parteien, in deren Namen es um Tierschutz oder Familie geht.
Nach der Auszählung der Stimmen in meinem Wahllokal gehe ich nach Hause. Ich fühle mich fremd und einsam. Vor meinem inneren Auge sehe ich die freundlichen Menschen, die mir die Autobatterie laden, wenn ich das Licht angelassen habe, die meine Pakete annehmen, mit denen ich bei runden Geburtstagen am Kaffeetisch sitze oder am Gartenzaun über den ausbleibenden Regen spreche. Viele der älteren Nachbarinnen und Nachbarn haben vor dreißig Jahren im Tagebau, im Kraftwerk oder in einer Brikettfabrik gearbeitet, einige waren in der LPG beschäftigt oder beim Konsum, manche im Krankenhaus in der Kreisstadt oder im Kindergarten. Von den Jüngeren arbeiten viele in Leipzig. Die S-Bahn fährt stündlich.
Sie wirken nicht besorgt oder verbittert.
Sie wirken nicht besorgt oder gar verbittert. Ich habe den Eindruck, sie sind angekommen in dem neuen System mit seinen vielen Möglichkeiten und den wachsenden Unterschieden zwischen Stadt und Land, reich und arm, weltgewandt und ortsverbunden. Und doch erlebe ich immer wieder in Diskussionen, dass gern von „denen da oben“ gesprochen wird, die sich nicht für „uns“ interessieren. Die keine Ahnung haben, was bei „uns“ los ist. Die sich von „uns“ entfremdet haben. Diese Kritik wird gleichermaßen gegenüber kirchenleitenden Stellen und politischen Verantwortungsträger*innen erhoben.
„Die da oben“, die sich nicht für „uns“ interessieren.
Meine Werbung für die Möglichkeiten der Mitverantwortung und Beteiligung in Kirche und Demokratie, in Parteien und Vereinen finden kaum Resonanz. Es fehlen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Das beglückende Gefühl, etwas bewegen zu können, das ich aus den Tagen der friedlichen Revolution erinnere; es muss verloren gegangen sein.
Wo ist das Gefühl, etwas bewegen zu können?
Für mich bedeutet das: Als Kirche müssen wir Jugendliche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen lassen, sie an Entscheidungen beteiligen und Ihnen Möglichkeiten bieten, sich die Welt mit ihrer Vielgestaltigkeit zu erschließen.
Immerhin
von Frank Schürer-Behrmann, Superintendent im Kirchenkreis Oderland Spree der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.
Immerhin, die Wahlbeteiligung ist gestiegen, und über drei Viertel der Brandenburger*innen haben nicht die AfD gewählt. Gegenüber den teilweise vordemokratisch klientelistisch agierenden großen Parteien war für mich in den vergangenen Jahren der Stimmenanteil der Bündnisgrünen der Gradmesser der Demokratisierung in unserem Bundesland: Jetzt haben die Bündnisgrünen das beste Ergebnis ihrer Geschichte in Brandenburg erreicht, sogar ein Direktmandat. Taffe Frauen kommen in den Landtag. Und viele Menschen haben sich wirklich in den Wahlkampf eingebracht, da gab es manch lebendige Auseinandersetzung. Insofern geraten wir vielleicht endlich ins Offene. Daraus kann man etwas machen.
Taffe Frauen kommen in den Landtag.
Allerdings: Dass an manchen Orten AfD-Kandidaten mit deutlicher Nähe zu braunen Personen und Inhalten gewählt wurden, macht mich trotzdem fassungslos. Gegenüber den taffen Frauen entscheiden da im Landtag jetzt auch bestenfalls sehr schlichte, schlimmstenfalls sehr unangenehme Gemüter.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass die AfD-Wähler*innen nur besonders klar und schlicht das neoliberale gesellschaftliche Grundnarrativ exerzieren: Unterm Strich zähl ich. Ich will für mich sorgen, behalten, was ich gekriegt habe, nicht teilen, was mir meines Erachtens zusteht. Der linke Frankfurter Oberbürgermeister René Wilke sagt vor Kurzem: “Ich habe das Gefühl, wenn die Menschen von Gerechtigkeit reden, meinen sie nur Gerechtigkeit für sich.“ Da fehlt wirklich ein Stück Rechtfertigungslehre – wir werden nicht aus uns selbst gerecht, und unser Leben und unsere Würde sind kein Anspruch, sondern ein Geschenk.
Das neoliberale Grundnarrativ: Unterm Strich zähl ich.
Woher kommt das? Sind die Ostdeutschen einfach dumpfer und egoistischer? Hat die Austreibung der Religion und Tradition auch einen Verlust an Humanität bewirkt, ganz anders als die selbsternannten Befreier*innen von der Unmündigkeit es einmal dachten? Vielleicht auch.
Vor allem aber unterscheidet das den Osten vom Westen: Während der Westen immer noch vom christlich-sozialdemokratischen Grundnarrativ des gemeinsam erarbeiteten und verteilten Wohlstands des Wirtschaftswunders der 1950er -1970er Jahre zehrt, ist die gesellschaftliche Grunderfahrung im Osten der Fall ins Bodenlose und das Jetzt-muss-jede*r-für-sich-Sorgen der 1990er Jahre. Wo kein gesamtgesellschaftliches Solidaritätsversprechen gehört wird, kündigt man innerlich den Gesellschaftsvertrag.
Eine Kündigung des Gesellschaftsvertrags.
Wir brauchen also ein neues solidarisches Grundnarrativ. Das alte sozialdemokratische des Westens hatte noch Spurenelemente des Völkischen, das im Osten erst recht. Gehörten die „Gastarbeiter“ nun dazu oder nicht? Buntheit feiern reicht aber auch nicht, eine soziale Grundsicherheit muss garantiert werden – nicht nur materiell, sondern auch in Bildung und Partizipation. Der italienische Ministerpräsident Conte (!) sagte bei der neuen Regierungsbildung in Italien vor einigen Tagen offensiv: „Wir wollen eine Gesellschaft aufbauen, die solidarischer und inklusiver ist!“ Wann höre ich das in Deutschland, glaubhaft, und so, dass Europa mitgedacht ist? Und die Solidarität auf die natürlichen Grundlagen auszudehnen, ist kein „Gutmenschentum“, sondern Zukunftssicherung.
Eine solidarischere und inklusivere Gesellschaft!
Wenn so einmal offensiv und selbstbewusst von politischen Führungspersönlichkeiten geredet würde, würde das vielleicht doch dem einen oder der anderen der Egoist*innen imponieren. Damit das geschieht, müssen sich viele, auch aus den Kirchen, mehr in die Politik einmischen und sie nicht mehr als schmutziges Geschäft betrachten oder sogar diffamieren. Also gemeinsam auf zur Arbeit an der sozial-ökologischen Wende, und Mut zur Auseinandersetzung darum.
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Zusammenstellung: Dr. Kerstin Menzel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Praktische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied der Redaktion feinschwarz.net.
Bild: Steven Wright / unsplash.com