Der ‚Synodale Weg’ der deutschen katholischen Kirche ist höchst umstritten. Christian Bauer kontert innerkirchliche Kritik theologisch und legt deren spirituelle Defizite offen. Dabei spielt auch ein Buch aus dem Jahr 1925 eine wichtige Rolle, das einen Schlüssel für die intellektuelle Biographie von Papst Franziskus darstellt.
Das Statut des ‚Synodalen Weges’ wird gegenwärtig heftig diskutiert, ein minoritärer Gegenentwurf[1] wurde von den Bischöfen mehrheitlich abgelehnt. Erste inhaltliche Texte zu den Themenforen liegen vor. Der extrem konservative Kirchenflügel weltweit ist alarmiert (auch angesichts der anstehenden Amazonas-Synode), ihr Mainstream[2] jedoch wartet skeptisch ab. In dieser zum Teil recht aufgeheizten Diskussionslage lohnt sich eine Verlangsamung der Debatte und ein näherer Blick in ihre spirituellen und theologischen Hintergründe.
Scheinheilige Kritik
Die Kritik mancher bischöflicher Gegner des ‚Synodalen Weges’ wirkt scheinheilig. Denn auch auf ihrer Seite wird, allerdings unter dem tarnenden Mantel des Spirituellen, durchaus auch in versierter Weise Kirchenpolitik betrieben: Kirchenpolitik des Status quo – inklusive römischer Winkelzüge. Von kurialer Seite ein Schreiben zu veröffentlichen[3], das sich auf einen längst modifizierten Statutenentwurf bezieht und den ‚Synodalen Weg’ (Kardinal Marx: „ein Prozess sui generis“[4]) entgegen der erklärten Intention der Bischofskonferenz als eine formelles Partikularkonzil behandelt[5], ist blanker kirchenpolitischer Machiavellismus: Aliquid haeret, irgendetwas bleibt immer hängen…
Evangelisierungshindernis
Wenn einige deutsche (Erz-)Bischöfe den Brief an das Volk Gottes in Deutschland von Papst Franziskus zitieren, um mit Blick auf den ‚Synodalen Weg’ lautstark einen „Primat der Evangelisierung“[6] einzufordern, dann erweist sich dieses Zitat als ein ‚Trojanisches Pferd’ in den Festungsmauern der eigenen Position. Wer ‚Evangelisierung’ sagt, muss nämlich auch ‚Selbstevangelisierung’ sagen.
Da die Kirche selbst dem Evangelium immer wieder im Wege steht und aufgrund von sexuellem und geistlichem Machtmissbrauch in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform das wohl größte Evangelisierungshindernis darstellt, muss sie – angesichts ihrer missbrauchsbedingten Glaubwürdigkeitskrise – zunächst mit der eigenen Evangelisierung beginnen. Denn Evangelisierung ist keine Einbahnstraße: „Evangelisiert werden immer beide oder niemand: die Welt und die Kirche, die Hörer und die Prediger, die Kranken und die Gesunden, die Laien und die Bischöfe, die Zweifelnden und die Glaubenden.“[7]
Selbstevangelisierung der Kirche
Bereits auf der Bischofssynode 1974 („Evangelisierung in der Welt von heute“) hieß es von der Kirche: „Vor allem muss sie sich selbst den Vorgaben des Evangeliums konform umgestalten und sich unablässig so erneuern und reformieren, dass sie wirksames Werkzeug der Evangelisierung von anderen wird. Dieser Vorgang der Selbstevangelisierung und der Selbsterneuerung ist ein dauerhafter Prozess, der eine ständige Selbsterforschung erfordert und zu einer tiefgreifenden Umkehr drängt.“[8]
Papst Paul VI. übernahm dieses Motiv in seinem noch immer wichtigen nachsynodalen Schreiben Evangelii nuntiandi: „Die Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren. […] Das Zweite Vatikanische Konzil hat daran erinnert, und auch die Synode von 1974 hat dieses Thema von der Kirche, die sich durch eine beständige Bekehrung und Erneuerung selbst evangelisiert, um die Welt glaubwürdig zu evangelisieren, mit Nachdruck aufgegriffen.“[9]
Künstlicher Gegensatz
Wenn Papst Franziskus in seinem Brief an das Volk Gottes in Deutschland nicht nur die Evangelisierung als das Hauptziel des ‚Synodalen Weges’ herausstreicht, sondern dabei auch genau diese Worte Pauls VI. zitiert, dann ist der entsprechende ‚Primat der Evangelisierung’ auch im Sinne einer conversión pastoral[10] zu verstehen, die zunächst die Kirche selbst evangeliumsgemäßer gestaltet.
Diese päpstliche Zielbestimmung wird jedoch seither immer wieder in einen künstlichen Gegensatz zu den vier Themenforen des ‚Synodalen Weges’ gesetzt: Macht und Gewaltenteilung, Sexualmoral, Priesterliche Lebensform, Frauen in Diensten und Ämtern. Eine altbekannte Beschwichtigungsformel: Viel wichtiger als innerkirchliche Strukturfragen seien die ‚eigentlichen’ Glaubensinhalte. Es sei keine Zeit für binnenkirchliche Nabelschau, man müsse jetzt alles an die Missionsfront werfen.
Kirchliche Verdunklungsgefahr
Darauf kann man eigentlich nur antworten: Strukturfragen reflektieren Glaubensinhalte – oder sie sind nicht evangeliumsgemäß. Das größte Missionshindernis überhaupt ist eine Kirche, deren äußere Gestalt permanent ein Zeugnis wider das Evangelium darstellt, weil sie der jesuanischen Frohbotschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft (und eben nicht: Männer- oder Klerikerherrschaft) widerspricht.
Eine solche Kirche verdunkelt die Botschaft des Evangeliums bereits in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese kirchliche ‚Verdunklungsgefahr’ in seiner Pastoralkonstitution klar benannt: „Die Gläubigen können […] durch […] die […] Mängel ihres eigenen religiösen Lebens das wahre Antlitz Gottes […] eher verhüllen als offenbaren [potius velare quam revelare].“ (GS 9).
Wer sich dem ‚Eigentlichen’, also dem Evangelium Jesu, aussetzt, landet daher unweigerlich auch bei kirchlichen Strukturfragen. Sie sind keine nachrangigen Binnenprobleme – wer nicht nur ‚drinnen daheim’, sondern auch ‚draußen zuhause’ ist und sich im kirchlichen Außen entsprechenden Fragen stellt, weiß das. Kirchenkrise und Gotteskrise dürfen daher auch nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn, kurz und knapp gesagt: Klerikaler Machtmissbrauch ist strukturelle Sünde[11]. Oder positiv formuliert: Kirchenreform ist Gotteszeugnis[12].
Klerikalismus vs. Synodalität
Kaum ein Papst bisher hat den innerkirchlichen Klerikalismus derart vehement kritisiert wie Franziskus. Und selten zuvor hat sich ein Papst so entschieden für einen synodalen Kirchenumbau ausgesprochen. Mit seinem vehementen Eintreten gegen Klerikalismus bzw. für mehr Synodalität kratzt er dabei nicht nur an der institutionellen Oberfläche von Kirche, sondern geht vielmehr an ihre Wurzel: zurück zum Evangelium. Die synodale Kirche, die ihm dabei vorzuschweben scheint, erinnert an seine eigene Ordensgemeinschaft: die Gesellschaft Jesu.
Für den Jesuiten Franziskus ist die ganze Kirche nämlich eine Societas Jesu[13] – eine im Wortsinn ‚synodale’ Weggemeinschaft, in der alle Beteiligten vor allem anderen sociae und socii Jesu sind: Gefährtinnen und Gefährten, die in der einen Nachfolge ihres Herrn die solidarische Weggemeinschaft mit allen Menschen guten Willens suchen (IHS: Iesum habemus socium). Es geht dem Papst um eine postklerikale Kirche, die auf gemeinsamem Weg („syn-odos“) zurückfindet in die jesuanische Spur des Evangeliums. Synodalität, das „gemeinsame Vorangehen“[14] aller auf dem Weg der Nachfolge Jesu, ist das Gegenteil von Klerikalismus.
Keine Tautologie
Synodaler Weg – dieser Begriff ist daher, anders als so mancher bischöflicher Kritiker[15] meint, auch keine Tautologie. Er sagt also nicht mit verschieden Worten zweimal dasselbe. Denn nur das griechische Wort odos ist ‚der Weg’ – ein syn-odos jedoch, ein ‚gemeinsam beschrittener bzw. miteinander geteilter Weg’, ist in einer Kirche wie der katholischen alles andere als selbstverständlich. Das ‚Normale’ wäre in diesem Zusammenhang ein hierarchischer, nichtsynodaler Weg.
Bereits das Zweite Vatikanum jedoch hatte die kirchlichen Dinge wieder vom Kopf auf die Füße gestellt, indem es in Lumen gentium, seiner ersten Kirchenkonstitution, das zweite Kapitel („Das Volk Gottes“) – nach langer Diskussion und in einem bewussten lehrmäßigen Akt – vor das ursprünglich vorangestellte dritte Kapitel („Die hierarchische Verfassung der Kirche“) gezogen hat. Das heißt: Die Hierarchie ist von nun an vom übrigen Volk Gottes her zu verstehen und nicht umgekehrt.
Koopernikanische Wende
Kardinal Suenens, einer der vier Moderatoren des Konzils, sprach in diesem Zusammenhang von einer „kopernikanischen Wende“[16] in der konziliaren Ekklesiologie. Papst Franziskus über die Konsequenzen für die pastorale Welt-Mission der Kirche: „Dieser Weg, der vor über fünfzig Jahren begann, spornt uns weiterhin zu seiner Rezeption und Weiterentwicklung an und ist jedenfalls noch nicht an seinem Ende angelangt, insbesondere bezüglich der Synodalität, die berufen ist, sich auf den verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens zu entfalten […].“[17]
Innerkirchlicher Tribalismus
Schon ein kursorischer Blick auf entsprechende Webseiten (mit offenbar besten Kontakten in römische Kreise) macht die Dringlichkeit eines ‚Synodalen Weges’ sichtbar, der auch innerkirchliche Diskursverweigerer einlädt (wenn sie dafür überhaupt ansprechbar sind): Nicht nur unsere westlichen Gesellschaften, sondern auch die katholische Kirche besteht aus verfeindeten Stämmen („tribes“), deren Echokammern kaum noch alltagsweltliche Berührungspunkte aufweisen.
Die Sprache auf der reaktionären Seite des Spektrums ist erkennbar verroht und kippt gerade in einen kirchenintern bislang ungekannten hate speech (z. B. in Aufrufen, für den baldigen Tod von Papst Franziskus zu beten) – und zwar in einem Tonfall, den sich die innerkirchliche Gegenseite während der Pontifikate der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in dieser gehässigen Weise wohl nie erlaubt hätte.
Die politische und die religiöse Rechte berühren sich hier (Stichworte: Gendergerechtigkeit, Migrationsfragen, Klimaschutz), auch interkonfessionell und interreligiös. Sie besteht zum Teil sogar aus denselben Personen, die sowohl gegen Papst Franziskus agitieren als auch gegen Greta Thunberg[18], sowohl den innerkirchlichen Reformbedarf leugnen als auch die weltweite Klimakatastrophe: Les extrêmes se touchent.
Fähigkeit zu reflexiver Selbstdifferenz
Diese zunehmende Tribalisierung kirchlicher Binnenmilieus gibt Anlass zur Sorge. Denn sie offenbart eine erschreckende fehlende geistliche Reife vieler Beteiligter. Eine gereifte christliche Spiritualität nämlich kann sich zu sich selbst noch einmal verhalten. Diese Fähigkeit zur reflexiven Selbstdifferenz im Spirituellen ist ein wesentlicher Abgrenzungsfaktor von fundamentalistischen Glaubensformen.
Dabei geht es darum, Gott tatsächlich größer sein zu lassen als die eigenen kirchenpolitischen Ansichten und alle zwischenmenschlichen Differenzen. Unterhalb dieser Komplexität kann man nicht katholisch sein. Mit zwei der wohl wichtigsten Konzilstheologen, M.-Dominique Chenu und Karl Rahner, lässt sich diese spirituelle Herausforderung theologisch weiterführend bearbeiten.
Gott ist immer größer
Der französische Dominikaner Chenu benennt drei „Gesetze des Dialogs“[19], die auch den deutschen ‚Synodalen Weg’ in diesem Sinne en profondeur du mystère führen könnten: „Erstens, die Etappe des Lächelns: Ich begegne meinem Partner mit Wohlwollen. […]. Zweite Etappe: In dem Maß, in dem sich der Dialog entwickelt, gewinne ich Einsicht in die Gründe des anderen. […] Schließlich die dritte Etappe: Im Wissen um den Anderen und um seine Gründe stelle ich mich selbst in Frage. […] Es ist sehr schwer, so weit zu gehen. Aber ohne diesen Schritt gibt es keinen echten Dialog. […] Es gehört […] zum Glauben […], sich selbst zu hinterfragen. Denn er wird dem Mysterium niemals voll entsprechen und muss sich im Angesicht des ‚unbekannten Gottes’ […] befragen.“[20]
Unbegreiflichkeit Gottes
Im Sinne dieser Gesetzmäßigkeiten eines Dialogs, der sich selbst in Richtung eines Deus semper maior überschreitet, vermochte es das Konzil, die eigenen kommunikativen Differenzen in einem weiteren Horizont verorten. Es war nach Gott hin offen, denn es gründete – so der Jesuit Rahner in einem Artikel Über die kollektive Findung der Wahrheit – auf einem „in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein sich verlierenden Glaubensbekenntnis als dem Fundament, von dem aus jeder um die neue kollektive Wahrheitsfindung mit den anderen zusammen sich bemüht.“[21]
Bischof Franz-Josef Bode wies vor kurzem in eine ganz ähnliche Richtung, als er in seiner Predigt auf der Sitzung der Gemeinsamen Konferenz von DBK und ZDK zur Beratung des weiteren Vorgehens am 14. September 2019 sagte: „Nur so geschieht Evangelisierung im Sinn der ganzen Kirche, indem wir synodal […] gemeinsam den Blick auf den Größeren richten, gemeinsam darum ringen, was Gott von uns will, und was nicht nur von Alleswissern und Besserwissern ausgedacht ist.“[22]
Synodale Spiritualität
Sucht man nach einer entsprechend realistischen, auch im Konfliktfall tragfähigen Spiritualität, so finden sich im kontrastiv-polaren Denken von Papst Franziskus einige wertvolle Anregungen. Kurz nach seiner Wahl bemerkte er im Gespräch mit Antonio Spadaro: „Wir müssen vereint in den Unterschieden vorangehen. Es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.“[24]
Für das ‚synodale’ Gehen dieses Jesus-Weges gilt Papst Franziskus zufolge: „Miteinander in Dialog treten heißt nicht, auf die eigenen Vorstellungen und Traditionen verzichten, sondern auf den Anspruch, dass sie die einzigen und absolut seien.“[25] Wer dieselbe Einsicht lieber aus der Feder des emeritierten Papstes Benedikt liest: „Die Wahrheit kann sich nur in der Beziehung zum anderen entwickeln, die auf Gott hin öffnet, der seine eigene Andersheit durch meine Mitmenschen und in ihnen zu erkennen geben will. So ist es unangebracht, in ausschließender Weise zu behaupten: ‚Ich besitze die Wahrheit’.“[26]
Komplexität, nicht Koinzidenz
In seiner großartigen Biografia intellettuale[27] von Papst Franziskus zeichnet Massimo Borghesi ein intellektuelles Profil Bergoglios, das dessen differenztaugliches (und somit: höchst gegenwartsfähiges) Denken portraitiert. Es sei kein frömmlerisch-spiritualisierendes „pensiero irenico“[28], sondern vielmehr ein spirituell-realistisches „pensiero drammatico“[29], das sich in einem von „tiefgreifenden Kontrasten gekennzeichneten Horizont”[30] bewege und kontrastive Diskurse in öffnender Weise auf eine „höhere Ebene“[31] hebe: „Der einzige Weg, um aus der historischen Polarisierung herauszukommen, ist für einen Christen, der Ignatius folgt, die Akzeptanz des ‚immer größeren Gottes’ […].“[32]
Diese Hinordnung auf den je größeren Gott ermöglicht eine contrapposizione verschiedener Standpunkte im Rahmen einer dialettica polare, welche die „Kontraste nicht auslöscht, sondern ihre Absolutsetzung verhindert“[33]. Für Papst Franziskus ist die katholische Kirche eine complexio oppositorum, deren „realitas complexa“ (LG 8) ein entsprechendes „dialektisches Denken“[34] erfordert, das mit Henri de Lubac nach der „paradoxalen Einheit“[35] der Kirche fragt: „Birgt das Aufeinandertreffen der opposita nicht in sich die Einheit einer complexio?“[36]
Dialektik ohne Synthese
Henri de Lubac zufolge ist dieses grundlegende Paradox der Kirche eine „Rückseite, deren Vorderseite die Synthese wäre“[37], wobei die „Gegensätze im Denken“[38] eine Geschichte vorantreiben, die „versucht, sie zu übersteigen, ohne dass ihr dies gelänge“[39]. Denn eine dauerhafte Aufhebung geschichtlicher Kontraste kann es nur „auf der Ebene der Gnade, nicht der Natur“[40] geben. Diese angestrebte ‚Synthese’ ist jedoch nicht im Sinne des hegelianischen Weltgeistes zu verstehen, der sich über These und Antithese zu immer neuen Höhen emporschwingt und dabei alle geschichtlichen Differenzen in sich aufhebt.
Jede noch so wohlmeinend angestrebte Synthese steht daher eschatologisch offen: einen Zusammenfall der Gegensätze („coincidentia oppositorum“) kann es letztlich nur in Gott selbst geben. Complexio und coincidentia sind unter irdischen Verhältnissen durch einen garstig breiten Graben dauerhaft voneinander getrennt. Und eine innerweltliche ‚Synthese’ der Gegensätze kann nur angezielt und möglicherweise punktuell erfahren, nie aber voll verwirklicht werden.
Romano Guardini: Der Gegensatz
Eine wichtige Rolle spielen für Papst Franziskus in diesem Zusammenhang jesuitische Mitbrüder wie Gaston Fessard SJ (1897-1978) mit seiner ignatianischen Dialektik („Le Dialectique des ‚Exercises spirituels’ de Saint Ignace de Loyola“) oder Erich Przywara SJ (1889-1972) mit seiner polaren Analogik („katholischer Philosoph der Polarität“[41]), aber auch der „dialektische Thomist“[42] Alberto Methol Ferré (1929-2009). All diese Fäden liefen in Bergoglios 1986 begonnenem Dissertationsprojekt zusammen: „Der polare Gegensatz als Struktur des alltäglichen Denkens und der christlichen Verkündigung“[43]
Im Zentrum dieses Projekts stand ein Buch Romano Guardinis aus der Zwischenkriegszeit: Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten aus dem Jahr 1925. Konkrete Differenzen des Lebens bilden in diesem „polaren ‚Denksystem’“[44] transzendentale Spannungseinheiten, deren komplementäre Gegensätze, so Bergoglio, in struktureller Hinsicht „ungetrennt und unvermischt“[45] zu denken sind: Idee und Realität, Raum und Zeit, Einheit und Vielheit.
Lebendige Spannungen
Guardini (und mit ihm auch Papst Franziskus) ist damit Teil einer „katholisch-dialektischen Strömung“[46], welche die komplementären Gegensätze von Differenzen nicht als destruktive Gefährdung des Bestehenden, sondern als produktiven Treibsatz des Kommenden begreift. In seinem Brief an das Volk Gottes in Deutschland spricht der Papst denn auch von Spannungen, die „neues Leben verheißen“[47].
Diese spirituellen und theologischen Grundeinsichten haben Konsequenzen für einen differenzsensiblen päpstlichen Leitungsstil. So wollte bereits Paul VI., nicht nur als Begründer der römischen Bischofssynoden ein erklärtes Vorbild von Papst Franziskus, „nicht einfach durchregieren [governare], sondern einen sondern einen Dialog in Gang setzen mit allen, die […] das ‚Andere’ repräsentieren.“[48]
Wo produktive Differenzen möglich sind, entsteht ein Raum der Freiheit. Man kann wählen und eigene Optionen treffen. Kreativität ist möglich und im diskursiven Ringen um einen gemeinsamen Weg wird möglicherweise ein Drittes greifbar, das sich dia logou zeigt: im offenen, freimütigen und daher immer auch riskanten ‚Dialog’. Dabei geht es dann wie in der ‚Medi-ation’ darum, eine gemeinsame Mitte zu finden: eine media res. Diese ist eben keine hegelianische Aufhebung von Differenzen auf einer höheren Ebene, sondern vielmehr die gemeinsame Entdeckung von etwas noch nicht Dagewesenem. Im Fall des Gelingens entsteht dann etwas Neues, das bestenfalls von allen Beteiligten geteilt wird.
Resümee: Nicht ohne die Anderen
Das letzte Wort dieser Überlegungen zum ‚Synodalen Weg’ soll ein weiterer jesuitischer Denker haben, der von Papst Franziskus zusammen mit Henri de Lubac SJ (1896-1991) „besonders geschätzt“[49] wird: Michel de Certeau SJ (1925-1986), der gerade vom kulturwissenschaftlichen Geheimtipp zur theologischen Pflichtlektüre avanciert[50]. Diese beiden französischen Jesuiten sprachen nicht nur immer wieder von der Kirche als einer complexio oppositorum, sie entzweiten sich vielmehr 1971 anlässlich von Certeaus Text Rupture instauratice und markieren auf diese Weise auch selbst einen innerkirchlich ‚gründenden Bruch’.
Alteritärer Dreischritt
Der für den ‚Synodalen Weg’ wesentliche Grundgedanke Certeaus besteht in einem alteritären Dreischritt:
- Der Andere fehlt mir („manque“).
- Es geht nicht ohne ihn („sans pas“).
- Weder er noch ich ‚haben‘ die volle Wahrheit („ni… ni“).
Die doppelt verneinende Logik dieses alteritären „Weder – noch“[51] lässt nicht nur jedes identitäre „Entweder – oder“[52] hinter sich, sondern auch jedes triviale „Sowohl – als auch“[53]. Damit hält sie auch die ‚synodale’ Wegsuche einer mit sich selbst widerstreitenden Kirche prinzipiell offen. Denn sie bedeutet weder „Entweder du hast recht oder ich“ noch „Sowohl du hast recht als auch ich“, sondern vielmehr: „Weder Du hast völlig recht noch ich, denn Gott ist ohnehin viel größer.“
Es fehlen die Anderen
In diese Richtung einer „gegenstrebigen Fügung“[54], die ins unendliche Geheimnis Gottes hinein geöffnet ist, können komplementäre Dichotomien überschritten werden – und es ergibt sich der Raum eines bislang ausgeschlossenen ‚Dritten’. Dieses jedoch erschließt sich „nicht ohne“[55] die Anderen: „Jede Gestalt von Autorität […] ist markiert von der Abwesenheit dessen, was sie begründet. Sei es die Schrift, die Traditionen, das Konzil, der Papst oder um alle anderen, was sie erlaubt, das fehlt ihr. […] In ihrer jeweiligen Eigenschaft reichen weder der Papst, noch die Schrift, noch diese oder jene Tradition aus: ihr fehlen die anderen.“[56]
Erst im Gehen eines wirklich ‚synodalen’ Weges kann sich die innerkirchliche Tragweite dieser Überlegungen erweisen. Auch ein robuster, gut moderierter Dialogprozess verträgt keine fundamentalistischen Diskursverweigerer, die mit alldem nichts anzufangen wissen. Und er braucht die Unterstützung aller skeptisch Beobachtenden. Um zu sehen, wohin dieser ‚Synodale Weg’ führt, muss man ihn gehen.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik in Innsbruck, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
Bildquelle: Pixabay
[1] Vgl. http://document.kathtube.com/48595.pdf.
[2] Vgl. https://www.feinschwarz.net/kirchenreform-jetzt-der-katholische-mainstream-begehrt-auf/.
[3] Vgl. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2019/2019-09-04-Schreiben-Rom-mit-Anlage-dt-Uebersetzung.pdf.
[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/marx-weist-roemischen-kardinal-in-die-schranken-16384249.html.
[5] Vgl. https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/synodaler-weg-der-kirche-in-deutschland/detail/.
[6] Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 9 (vgl. https://www.kath.net/news/mobile/69115). Zum Hintergrund unterschiedlicher Begriffe der (Neu-)Evangelisierung siehe Christian Bauer: Vom Lehren zum Hören? Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte im Übergang vom Ersten zum Zweiten Vatikanum, in: Julia Knop/Michael Seewald (Hg.): Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, im Druck.
[7] Rolf Zerfaß: Was sind letztlich unsere Ziele? Pastoralpsychologische Thesen zur Motivationskrise in der Pastoral der Kirchenfremden, in: Katholische Glaubensinformation (Hg.): Erfahrungen mit Randchristen. Neue Horizonte für die Seelsorge, Freiburg 1985, 43-64, hier: 53f; 59.
[8] Zit. nach Giovanni Caprile: Il sinodo die vescovi 1974. Terza assemblea generale, Vatikan 1975, 938.
[9] EN 15 (zit. in Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 7).
[10] Vgl. expl. Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 6.
[11] Vgl. Christian Bauer: Macht in der Kirche. Für einen postklerikalen, synodalen Aufbruch, in: Stimmen der Zeit (2019), 531-543.
[12] Vgl. Christian Bauer/Maria Mesrian: Kirchenreform JETZT. Der katholische Mainstream begehrt auf, www.feinschwarz.net (8. Juni 2019).
[13] Vgl. Christian Bauer: Kirche als Societas Jesu. Mit Papst Franziskus auf die Spur der Nachfolge, in: Paul M. Zulehner/Tomas Halik (Hg.): Rückenwind für den Papst. Warum wir Pro Pope Francis sind, Darmstadt 2018, 120-127.
[14] Papst Franziskus: Ansprache zu Beginn der Jugendsynode (3.10.2018), auf: Vatican.va, vgl. ‹http://w2.vatican.va/content/ francesco/de/speeches/2018/october/documents/papafrancesco_20181003_apertura-sinodo.html›.
[15] https://www.katholisch.de/artikel/21778-bischof-zdarsa-synodaler-weg-ist-etikettenschwindel
[16] Leon Suenens: Eröffnungsrede, in: Die Zukunft der Kirche. Berichtband des Concilium-Kongresses, Mainz 1971, 30-40, hier: 32.
[17] Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 9.
[18] https://katholisches.info/2019/04/17/klima-greta-auf-dem-petersplatz/.
[19] M.-Dominique Chenu: Un théologien en liberté. Jacques Duquesne interroge le Père Chenu, Paris 1975, 168.
[20] Chenu: Un théologien en liberté, 169.
[21] Karl Rahner: Kleines Fragment ‚Über die kollektive Findung der Wahrheit’, in Ders.: Schriften zur Theologie VI, Einsiedeln 1965, 104–120, hier: 105.
[22] https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2019/2019-143a-Erw.-Gemeinsame-Konferenz_Predigt-Bischof-Bode.pdf
[23] Vgl. Massimo Borghesi: Jorge Mario Bergoglio. Una biografia intellettuale: Dialettica e mistica, Mailand 22018, 107.
[24] Papst Franziskus: Gespräch mit Antonio Spadaro, http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/on line_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906433.
[26] Papst Benedikt XVI.: Ecclesia in medio oriente, Nr. 27.
[27] Massimo Borghesi: Jorge Mario Bergoglio. Una biografia intellettuale: Dialettica e mistica, Mailand 22018.
[28] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 23.
[29] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 23.
[30] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 29.
[31] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 82.
[32] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 79.
[33] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 80.
[34] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 89.
[35] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 96.
[36] Henri de Lubac, zit. nach Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 96.
[37] Henri de Lubac: Glaubesparadoxe. Übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1972, 7.
[38] Lubac: Glaubesparadoxe, 8.
[39] Lubac: Glaubesparadoxe, 8.
[40] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 292.
[41] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 92.
[42] Vgl. Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 103.
[43] Papst Franziskus, zit nach Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 120.
[44] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 123.
[45] Jorge Mario Bergoglio, zit. nach Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 123.
[46] Borghesi: Jorge Mario Bergoglio.
[47] Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 5. In ähnlicher Weise hatte bereits Chenu die innerkirchlichen Auseinandersetzungen um den Modernismus als eine notwendige „Wachstumskrise“ (M.-Dominique Chenu: Une école de théologie: Le Saulchoir, Paris 1985 [Neuausgabe], 117) gedeutet.
[48] Romano Guardini in der Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Jean Guitton und Papst Paul VI. (zit. nach Borghesi: Jorge Mario Bergoglio, 122). Papst Paul VI. wäre an dem Versuch, die dabei zutage tretenden Spannungen der Kirche innerhalb der eigenen Person zusammenzuhalten, fast zerbrochen. Ein älterer Ordensmann der Diözese Limburg berichtete mir einmal von einer Begegnung, in der Paul VI. gesagt habe, es sei seine Aufgabe, auf dem Weg der Kirche darauf zu achten, dass die hinten Laufenden nicht zurückbleiben und die Vorangehenden nicht auf der Stelle treten. Daher werde er wohl als ein wankelmütiger Papst in die Geschichte eingehen (Stichwort: amletismo), weil er bei den einen wie bei den anderen sein müsse.
[49] Papst Franziskus: Gespräch mit Antonio Spadaro, Online-Ressource ohne Seitenzahl.
[50] Vgl. Christian Bauer/Marco Sorace (Hg.): Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019.
[51] Michel de Certeau: La faiblesse de croire, Paris 1987, 223. Diese doppelte Verneinung entspricht der via eminentiae des Thomas von Aquin, derzufolge Gott beispielsweise weder weise („via positionis“) noch nicht weise („via negationis“) nach Menschenart ist, sondern vielmehr in einem eigenen Modus „überweise“ (De potentia, q. 7 a. 5 ad 2/ad 14).
[52] Certeau: La faiblesse de croire, 223.
[53] Certeau: La faiblesse de croire, 223.
[54] Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, Untertitel.
[55] Vgl. Certeau: La faiblesse de croire, 112f; 213f (mit Verweis auf Martin Heidegger). Vgl. https://www.feinschwarz.net/200-jahre-katholische-theologie-in-tuebingen/ zu der von Michael Schüßler/Tübingen verdichteten Kurzformel „Nicht ohne die Anderen“.
[56] Certeau: La faiblesse de croire, 215.