Leopold Neuhold beschäftigt sich seit langem mit der Ethik im Sport – ein Kenner des Fußballs ist er außerdem. Ein feinschwarz.net Beitrag angesichts Blatter, Plattini, FIFA und all der anderen…
Es war am 4. November 2015, damals, als alle Dimensionen des Skandals, Korruption, „Kauf“ von Weltmeisterschaften und dergleichen, noch gar nicht in der ganzen Tragweite abschätzbar waren. Matthias Sammer, Sportvorstand des FC Bayern München, antwortete in der Kleinen Zeitung auf die Frage von Michael Lorber: „Wie sehr schadet es dem Fußball, wenn von Blatter, Platini, Beckenbauer bis hin zum Sommermärchen immer wieder Skandalgeschichten publik werden?“: „Wo viele materielle Mittel zur Verfügung stehen, ist manchmal Unanständigkeit dabei. Es muss alles aufgeklärt und möglicherweise bestraft werden. Aber der Ball wird und muss weiterrollen. Die Verantwortung des Balls gegenüber denen, die das Spiel lieben, ist größer als die Bestandteile, die sich derzeit darstellen. Die Historie und Dynamik des Balls ist unverwüstlich.“[1]
Die Verantwortung des Balls gegenüber denen, die das Spiel lieben, ist größer … (M. Sammer).
Das Geschäft, das um und mit Fußball gemacht wird, stellt also nach Sammer einen der Faktoren in Bezug auf moralische Fehlentwicklungen im Fußball dar. Geld schießt Gott sei Dank noch immer keine Tore, aber es macht das Toreschießen leichter, verleitet manchmal dazu, welche zuzulassen, oder wird zur Grundlage dafür gemacht, dass zu gewissen Anlässen überhaupt Tore geschossen werden können. Es geht bei Welt- oder Europameisterschaften um zu viel Geld, das dann auf allen Seiten – bei Veranstaltern wie bei jenen, welche die Veranstaltungsorte bestimmen – nur zu leicht zu unmoralischen Angeboten führt, denen man sich auf Grund der Höhe der Summen und auf Grund der Bedeutung des Fußballs nur schwer entziehen kann.
Es wäre naiv, die Verbindung von Fußball und Geld zu beklagen: Fußball ist auch Geschäft, und Geschäft eine Grundlage für ein Fußballspiel, das auch materielle Voraussetzungen hat. Aber es wird ethisch bedenklich, wenn nicht das Spiel das Ziel ist, sondern in erster Linie Geld und jene Macht, die mit und durch das Spiel geschaffen werden sollen. Unter dem Einfluss eines zum Ziel gewordenen Mittels wird der Mensch sich selbst entfremdet, diese Analyse von Papst Johannes Paul II.[2] zeigt sich auch im Fußball.
Unter dem Einfluss eines zum Ziel gewordenen Mittels wird der Mensch sich selbst entfremdet, diese Analyse von Papst Johannes Paul II. zeigt sich auch im Fußball.
Geld muss den Charakter nicht immer verderben – und es macht es auch nicht immer – , aber es ebnet in der Höhe der Summe oft die Bahn dazu, vor allem dann, wenn die Organisationsform nicht dazu ausgelegt ist, mit der Höhe der Geldsumme, um die es im heutigen Fußball geht, verantwortlich umzugehen.
Als gemeinnütziger Verein errichtet, ist die Organisationsform der FIFA, die ein Weltkonzern geworden ist, nicht eben dazu prädestiniert, mit Milliardenbeträgen zu jonglieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor zu sein. Aus Gemeinnützigkeit droht dann nur zu leicht und zu schnell „Selbstdienlichkeit“ in Eigennützigkeit zu werden. Insgesamt ist im Fußball zu viel Geld im Spiel, sodass die Gefahr besteht, dass das Geld mit dem Fußball spielt. In kabarettistischer Verkürzung gesagt: Für die 6,7 Millionen Euro, um die es aktuell beim Deutschen Fußballbund geht, muss mancher Fußballspieler ein paar Wochen „arbeiten“.
Wenn die Ethikkommission der FIFA, errichtet als Rechtsorgan im Jahre 2006, an die Treuepflicht der FIFA gegenüber gebunden ist, ist das nicht die beste Voraussetzung für ein schnelles und effektives Handeln, wenn es um Bekämpfung von Korruption geht. Inga Tomantschger schreibt dazu, dies bringe „diejenigen Personen, die unethisches Verhalten innerhalb der FIFA bemerken und melden wollen, in eine unangenehme Lage (…). Wenn sie unethisches Verhalten melden, dann widersprechen sie dem Reglement, wenn sie schweigen, widersprechen sie dem Reglement ebenfalls. Das ist eindeutig eine Schwäche des Reglements“. Dies erklärt auch das stark verzögerte Vorgehen der Ethikkommission und vielleicht auch die „Totalanklagen“ als Reaktion des schlechten Gewissens. Bei Ethikkommissionen und ähnlichen Einrichtungen muss man also immer auf die strukturelle Einbettung achten.
Dies erklärt das stark verzögerte Vorgehen der Ethikkommission und auch die „Totalanklagen“ als Reaktion des schlechten Gewissens.
Fußball in seiner Breitenwirksamkeit und als ein wesentlicher Zweig der Freizeitindustrie steht also in der realen Gefahr, für das Geld funktionalisiert zu werden. Was für das Blühen von Korruption besonders zu bedenken ist: In der Betonung der besonderen Bedeutung und der Stellung des Fußballs als wichtigster Nebensache liegt die Möglichkeit, ihn zur Hauptsache in Bezug auf Geldverdienen zu missbrauchen.
In der Betonung der besonderen Bedeutung des Fußballs als wichtigster Nebensache liegt die Möglichkeit, ihn zur Hauptsache in Bezug auf Geldverdienen zu missbrauchen.
Für diesen Missbrauch wird dann oft auch die Ethik bemüht. Ethik darf sich lohnen, es wird aber problematisch, wenn man nur dann Ethik gelten lässt, wenn sie sich lohnt.
Damit kommen wir zum zweiten Punkt, den Matthias Sammer anspricht; die „Verantwortung des Balls“ und die „Historie und Dynamik des Balls“ als etwas Unverwüstliches. Sammer hat Recht, Fußball ist ein wunderbares Spiel, das eine Eigendynamik entwickeln kann und entwickelt. Es ist aber problematisch, das Spiel so zu überhöhen, dass ihm eine abgehobene und nicht hinterfragbare Bestimmung zugesprochen wird.
Es ist problematisch, das Spiel so zu überhöhen, dass ihm eine nicht hinterfragbare Bestimmung zugesprochen wird.
Fußball wird damit in religiöse Sphären versetzt, was ihn unkritisierbar machen soll und ihn in sich legitimiert sehen lassen will. Fußball wird dann quasi personifiziert, die Interessen des Fußballs gleichsam von den Interessen von Spielern oder Zuschauern abgekoppelt, indem deren Interessen wenigstens zum Teil ausgeklammert oder wenigstens dem Spiel untergeordnet werden. Der Ball bekommt dann Verantwortung, es fragt sich nur, wie er sie wahrnehmen soll. Es gilt, sich dem Fußball unterzuordnen: dem Fußball, aber welchem? Dem, den andere um Geld spielen oder dem, der mir beim Spiel Freude macht, um nur eine Alternative zu nennen?
Man geht sozusagen von einer unantastbaren „Wesenheit“ des Fußballs aus, der gedient werden muss. In den 10 Geboten des Fußballs, dem FIFA Code of Conduct, meines Erachtens bewusst im Anklang an die 10 Gebote und damit als quasi religiös formuliert, lautet dann etwa das 6. Gebot: „Promote the Interests of Football“ (Fördern sie die Interessen des Fußballs) oder das 9. Gebot: „Denounce Those who Attempt to Discredit our Sport“ (Zeigen Sie die an, die versuchen, unserer Sportart zu diskreditieren) und das 10. Gebot: „Honour Those who Defend Football’s Good Reputation“ (Ehren Sie jene, welche den guten Ruf des Fußballs verteidigen.)[4]
Man geht von einer unantastbaren „Wesenheit“ des Fußballs aus, der gedient werden muss.
Was sind die Interessen des Fußballs, die es zu verteidigen gilt? Der Fußball hat keine Interessen, sondern Menschen verbinden mit dem Fußball Interessen. Der Trick besteht darin, die Interessen des Fußballs als unantastbar in die religiöse Sphäre zu rücken, um dann mit Verbandsmacht oder politischer Macht ausgestattet, die eigenen Interessen unkontrolliert, weil als Interessen des Fußballs deklariert, durchsetzen zu können.
Zu diesem Zweck wird der Fußball oft „religiös verkleidet“, nämlich um die eigene Macht zur Geltung bringen zu können. Solches ist ja zum Teil mit der Ethikkommission der FIFA geschehen, wenn diese in den Dienst des Fußballs gestellt wird und im Fußball dann ihre Kontrolle haben soll, also den Fußball fördern soll, abgekoppelt von der Frage, wer denn die sind, die mit dem Fußball Interessen verbinden und die gerade kontrolliert werden sollen.
In der Betonung einer eigenen Wesenheit des Fußballs kommt es dann gerade zur Anbindung an ganz bestimmte Interessen, eine Anbindung, die aber verdeckt werden soll. In der Erklärung des Fußballs zur Religion entzieht man ihn den Interessen der anderen, um seine Interessen in dieser Verdeckung durchsetzen zu können. Im Einrücken des Fußballs in die religiöse Sphäre soll Fußball der Kritik entzogen werden, um damit die eigenen wirtschaftlichen oder Macht-Interessen nun unkontrolliert durchsetzen zu können.
In der Betonung einer eigener Wesenheit des Fußballs kommt es zur Anbindung an ganz bestimmte Interessen,
Was in solchen Macht- und Geldzusammenhängen fehlt, ist die ironische Brechung. Bill Shankly (1913-1981) schottischer Fußballspieler und –trainer sagte einmal: „Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“[5] Als Spiel ist Fußball aber der letzten Ernsthaftigkeit in Bezug auf Existenz entzogen. Um es mit Peter Eicher, der dies im Blick auf Sport allgemein gesagt hat, auf den Fußball bezogen zu sagen: „Fußball ist irrelevanter Krieg“.
Fußball entzieht durch humanisierende Regeln dem Krieg die Relevanz. Es muss aber alles getan werden, um diese Irrelevanz in Bezug auf die menschliche Existenz zu erhalten. Dazu ist es notwendig, Fußball als wichtigste Nebensache zu relativieren und ihn derartig zu gestalten. Wird er zur Hauptsache, ist Korruption nicht weit. Ironische Brechung bedeutet das Herausnehmen des Fußballs aus dem Existenzsicherungszusammenhang, um ihn gerade dadurch in die Existenzentfaltung einbeziehen zu können.
Ironische Brechung bedeutet das Herausnehmen des Fußballs aus dem Existenzsicherungszusammenhang, um ihn dadurch in die Existenzentfaltung einbeziehen zu können.
Der Schriftsteller und Chefredakteur der Nouvelle Revue Française, Michel Crepu, hat versucht, die Botschaft der Terroristen, die sie mit ihren Anschlägen in Paris vermitteln wollen, zu dechiffrieren. Den Schlüssel dafür sieht er im Stade de France: „Der Fußball, das sind wir alle. Es war ein Angriff auf alle. Auf das Ganze. Das Ganze ist ihr Feind.“[6] Im Jänner mit den Angriffen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt waren es Signale in Richtung Bürgerkrieg gewesen, die die verschiedenen religiösen Gruppen in Frankreich gegeneinander aufhetzen sollten, jetzt ist aber der Angriffspunkt die ganze Gesellschaft, die sich im Fußball zeigt und in der angesichts des Spiels Gegnerschaft nur noch gebrochen durch den Spielbezug gilt. „Fußball-Wichtigkeiten. Nichtigkeiten.“[7]
Auf diese Kurzformel bringt Oliver Bierhoff, der Manager der deutschen Nationalmannschaft, seine Gefühle angesichts des Spieles Frankreich gegen Deutschland im Stade de France und der damit zusammenhängenden Anschläge. Mit Fußball kann man die ganze Gesellschaft treffen, aber er darf nie als gesamtes Leben ausgegeben werden. Dies kann nie eingelöst werden und zu viele eigene Interessen werden dahinter versteckt.
[1] „Kritik ist das größte Kompliment“. Interview von Michael Lorber mit Matthias Sammer, in: Kleine Zeitung, 4. November 2015, 50f.
[2] Vgl. die Enzyklika von Johannes Paul II. „Centesimus annus“ 1991, Nr. 41.
[3] Inga Tomantschger, Die FIFA als ein Global Player mit erweiterten Verantwortungsbereichen. Der Weltfußballverband und die Menschenrechte, Graz 2015 (Masterarbeit), 33.
[4] Zit. nach: http://www.fifa.com/about-fifa/news/y=2002/m=4/news=code-conduct-for-football-81746.html (abgerufen 25. 11. 2015)
[5] https://de.wikiquote.org/wiki/Bill_Shankly. Wikiquote nennt Sunday Times, 4. Oktober 1981 als Quelle.
[6] Michel Crépu zitiert nach: Raether, Elisabeth/Randow, Gero von, Jetzt also Krieg, in: Die Zeit, 19. November 2015, Nr. 47, 10f, 11.
[7] Bierhoff, Oliver, Vernunft ist stärker als Gefühl, in: Die Zeit, 19. November 2015, Nr. 47, 26.
(Leopold Neuhold; Bild: Rainer Sturm, pixelio.de)