Die Bahnhofkirche am Hauptbahnhof Zürich lädt Menschen unterschiedlicher Religionen, Konfessionen oder Bekenntnisse ein zum Innehalten. Rita Inderbitzin und Jeanine Kosch berichten über die Adventszeit an diesem Ort der Stille.
Immer wieder werden wir gefragt, ob wir im Dezember mehr Gespräche führen als in den übrigen Monaten. Diese Frage lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Jedes Jahr ist unterschiedlich und hält seine eigenen Überraschungen für uns bereit. Anders sieht es beim Raum der Stille aus. Dieser wird im Advent deutlich häufiger besucht als das Jahr hindurch.
Die Bahnhofkirche, auch Raum der Stille oder Kapelle genannt, steht für jede Frau, für Jedermann offen. Auf die interreligiöse Gastfreundschaft weisen die Symbole der fünf grossen Weltreligionen an der Eingangstüre und im Innern hin.
Die aufgeschlagene Bibel vorne im Raum (nicht auf dem Foto) und das Weihwasser beim Eingang sind in der Regel die einzigen christlichen bzw. katholischen Symbole. Es besteht die Möglichkeit Kerzen anzuzünden, wie es in katholischen Kirchen anzutreffen ist. Lichtrituale gibt es allerdings in allen Religionen und Kulturen. Das Anzünden einer Kerze wird geschätzt und spricht für sich. Wir wissen, dass es nicht nur KatholikInnen sind, die Kerzen anzünden. Der Gebetsteppich und die Qibla – die Markierung der Ausrichtung nach Mekka – am Boden weisen darauf hin, dass Muslimas und Muslime willkommen sind.
Im Advent nun ziert ein Adventskranz die Bahnhofkirche und ab dem 1. Advent stellen wir, wie jedes Jahr, auch eine Krippe auf. Diese Tradition gibt es, seit die Bahnhofkirche besteht. Jedes Jahr wird eine andere Krippe ausgewählt, sie kommt jeweils aus fernen Ländern, Kulturen oder hat eine besondere Entstehungsgeschichte. Wir beherbergten bereits Krippen aus Bolivien, Kamerun, Simbabwe, Taiwan, Philippinen und dem schweizerischen Kloster Fahr. Auch Schwarzenberger Figuren waren schon zu Gast.
Die Weihnachtskrippe lockt im Advent mehr Menschen in die Kapelle.
Es ist diese Tradition, die im Advent mehr Menschen in die Kapelle lockt. Grosseltern und Eltern besuchen mit Kindern die Krippe und staunen. Menschen die den Christkindlimarkt im Hauptbahnhof besuchen, machen ab und zu einen Zwischenhalt in der Bahnhofkirche. Ja, auch MarktfahrerInnen kommen für einen Moment der Stille vorbei. Es gibt einzelne Marktverkäufer, die uns finanziell unterstützen, einen „Batzen“ vorbeibringen oder auch Leckereien, die wir verteilen dürfen.
Eine Muslima – angesprochen auf die Krippe in der Kapelle – reagierte mit Verständnis: „Wir müssen einander doch respektieren, als Menschen und als Gläubige. Ich fühle mich in keiner Weise gestört durch die Krippe. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, hier am Bahnhof zu beten.“
Krippe aus Auschwitz
Wir sind gespannt, wie der Besuch der Kapelle in diesem Advent aussehen wird, denn dieses Jahr dürfen wir eine Krippe aus Auschwitz beherbergen. Sie wurde uns aus der Privatsammlung von Alois und Beatrice Zimmermann-Gehrig zur Verfügung gestellt.
Weshalb eine Auschwitz-Krippe? 2019 sind es 80 Jahre her, seit der 2. Weltkrieg begonnen wurde. Als die Alliierten das Konzentrationslager Auschwitz 1945 befreiten, begann Jan Staszak als Jugendlicher mit seinem Taschenmesser Holzfiguren zu schnitzen. Als Material verwendete er Holzresten – auch angesengte – aus dem zerstörten Lager Auschwitz. Mit diesen Arbeiten versuchte er, die schrecklichen Erlebnisse des Krieges zu verarbeiten. Später schnitzte er seine Figuren aus Holz von Bäumen, die im Lager wuchsen. Jan Staszak starb 1977.
Jesus liegt mit offenen Augen und ausgebreiteten Armen in seiner „Krippe“. Eine Krippe ist es kaum: Das Jesuskind liegt auf Steinen, umgeben von Stacheldraht. Dies ist bezeichnend für den Lebensweg Jesu. Wie viele Steine wurden ihm während seines Lebens in den Weg gelegt? Wie viele Menschen wollte er befreien aus ihren inneren Geflechten?
Maria und Josef stehen ebenfalls mit offenen Augen da. Ob sie ahnen, was mit ihrem Kind geschehen wird? Josef schaut skeptisch, Maria ist wohl etwas erschöpft von der Geburt. Und der Ochse weiss nicht, wie ihm geschieht. Alle schauen mit offenen Augen der Zukunft entgegen. Und irgendwie schwebt über der Szene auch eine gewisse Gelassenheit. Das ist nicht selbstverständlich, besonders wenn man den Ort und die Umstände der Entstehung der Figuren bedenkt.
die Gelassenheit der Krippenfiguren
Woher kommt die Gelassenheit der Krippenfiguren? Was hielt den Künstler davon ab zu verzweifeln? Wir wissen es nicht. Wir sind uns allerdings bewusst, weshalb wir Weihnachten feiern: Gott ist in unser Menschsein hineingeboren, um uns auch in unseren menschlichen Abgründen nahe zu sein. Das lässt uns mit offenen Augen durchs Leben gehen.
Zu dieser speziellen Krippe werden im Advent von der Bahnhofkirche auch Weg-Worte veröffentlicht. Wenn es auf diese werktäglichen Gedankenimpulse Reaktionen und Gespräche gibt, freuen wir uns. Ebenso freuen wir uns auf alle, die den Raum der Stille besuchen oder mit uns ins Gespräch kommen. Die aktuellen und auch frühere Weg-Worte sind auf unserer Homepage www.bahnhofkirche.ch nachzulesen.
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Rita Inderbitzin ist Seelsorgerin an der Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich.
Jeanine Kosch war Seelsorgerin an der Bahnhofkirche bis am 31.10.2019.
Beitragsbild: Alois und Beatrice Zimmermann-Gehrig