Mit Verwunderung und Respekt porträtiert Georg Langenhorst eine der zugleich ungewöhnlichsten wie prägenden deutschsprachigen Schriftstellerinnen der jungen Generation: Nora Gomringer. Spielerisch und ernst zugleich, in Performance und Essay, im Poetry-Slam wie im lyrischen Experiment mischt sie ungewohnte Töne in das literarische Gegenwartsszenario.
„Ja, ich kann sagen, ich glaube an Gott. Als Künstlerin behaupte ich: Die Kreativität kommt von Gott.“1 – Das war schon eine ungewohnte Positionierung, mit der sich die damals 35jährige Nora Gomringer 2015 in einem Gespräch mit der schweizerischen Zeitschrift reformiert. sehr klar profilierte. Die meisten anderen Literatinnen und Literaten unserer Zeit halten sich in Sachen öffentlicher Glaubensbekenntnisse eher zurück. Sie wollen vor allem ästhetisch, nicht primär weltanschaulich wahrgenommen werden. Nicht so die in Neunkirchen/Saar geborene und in Wurlitz bei Hof aufgewachsene Direktorin des Bamberger Künstlerhauses Villa Concordia. „Ich bin Autorin und Christin und man liest es mir an“2, bekennt sie ein Jahr später in einem weiteren Gespräch, dieses Mal abgedruckt in feinschwarz.net.
Ein „quecksilbriges und zugleich kraftstrotzendes Naturtalent“
Schon ein nur oberflächlicher Blick auf die Lebensstationen, Veröffentlichungen, Aktionen, internationalen Vernetzungen und die ständig anwachsende Liste der Auszeichnungen (hier nur exemplarisch zu nennen: 2015 der Ingeborg-Bachmann-Preis, 2019 der Bayerische Verdienstorden) flößt Respekt ein. Umtriebig, ruhelos, phantasievoll, immer wieder neu und überraschend kreativ ist Nora Gomringer. Lyrikbände liegen vor, Radioessays, Inszenierungen von Poetry-Slams, ein Opernprojekt; daneben finden sich Spuren der Zusammenarbeit mit Wortensembles und Musiker*innen, Prosatexte…
Ein Textmosaik, das blitzt und funkelt.
Schwer zu fassen, das Werk dieser energiegeladenen, vielseitig begabten Künstlerin, Tochter des Schweizer Meisters der ‚konkreten Poesie‘ Eugen Gomringer. Ein ‚Hauptwerk‘ gibt es nicht. Die Publikationen liegen verstreut vor, ein Textmosaik, das blitzt und funkelt, ohne eine scharfe Kontur erkennen zu lassen. So gesehen ist es kaum überraschend, dass eine andere überaus sprachmächtige Gegenwartsautorin dieses besondere Potential erkennt und pointiert bündelt: In dem neuen Roman „Von oben“ von Sibylle Lewitscharoff – einem phantasiereichen Spiel aus einem Zwischenreich von Tod und Leben – stößt man unvermittelt auf eine Anspielung auf Nora Gomringer, ist doch dort voller Hochachtung die Rede von „diesem quecksilbrigen und zugleich kraftstrotzenden Naturtalent, das zwar vom Surrrealismus und der Konkreten Poesie zehrt, aber elegant und würzig darüber hinauszielt, um ihren ureigenen Sinn zu stiften.“3
Glaube als zentraler Bestandteil von Leben und Schreiben.
Jan-Heiner Tück, Dogmatik-Professor in Wien und Initiator der dortigen, hochinnovativen „Poetikdozentur Literatur und Religion“, lud Nora Gomringer zu einer Vorlesung ein, in der sie ausführlich Einblicke in ihre poetische und religiöse Prägung und Werkstatt gewährt.4 Unbefangen, offen, aber auch verschmitzt gibt sie Auskünfte über ihre biographisch-religiösen, gleichzeitig ungebrochenen wie selbstkritisch durchschauten religiösen Prägungen. Geprägt von wichtigen Bezugspersonen – den drei „direkten Gottesdrähten während meiner Kindheit und frühen Jugend“5 – bleibt der Glaube ein zentraler Bestandteil nicht nur ihres Lebens, sondern auch ihres Schreibens.
Zwischen Gedicht und Gebet
Denn gelegentlich – keineswegs alles andere überlagernd! – finden sich Ausgestaltungen von religiösen Spuren in ihrem schriftstellerischen Werk. Vor allem biblische Anspielungen6 ziehen sich untergründig durch die Textwelten Nora Gomringers. Faszinierend sind für sie aber auch die Spannungsbezüge von Gedicht und Gebet. Sie „sind Geschwister“7 erklärt die Autorin im Begleitgespräch zu ihrer theologisch-literarischen Gastvorlesung mit Jan-Heiner Tück: klar voneinander unterschieden, aber eben auch eng miteinander verwandt.
Man sieht’s: Ironische Brechung der Liturgie
Greifen wir ein besonders prägnantes Beispiel aus ihren Texten heraus, in dem die angedeutete theologisch-literarische Verquickung besonders deutlich wird. Es ist keineswegs repräsentativ für ihr bislang vorliegendes Werk, das sich ja gerade jeglicher Typisierung entzieht. Gleichwohl funkelt dieses Gedicht als auffälliger Mosaikstein. Gomringers gegen poetische Zurückhaltungen aller Art gebürsteter Poetry-Slam-Text aus dem Jahr 2016 „Man sieht’s“8 – wie fast alle Gedichte Gomringers primär als Sprechtexte konzipiert, als Hörtexte – präsentiert Jesus als eine Art Kummerkasten, dem man alle Sorgen anvertrauen kann. „Ein Fremder“, gewiss, aber „gut“, dass bei ihm „alles gewandelt wird“.
Man sieht´s
Die Messe biegt in ihre 40ste Minute
Als gewandelt wird
Das Wasser in Wein zu Blut
Das Brot als Hostie zu Leib
Glockenklingel, Ministrant tritt immer hinten auf die Kutte,
wenn er sich erhebt,
Da ist viel Leib am Werk
Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner
Das ist schon fahrlässig
Ein Mann wie ein Briefkasten dadurch
Kummerkasten aus Holz mit Schlitz
Gut, dass hier alles gewandelt wird
Werden Sorgen Gesänge
Jahrelang war Nora Gomringer – aufgewachsen in der katholischen Diaspora des evangelisch geprägten Oberfranken – Ministrantin, gerade gegen alle Widerstände. Mit den Texten und Ritualen der Liturgie ist sie bestens vertraut. Hier nun spielt sie Vers für Vers Erinnerungen an die katholische Messe durch. Das Wortfeld fügt sich dicht: „gewandelt“; die erste Trias „Wasser“, „Wein“, Blut“; dann die zweite „Brot“, „Hostie“, „Leib“. All das wird fragmentartig aufgerufen, um es ironisch zu brechen: der linkische Ministrant tritt sich „immer“ auf die Kutte, der Begleitklang ist nur ‚Klingeln‘. Aber es geht um mehr als Worte: gut katholisch ist hier „viel Leib am Werk“. So vorbereitet wendet sich der Blick nach vorn auf den Kruzifixus.
Der Gekreuzigte als Kummerkasten
Fast mit kindlich-konkretem Blick fragt die Gedichtsprecherin angesichts des gequälten Leibs am Kreuz: Warum „verbindet den keiner“? Seit „tausenden Jahren“! Und plötzlich öffnet sich eine verblüffende Assoziation: Wie ein „Kummerkasten aus Holz mit Schlitz“ erscheint der Gekreuzigte als einer, der offen ist für alle Leiderfahrungen und Nöte, die man zu ihm bringt. Und das ist ganz ernst gemeint: hier, in der Messe, wird tatsächlich „alles gewandelt“. Hier werden aus „Sorgen Gesänge“. Das alles ist frech formuliert, doppelbödig, ironisch gebrochen – aber gerade so neu sagbar.
Raum für ‚christliche Literatur‘
Nein, Nora Gomringer ist keine ‚christliche Autorin‘, ein in sich fragwürdiges Label, das Schubladendenken bedient, aber wenig Erkenntnishilfe bietet. Sie wehrt sich aber gar nicht dagegen, auch (auch!) ‚christliche Literatur‘ – in einem reflektierten Verständnis – zu schreiben. Denn dafür gibt es, so die Autorin überraschend und gegen sonst häufig geäußerte Bedenken, „mehr Raum denn je“. Im Kontext von „sich auflösenden Formen von Öffentlichkeit und Privatheit“ ergibt sich ihrer Einschätzung nach „mehr Raum für Bekenntnis“9, nicht weniger. Diesen Raum füllt sie auf ganz eigene Weise.
Am 26. Januar wird Nora Gomringer 40 Jahre alt. Wir Lesenden können uns noch auf manche Überraschung und Anregung von ihr freuen. Auch in Sachen ‚Religion und Literatur‘.
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Autor: Georg Langenhorst (geb. 1962), Prof. für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts/Religionspädagogik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Augsburg, zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von Theologie und Literatur, im Februar 2020 erscheint: „In welchem Wort wird unser Heimweh wohnen?“ Religiöse Motive in der neueren Literatur (Herder: Freiburg 2020).
Foto: Daniel Biskup
- In: reformiert. 25.08.2015, „Gretchenfrage“, S. 178. ↩
- Nora Gomringer / Tobias Meyer: „Literatur ist mächtig, weil das Wort nie an Kraft einbüßt, in: feinschwarz.net 14.06.2016. ↩
- Sibylle Lewitschroff: Von oben. Roman, Berlin 2019, S. 88. ↩
- Nora Gomringer: Man sieht’s. Der Gott zwischen den Zeilen der Nora G., in: Jan-Heiner Tück / Tobias Mayer (Hg.): Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg 2017, 121-161. ↩
- Vgl. Anm. 2. ↩
- Vgl. dazu: Christoph Gellner: Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart 2019. ↩
- In: Jan-Heiner Tück (Hg.): „Feuerschlag des Himmels“. Gespräche im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg 2018, S. 86. ↩
- Zit. nach: Nah – und schwer zu fassen (Anm. 4), S. 156. ↩
- Vgl. Anm. 2. ↩