Das mittelalterliche Spanien war in seiner Konfrontation bzw. seinem Dialog zwischen Muslimen, Juden und Christen äußerst produktiv. Franz Winter (Wien), Theologe und Religionswissenschafter, liefert mit seinen Überlegungen zum „Evangelium des Barnabas“ einen Beitrag zum christlich-muslimischen Dialog – und geht den spannenden geschichtlichen Wegen dieses Textes nach.
„Die Schüler antworteten: Meister, wer wird dieser Mensch sein, von dem Du sagst, dass er in die Welt kommen wird? Jesus antwortete mit Freude im Herzen: Es ist Muhammad, der Bote Gottes. So wie Regen die Erde fruchtbar macht, wenn es lange Zeit nicht geregnet hat, wird er bei seinem Kommen in die Welt für die Menschen der Grund sein, aufgrund der überreichen Barmherzigkeit, die er mit sich bringt, Gutes zu bewirken. Denn er ist eine weiße Wolke, voll mit der Barmherzigkeit Gottes. Diese Barmherzigkeit wird Gott über die Gläubigen wie Regen ausgießen.“
Ein Text, in dem Jesus als ein Prophet seinen Nachfolger ankündigt? Und dieser Nachfolger soll niemand geringerer als Muhammad, der Gründer des Islam, sein? Was auf den ersten Blick völlig absurd erscheint, gibt es in der Tat: Das Zitat stammt aus dem so genannten „Evangelium des Barnabas“, das im 20. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle in der christlich-muslimischen Auseinandersetzung spielte. Muslimische Websites präsentieren diesen Text auch heute noch als die einzige wahre Lebensbeschreibung Jesu, der damit ein für alle Mal in den Horizont des Islam hineingezogen wird. Diese Behauptung geht im Wesentlichen auf positive Stellungnahmen einiger bedeutender muslimischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts zurück. Insbesondere die Beurteilung durch den bedeutenden Reformtheologen (Muḥammad) Rašīd Riḍā (1865-1935), der 1908 die Übersetzung des Evangeliums ins Arabische veranlasste, trug viel zu seiner positiven Wertung und der weiteren Verbreitung in der muslimischen Welt bei (mit weiteren Übersetzungen ins Persische, Türkische, Urdu und Indonesische). 2007 wurde in Iran ein Film veröffentlicht, der im internationalen Vertrieb mit dem schlichten Titel „The Messiah“ präsentiert wurde (im Persischen eigentlich: Bišārat Monji, „Frohbotschaft des Retters“) und der vielfach als Antwort auf Mel Gibson’s vieldiskutierten Film „The Passion of Christ“ interpretiert wurde. Dabei wurde vom Regisseur Nader Talebzadeh bewusst auf Elemente des Barnabas-Evangeliums zurückgegriffen, was bei der Ausstrahlung des Films im Libanon zu teilweise heftigen Protesten der Christen dort führte. Ausgehend von türkischen Medienberichten machte im Jahr 2012 zudem ein angeblicher Textfund des „originalen“ Barnabasevangeliums die Runde. Die vorliegenden Photos lassen zwar eher vermuten, dass es sich um eine syrische christliche Handschrift handelt (eine wissenschaftliche Bearbeitung gibt es bislang noch nicht), doch wurde der Fund als große Sensation gehandelt. Die Beachtung, die dieser Fund in den muslimischen Medien erfahren hat, ist zudem ein Zeichen für das weiterhin bestehende Interesse an diesen Themen.
Ein (vermeintliches) Original des Barnabasevangeliums gibt es bislang nicht
Ein (vermeintliches) Original des Barnabasevangeliums gibt es bislang nicht und es wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch niemals gefunden werden. Der Text liegt vielmehr in zwei Fassungen vor, die um vieles später entstanden sind. Eine davon, die einzig vollständig erhaltene, hütet die Handschriftensammlung der Wiener Nationalbibliothek. Es handelt sich dabei um ein in einem wilden toskanischen Italienisch mit venezianischen Dialekteinschlägen gehaltenen Text mit zahlreichen Randnotizen in einem teilweise horriblen Arabisch. Die Datierungsversuche schwanken zwischen dem 14. Jh. und dem 16. Jh. und seine äußere Gestalt lässt an Istanbul als Entstehungsort denken. Zusätzlich zum italienischen Text ist seit dem 18. Jh. etwas von spanischen Versionen bekannt, wovon 1976 in der Universitätsbibliothek von Sydney ein Fragment entdeckt wurde, das ungefähr die Hälfte des Textes umfasst.
Von außen betrachtet handelt es sich um eine recht umfangreiche Lebensbeschreibung Jesu in 222 Kapiteln von dessen Geburt bis zur Kreuzigung. Die Grundstruktur und viele Inhalte beruhen zu großen Teilen auf den bekannten Evangelien des Neuen Testamentes, weshalb man gerne von einer „Evangelienharmonie“ spricht, d.h. einer Zusammenfügung aller vier klassischen Evangelientexte zu einer einheitlichen Erzählung. All dies ist aber an wesentlichen Stellen um Inhalte erweitert, die das Wirken Jesu in ein völlig anderes Licht rücken. Er erscheint in der Beschreibung nämlich vielfach in der Rolle, die in der christlichen Tradition Johannes dem Täufer zukommt, der in diesem Evangelium übrigens überhaupt nicht vorkommt. Bei seiner Tätigkeit weist Jesus nun ständig auf die bevorstehende Ankunft des eigentlichen Hauptakteurs hin, der nach ihm kommen wird. Diese Figur, die anfänglich an einigen Stellen des Evangeliums als „Glanz Gottes“ bezeichnet wird, wird schließlich im weiteren Verlauf namentlich mit Muhammad identifiziert. Dazu kommen Materialien, die im Wesentlichen nicht aus der christlichen Tradition stammen, so zum Beispiel eine recht kuriose Erweiterung der Legende um den biblischen Patriarchen Abraham und dessen rebellische Jugendzeit, deren Elemente zum Teil aus jüdischen Quellen, aber auch aus den islamischen Prophetenlegenden (Qiṣaṣ al-anbiyāʾ) bekannt sind.
Völlig umgeschrieben ist auch die Kreuzigungsszene, die das finale furioso des Barnabas-Evangeliums bildet. Die Kreuzigung findet zwar statt, doch wird nicht Jesus, sondern Judas gekreuzigt. Dieser wurde nämlich durch göttliches Eingreifen in Jesus verwandelt und trotz vielfach wiederholter Beteuerungen, nicht der richtige zu sein, wird er schließlich ans Kreuz gehängt – quasi als gerechte Bestrafung für den Verrat. In diesem Schlussstück gerät der Zeit stellenweise fast zu einer karikierenden bis komödiantischen Darstellung, wenn der vermeintliche Jesus beispielsweise beständig sein „Ich bin nicht Jesus“ ruft, was ihm natürlich keiner glaubt.
Eine nähere Beschäftigung damit ist eine faszinierende Spurensuche an der Schnittstelle zwischen den drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam
Das Barnabas-Evangelium ist zweifellos ein Kuriosum der Literatur- und Religionsgeschichte. Woher kann nun ein solcher Text stammen? Wer nimmt die Mühe auf sich, ein so umfangreiches Unternehmen zu starten und sich um die vermeintliche Korrektur der christlichen Evangelien zu kümmern? Eine nähere Beschäftigung damit ist eine faszinierende Spurensuche an der Schnittstelle zwischen den drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam und ihrer zum Teil tragischen Konfrontationsgeschichte.
Untersuchungen über die reale Herkunft des eindeutig älteren italienischen Textes haben bislang keine wirklichen Ergebnisse gebracht. Die ersten Beschreibungen des Manuskripts stammen aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert und verbinden den Text mit einem freidenkerischen Milieu in Amsterdam. Von dort fand er dann über diplomatische Kanäle seinen Weg in die Bibliothek Prinz Eugens von Savoyen, die dann schließlich in die heutige Nationalbibliothek aufging. Alle Versuche einer weiteren Rückverfolgung sind bislang gescheitert, was den Text um so faszinierender macht.
Die religiöse Welt der so genannten „Morisken“, das sind die zum Christentum zwangskonvertierten ehemaligen Muslime Spaniens.
Wahrscheinlich wird eine letztendliche Entscheidung darüber niemals möglich sein. Allerdings gibt es einen Erklärungsversuch, der als einziger ein spezifisches religiöses Milieu festmacht, in dem die Entstehung eines solchen Textes zumindest plausibel erscheint. Es handelt sich um die religiöse Welt der so genannten „Morisken“, das sind die zum Christentum zwangskonvertierten ehemaligen Muslime Spaniens. Die Eroberung Spaniens durch muslimische Heere ab Anfang des 8. Jahrhunderts und die Etablierung des Maurenreiches al-Andalus in den folgenden Jahrhunderten endete 1492 mit der Einnahme der letzten muslimischen Bastion, Granada. Die verbleibenden Muslime mussten sich mit den katholischen Herrschern arrangieren. Anfänglich wurde die Ausübung ihrer Religion geduldet, doch ab 1502 setzten Zwangskonvertierung und die Enteignung der muslimischen religiösen Institutionen ein.
Völlig außer Frage steht, dass auf so geartete Zwangsmaßnahmen sehr unterschiedlich reagiert wurde. Während einige sich in ihr Schicksal fügten, gab es eine große Zahl von Menschen, die weiterhin versuchten, ihren Glauben versteckt zu leben. Eine der Aufgaben der katholischen Inquisition in Spanien war dann auch die Überführung „heimlicher“ Muslime. All dies endete zwischen 1609 und 1614 mit der endgültigen Vertreibung der noch verbliebenen Morisken. Diese zerstreuten sich in eine Diaspora, wo neben dem nordafrikanischen Raum auch das damalige muslimische Großreich der Osmanen relevant war.
Die heute auf uns gekommenen Reste der „Aljamiado“-Literatur aus dem 16. Jahrhundert erweisen sich als faszinierender Schmelztiegel jüdischer, christlicher und islamischer Elemente mit teils literarisch äußerst hochwertigen Erzeugnissen
Der Islam war in dieser Zeit in einer völlig neuen Situation, weil diese Religion in keinem Land seiner Verbreitung bislang eine unterdrückte Minderheitenposition einnehmen musste. Es ist heute nur mehr schwer rekonstruierbar, wie dieses zwangschristianisierte muslimische Milieu sich wirklich entwickelte. Zeiten der Unterdrückung können aber auch Zeiten großer Kreativität sein, das lehrt nicht zuletzt auch die Religionsgeschichte. Soweit durch Textfunde rekonstruierbar, entstand eine ganz eigentümliche Literatur in diesem Zusammenhang, die größtenteils im so genannten „Aljamiado“ abgefasst wurde: verschiedene romanische Dialekte, die aber mit arabischen Buchstaben geschrieben wurden und eine Möglichkeit boten, weiterhin mit den eigenen Traditionen verbunden zu sein. Die heute auf uns gekommenen Reste der „Aljamiado“-Literatur aus dem 16. Jahrhundert erweisen sich als faszinierender Schmelztiegel jüdischer, christlicher und islamischer Elemente mit teils literarisch äußerst hochwertigen Erzeugnissen, beispielsweise Gedichte über biblische Gestalten wie Joseph oder Legenden um verschiedene historische Figuren. Vielfach lässt sich die Zuordnung zu den verschiedenen Religionen nur mehr schwer erkennen, so verschleiert wirkt die eigentliche Agenda.
Neben diesen Versuchen einer Verheimlichung war eine weitere Option der unterdrückten Morisken der aktive literarische Angriff. Die spektakulärste Episode in diesem Zusammenhang waren die so genannten „Bleiernen Bücher“ oder „Bleibücher vom Sacromonte“ (Libros plúmbeos oder Plomos del Sacromonte). Zwischen 1595 und 1606 wurden in Granada 22 Bände gefunden, die aus runden zusammengehängten Bleitafeln bestanden. Sie waren in einer seltsamen Mischung aus Arabisch und Latein beschrieben und erzählten eine unglaubliche Geschichte: Die Jungfrau Maria hätte sich an den Apostel Jakobus und den heiligen Cäcilius gewandt und sie mit der Christianisierung Spaniens bereits im ersten Jahrhundert betraut. Und dieses antike Spanien hätte ein ganz anderes Gepräge gehabt: Arabisch wäre nämlich schon damals die Sprache der Einwohner gewesen und die ersten Christen Granadas seien Araber gewesen. Die anfängliche Wahrnehmung dieses Fundes durch den örtlichen katholischen Klerus war enthusiastisch, weil sie die Vorherrschaft Granadas über alle anderen christlichen Zentren zu beweisen schien. Wunder bekräftigten den angeblichen Schatz und es entwickelte sich ein großer Rummel um den Sensationsfund. Der Vatikan blieb von Anfang an skeptisch und nach Überführung der Texte nach Rom 1642 wurden sie schließlich 1682 als Fälschungen verurteilt. Die bislang dazu gemachten Forschungen, die auf zeitgenössischen Berichten und Paraphrasen dieser Texte beruhen, gehen davon aus, dass es sich um Fälschungen handelte, die die Vorordnung der arabischen Kultur als die ursprüngliche Kultur Spaniens betonen und diesem noch dazu eine christliche Legimitation geben wollten. Man geht heute davon aus, dass sie von maßgeblichen Intellektuellen aus dem Moriskenmilieu stammen, da diese die enge Verbindung Spaniens mit den Arabern suggerieren und christlich beweisen wollten. Es handelt sich gleichsam um eine Einnahme des Gegners mit seinen eigenen Mitteln.
In einem dieser Sacromonte-Texte wird nun von niemand geringeren als Maria selbst die Ankündigung gemacht, dass in naher Zukunft eine Schrift mit dem Titel „Bestätigung des Evangeliums“ auftauchen werde. Dessen Entdeckung wird darin mit einem Mann von der Insel Zypern verbunden und es wird hervorgehoben, dass dieses Evangelium „anders“ sein wird als die, die man kennt. Nun ist gerade die frühchristliche Gestalt des Barnabas mit der Insel Zypern und der Geschichte ihrer Christianisierung eng verbunden. Der Verknüpfung der beiden Stränge liegt auf der Hand: Das Unternehmen, ein neues „Evangelium“ zu schreiben, wird mit einer Figur verknüpft, die man aus der Geschichte des frühen Christentums kennt und die mit einem Ort verbunden ist, der geographisch an der Schnittstelle zwischen dem westlichen Europe und dem Osmanenreich stand: das „Barnabas-Evangelium“ ist geboren.
Damit wäre dieser Text so etwas wie ein literarischer Racheakt eines zwangskonvertierten Muslims am Christentum.
Damit wäre dieser Text so etwas wie ein literarischer Racheakt eines zwangskonvertierten Muslims am Christentum. Es wäre de facto das Finale der Ankündigungen, die mit den „bleiernen Büchern“ begonnen wurde, weil es zusätzlich zur Anbindung an das Christentum sogar noch die Korrektur desselben nachliefert: Jesus habe Muhammad angekündigt und sei eigentlich Vorläufer des Islam. Die muslimische Präsenz in Spanien ist somit als Vollendung der christlichen zu interpretieren.
Allerdings ist nicht sicher zu beweisen, dass diese Vorankündigung sich nicht auf einen Text bezieht, der bereits zuvor schon existierte. Das italienische Manuskript ist nämlich sicher älter als das spanische, und damit bezieht sich die Ankündigung möglicherweise auf die spanische Übersetzung. Ganz gelöst ist das Rätsel also nicht. Und wird es wohl auch niemals.
Alle Religionen sind voll von Texten, die Ansprüche erheben, die jenseits jeglicher Beweis- und Verifizierbarkeit sind.
Man könnte nun den Fälschungscharakter dieses Evangeliums in den Vordergrund rücken. Und man darf in der Tat bei so gearteten Erzeugnissen das Glücksrittergehabe, die Chuzpe der Autoren und ihr Vertrauen auf ein „mundus vult decipi“ nicht unberücksichtigt lassen. Nun ist es aber so, dass Begriffe wie „Fälschung“ oder ähnliches in der Religionsgeschichte schwierig abzugrenzen sind. Alle Religionen sind voll von Texten, die Ansprüche erheben, die jenseits jeglicher Beweis- und Verifizierbarkeit sind. Zuschreibungen zu Autoren und die Inanspruchnahme verschiedener Autoritäten gehören zum Gemeingut so gut wie aller religiösen Literatur. Deshalb sollte man diesen Text vielleicht mehr als Ausfluss des jahrtausendealten Ringens von genetisch eng miteinander verbundenen Religionen interpretieren, als Amalgam, das sich an den vielen möglichen Schnittstellen und Übergangsfeldern der so nah verwandten Religionen Judentum, Christentum und Islam entwickelte.
(Franz Winter, Wien)
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