Was ihn an seiner Arbeit mit Gebärden fasziniert berichtet Christian Enke – Seelsorger für Menschen mit Gehörlosigkeit und eingeschränkter Hörfähigkeit im Bistum Limburg. Der letzte Teil unserer Februarreihe zum Thema Inklusion.
Hat Gott eigentlich einen Fehler gemacht als er Menschen mit Behinderung schuf?
Na, das passt ja nun mal so gar nicht in mein Bild von einem absolut perfekten Gott! Gott sitzt doch nicht an einem Fließband, wo es ab und zu „Mangelware“ oder gar „Ausschuss“ gibt. Immerhin heißt es doch am Ende des Schöpfungs-Berichts so schön: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut!“ (Gen 1,31). Und hat nicht jeder Mensch irgendetwas Besonderes an sich? Die einen nennen es Behinderung, andere schauen mehr auf die Talente und Fähigkeiten. Jedenfalls ist das Einzigartige und Unverwechselbare jeder Person, man nennt sie deshalb ja auch „Individuum“, für mich entscheidend. Gleichförmigkeit finde ich langweilig.
Menschen mit Behinderung sind Teil von Gottes guter Schöpfung.
Ach ja: Da ist auch noch unsere Gott-Ebenbildlichkeit – wenn wir also Gott ähnlich sind, dann doch auch behinderte Menschen (zugegeben: das ist eher sehr irdisch gedacht). Daher gibt es sogar die Rede vom „behinderten Gott“. Theolog*innen fällt jetzt sicher gleich die Rede vom ohnmächtigen Gott ein, der an den Händen festgenagelt am Kreuz hängt. Und dieser Gott hat sich sogar just Menschen mit einer Behinderung ausgewählt, die ganz erstaunliche Dinge geschafft haben – schon in der Bibel. Spontan fallen mir je eine Person aus den beiden Teilen ein: Mose und Paulus. Solche Personen hat es danach in der Kirche bis heute gegeben.
Von meiner Seite also eine entschiedene Antwort auf die Frage, ob Gott ein Fehler unterlaufen sein könnte am vorletzten Schöpfungstag: Nein, Gott hat alles gut und richtig gemacht – auch bei seinem Meisterstück, dem Menschen. Mir würden da übrigens auch eher andere Dinge einfallen, die er hätte anders erschaffen können, z.B. mehr Liebe unter den Menschen.
Können denn im Himmel alle Gehörlosen hören?
Das könnte man ja denken, wenn man im Evangelium Die Heilung des tauben und stummen Menschen liest (Mk 7,35) und die adventlichen Prophetien des Jesaja von den springenden Hirschen und jauchzenden Stummen (Jes 35,6). Ich ahne auch, dass es in vielen Beerdigungsansprachen rührig-gruselig heißt: „Jetzt endlich kann er/sie richtig hören“ (bzw. sehen, laufen,…), und mein Kopf-Kino ergänzt: „Der tote Mensch fliegt jetzt im Himmel wie eine Fledermaus umher und schnuppert mit einer grandiosen Hunde-Nase rum“.
Der Rollstuhl kann Teil der eigenen Identität sein.
Wie ist das denn überhaupt mit der kirchlichen Reich-Gottes-Verkündigung – gibt’s im himmlischen Jerusalem denn keine Rollstühle? Mich hat schon vor vielen Jahren ein Bild beeindruckt, das ein behinderter Künstler gemalt und darauf hingewiesen hat, dass Jesus nach seiner Auferstehung von seinen Freunden ja doch ausgerechnet an den (inzwischen verklärten) Wundmalen erkannt worden ist – die waren eben nicht weg, sondern gehörten zu ihm, nur belasteten sie ihn eben nicht. Das macht meinen Glauben froh! Es bestätigt die Erfahrung vieler, nicht behindert zu sein, sondern behindert zu werden (etwa durch hohe Bordstein-Kanten). Ich weiß von einem Mann, dass er seinen Rollstuhl als einen Teil von sich ansieht, der nun mal als Hilfsmittel zu ihm gehört. Er ist also nicht an den Rollstuhl „gefesselt“. Er will sich auch nicht ausmalen, wie er in seinem neuen jenseitigen Leben mit seinen Beinen laufen sollte, nur damit sein Umfeld weniger mit der Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert wird und zufrieden ist, dass quasi alle gesund sind.
Gottesdienste mit Gebärden?
Ich bin seit vielen Jahren Hörgeschädigten-Seelsorger und liebe die Deutsche Gebärdensprache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus in dem Effata-Heilungs-Evangelium (s.o.) „kaputte Ohren reparieren“ wollte und heute noch will – auch wenn es Menschen gibt, die glauben, dass die Erfindung des Cochlear Implantats (CI) ein göttlicher Hinweis darauf sei, die Gehörlosigkeit abschaffen zu wollen; es bedarf eben nur einer gewaltigen Operation mit so einigem, was da dranhängt. Sicher freue ich mich auch über ein CI, sollte ich morgen ertauben – aber ich habe ja auch bis dahin gehört und würde unter dem plötzlichen Hörverlust leiden. Ich unterstütze sehr die Inklusion bei hörgeschädigten Menschen, die mittels InduTiver[1]Höranlagen und etwa guten Hörgeräten am Gemeindeleben vor Ort barrierefrei teilhaben können; da ich selbst Hörgeräte trage, weiß ich, wie gut das tut, wenn man alles richtig mitbekommt.
Aber ich verstehe auch gehörlose Menschen sehr, die von Geburt an taub sind und keine Sehnsucht haben nach Hören-Können; einer sagte mal zu mir: „Ihr Hörenden bedauert, dass mir Musik und Vogelgezwitscher fremd ist – aber ich vermisse es ehrlich gesagt nicht, sonst müsste ich auch wie ihr Hörenden gestresst sein durch so viel Lärm in der Welt“. Viele gerade jüngere Gehörlose sind als Augenmenschen stolz auf ihre eigene Welt mit ihrer eigenen Kultur („deafhood“), weswegen ich auch gerne eigene und für mich besondere Gottesdienste feiere – eben in Gebärdensprache und ohne Dolmetscher*innen für Orgelmusik und Predigten, die selbst bei Hörenden auf taube Ohren treffen.
Im Gottesdienst kann es für die Ohren still und für Augen faszinierend lebhaft zugehen.
Haben Sie das schon mal erlebt, wenn es zwar für die Ohren still, aber für die Augen faszinierend lebhaft im Gottesdienst zugeht? Herzliche Einladung, mal dazuzukommen und es mitzuerleben – und vielleicht dabei zu erfahren, wie das ist, wenn man als Einzige*r nichts versteht und sich außen vor fühlt (das ist nämlich die Situation vieler Gehörlosen im Alltag – nur halt mit verkehrtem Vorzeichen). Für mich ist die Erfindung der vielen Sprachen (und damit eben auch der Gebärdensprachen) eines der großen Wunder und Geschenke Gottes, und ich freue mich über Gehörlose, die über sich sagen: „Ich kann alles – außer hören“. Bei Diskussionen mit selbstbewussten Gehörlosen kann man übrigens schon mal als Reaktion bekommen: „Warum bedauerst du mich, nur weil ich deine Sprache nicht verstehe? Du kannst ja auch meine nicht verstehen und die meisten anderen Sprachen auf der Welt auch nicht – soll ich dich im Gegenzug dafür bedauern?“
Ja und wie ist das denn nun im Himmel?
Ich stelle mir vor, dass es nur darauf ankommt: Allen geht es dort so richtig gut. Das sollen wir doch im Idealfall auch schon in der Gemeinde hier auf Erden als Vorgeschmack für Gottes Reich erfahren können: Das Ewige Leben genießen – und zwar in einer großen Gemeinschaft, in der sich alle prima verstehen… und dazu müssen gar nicht alle Latein sprechen, vielleicht können ja alle gebärden.
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Christian Enke, geb. 1967, arbeitet als Diözesan-Hörgeschädigtenseelsorger des Bistums Limburg und als Kooperator in der Pfarrei St. Margareta/Frankfurt. Er ist Sprecher der kath. Hörgeschädigtenseelsorge bei der DBK.
Bild: Miriam Penkhues