Spätestens im März nagt das schlechte Gewissen – was ist nur aus unseren guten Vorsätzen für 2020 geworden? Birte Platow stellt sich ihrem Gewissen in der Spannung von Freiheit und Gnade.
Am vergangenen Wochenende habe ich das erste Mal deutliche Hinweise auf den nahenden Frühling wahrgenommen: Vogelzwitschern, Krokusse und Schneeglöckchen, an windgeschützter Stelle konnte man schon ohne Jacke in der Sonne sitzen. So schön dieses Gefühl und die Vorfreude auf die nun nahende neue Jahreszeit auch waren, wurde mir dabei auch unangenehm bewusst, dass es mir in den vielen Wochen nach Sylvester noch nicht gelungen ist, auch nur einen meiner guten Vorsätze in die Tat umzusetzen: Der Dachboden ist kein Stück aufgeräumt, beim Sport war ich null Mal, die Nahrungsmittel im Kühlschrank sehen nicht nach einer gelungenen Umstellung auf ‚gesund‘ aus, und um den Schwimmkurs für die Kleinste habe ich mich auch noch nicht gekümmert. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen: Dass ich an der Selbstveredelung durch Sport scheitere mag ja noch eine lässliche Sünde sein, aber dass ich bei der Fürsorge für die Familie nicht das Optimum aus mir raushole, lastet doch schwer auf mir, und mir wird situativ schmerzlich bewusst, dass auch die von der Werkgerechtigkeit befreiten Protestant(inn)en so ihre liebe Not im Umgang mit guten Vorsätzen, oder vielmehr dem Scheitern daran haben.
Ist der aus Gnade gerechte Mensch befreit von guten Werken?
Eigentlich sollte ich mich im Wissen um Luthers reformatorische Entdeckung des aus Gnade gerechten Menschen von der Notwendigkeit guter Werke (und analog eben solcher Vorsätze) befreit fühlen. Luthers Leseart des ersten Römerbriefs Kapitel 1 Vers 17 („Der aus Glauben Gerechte wird leben“) mündet bekanntlich in der reformatorischen Erkenntnis, dass Gottes Gerechtigkeit eine dem Menschen aus Gnade geschenkte ist und damit alles Mühen und alle Werkgerechtigkeit hinfällig sind. Dies stellt nicht nur alle bis dato dagewesenen Vorstellungen von Sünde und Heil auf den Kopf, sondern sollte auch für mich heute noch Bedeutung haben – etwa für die Frage, wie ich meine Verdienste und mein Scheitern wahrnehme. Gerechtigkeit vor Gott erlangen wir nämlich nicht aus eigenem Vermögen oder durch eigenen Verdienst, sondern allein durch Gottes Gnade. Unser Beitrag besteht hingegen darin, Gottes Gnade zu entsprechen, indem wir befreit im Glauben leben, eingedenk der reformatorischen Erkenntnis Sola gratia, Sola fide, Sola scriptura, allein aus Gnade, Glaube und allein die Schrift. Warum aber fasse ich trotzdem fast reflexartig immer wieder gute Vorsätze und habe offensichtlich das Bedürfnis, mich aus eigenen Kräften zu einem besseren Menschen zu machen oder eben das Gefühl, dies nicht zu sein, wenn ich an ihnen scheitere? Offensichtlich ist der Umgang mit den verschiedenen „Soli“ nicht so einfach. Bestimmt liegt das auch daran, dass dem schlichten Annehmen ohne Gegenleistung zumindest in unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit noch immer eine verdächtige Aura anhaftet.
Offensichtlich ist der Umgang mit den verschiedenen „Soli“ nicht so einfach.
„Nimm das Geschenk an.“ – So könnte man die vorrangigste Pflicht von Protestant(inn)en vielleicht in einem Satz zusammenfassen. Die Metapher des Geschenks verweist jedoch auch anschaulich darauf, dass geschenkte Gnade keine billige ist, und das eben dieses – nur vordergründig passive Annehmen – nicht so einfach ist. Ein unerwartetes Geschenk wirft nämlich Fragen auf: Warum erhalte ich dieses Geschenk? Was ist überhaupt da drin? Muss ich nun meinerseits ein Gegengeschenk machen? Und wie fühle ich mich, wenn ich womöglich gar keine Gelegenheit habe, selbst etwas zu geben? Augenscheinlich provoziert ein Geschenk so einige, durchaus auch ambivalente Gefühle. Und insofern sind auch meine Nöte mit gescheiterten guten Vorsätzen nicht nur menschlich nachvollziehbar, sondern in gewisser Hinsicht auch in theologischer Perspektive legitim.
Das Scheitern an guten Vorsätzen ist theologisch legitim.
Als Protestantin habe ich nämlich zurecht angesichts geschenkter Gnade den Anspruch, dass sich diese lebensweltlich wirksam entfaltet – etwa indem ich Einsatz nach bestem Vermögen bringe und die Freiheit, die aus dem Geschenk erwächst, bestmöglich zur Entfaltung bringe. Meine guten Vorsätze stehen also zumindest in protestantisch theologischer Perspektive nicht im Widerspruch zur geschenkten Gnade. Die Rechtfertigung ohne vorausgehende Verdienste spricht dem Menschen nämlich eine neue Qualität zu. Ich kann und muss mir Gnade zwar nicht aus eigenem Vermögen verdienen, aber die Freiheit die aus geschenkter Gnade erwächst, ist eine folgenreiche. Sie befreit nämlich dazu, die eigenen Fähigkeiten und Talente bestmöglich zu Entfaltung zu bringen – und dieser Anspruch besteht durchaus und betrifft auch meine guten Vorsätze. Ich muss diese nicht bedienen, um ein guter Mensch zu sein, denn das bin ich in theologischer Perspektive per se und qua meiner Beziehung zu Gott bereits. Gleichwohl bzw. gerade deswegen sollte ich sie ernst nehmen und weiterverfolgen, und zwar, weil ich dazu befreit und in der Lage bin. Vor dem Anspruch, („Ich muss die Anmeldung zum Schwimmkurs hinbekommen, sonst werde ich meiner Mutterrolle nicht gerecht“), steht – chronologisch und emphatisch verstanden – zuallererst ein Zuspruch („Ich habe alles, was es braucht, um auch diese Aufgabe bestmöglich zu erfüllen, also bekomme ich doch auch den Schwimmkurs hin.“). Der Anspruch, dass ein gerechtfertigter und damit schon per se kompetenter Mensch auch in Erscheinung tritt, existiert nämlich sehr wohl. Rechtfertigung ist in diesem Sinne auch nicht billig oder ein Freifahrschein für beliebig gewordenes Verhalten zu verstehen, sondern hat notwendige Konsequenzen für das alltägliche Handeln, das wiederum Indikator für Rechtfertigung ist.
Vor dem Anspruch steht ein Zuspruch.
In dieser Perspektive ist es in Ordnung, dass ich mich nicht sklavisch und unüberlegt meinen Vorsätzen unterworfen habe. Aber dass ein schöner Frühlingstag mein schlechtes Gewissen aktiviert, ist auch richtig und wichtig. Inzwischen – noch vor dem Fertigstellen dieses Textes – habe ich nämlich den Platz im Schwimmkurs gesichert. Dachboden und Co folgen sicher, weil ich mir des Freiraums für den bestmöglichen Umgang mit meinen Vorsätzen gewiss sein kann.
Text: Birte Platow ist Professorin für Praktische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dresden.
Bild: Julian Dutton, www.unsplash.com