Den Tod bezeichnete Cardenal einmal als „das große Okay“. Am ersten März 2020 ist Ernesto Cardenal, der Dichter der Liebe, der sich selbst als „pasajero de tránsito“ (Transitreisender) bezeichnete, im Alter von 95 Jahren in Managua gestorben. Von Annegret Langenhorst.
Ein strahlender Märztag vor acht Jahren. Erwartungsvolles Stimmengewirr in der großen Schulturnhalle des Hans-Sachs-Gymnasiums Nürnberg. Die Reihen füllen sich mit hunderten Jugendlichen, gekommen aus den Gymnasien der Stadt, alle lernen Spanisch und wissen von ihren Lehrkräften, dass sie einen großen Dichter kennenlernen werden!
Der alte Dichter vor jungen Menschen
Der Mann, der an meinem Arm die Bühne betritt, ist klein, steinalt und gebrechlich: Ernesto Cardenal, der Dichter Nicaraguas, Publikumsmagnet auf vielen deutschen Bühnen. Ausdrücklich wollte er vor jungen Leuten lesen. Erstaunte Blicke auf seine Markenzeichen: Langes weißes Haar, Baskenmütze und ein verschmitztes Lächeln. Dann hebt der alte Dichter an und liest in kräftigem Ton seine neuen Gedichte, assistiert von Lutz Kliche, seinem Übersetzer, der die Texte vorab auf Deutsch vorträgt.
Ein wacher Zeitgenosse beobachtet scharfsichtig die Gegenwart.
Eine aufmerksame Stille in dem großen Saal: der alte Dichter aus Nicaragua, geboren 1925, zieht die Jugendlichen des 21. Jahrhunderts in seinen Bann. Auch wer im Spanischen unsicher ist, spürt: Da hat einer etwas zu sagen! Da beobachtet ein wacher Zeitgenosse scharfsichtig die Gegenwart. Da hat ein Christ eine rebellische Vision von Gerechtigkeit und Liebe.
Er kritisiere den Kapitalismus ja recht deutlich, fragt ein Schüler in der Gesprächsrunde nach der poetischen Lesung. Ob er etwa Marxist sei. Ja klar, so Ernesto Cardenal, ehemaliger Kultusminister Nicaraguas, unverblümt, er sei Christ und Marxist zugleich, er glaube an die Revolution der Liebe. Seine Vision von einer liebevollen, friedlichen und gerechten Welt hat er seit seinem Buch von der Liebe (1959) und seiner berühmten Version der Psalmen (1979) poetisch besungen. Als Befreiungstheologe erhofft er „eine erlöste, befreite Menschheit, die für die Liebe und nicht für den Egoismus lebt; etwas, das wir noch nicht erlebt haben, außer in einigen einzelnen Menschen wie dem heiligen Franz von Assisi oder Mahatma Gandhi“ (Cardenal 2016, 38). Cardenal ist überzeugt: „Nur die Liebe ist revolutionär. Der Hass ist immer reaktionär.“ (Cardenal 2012, 618)
Der Hass ist immer reaktionär.
Dichter, Priester, Revolutionär – ein bewegtes Leben
In drei umfangreichen Bänden mit Memoiren hat Cardenal seine Erinnerungen an ein bewegtes Leben ausführlich festgehalten. Obwohl der Sohn einer wohlhabenden Familie aus Granada/Nicaragua seine Schullaufbahn im angesehenen Jesuitenkolleg erfuhr, erlebte er seine eigentliche christliche „Konversion“ erst 1957 mit 32 Jahren, nachdem er in Mexiko (1943-1947) und New York (1947-1949) Literatur studiert, 1949/50 Europa bereist und sich nach seiner Rückkehr nach Nicaragua an der sogenannten „April-Verschwörung“ gegen die Diktatur der Somozas beteiligt hatte. 1957 zog sich Cardenal aus seinen politischen und literarischen Aktivitäten zurück und trat in das Trappistenkloster von Gethsemani/Kentucky ein, wo der Dichtermönch Thomas Merton sein Novizenmeister wurde. Aus gesundheitlichen Gründen verließ Cardenal Kentucky jedoch nach zwei Jahren, um in Mexiko und Kolumbien Theologie zu studieren.
Frisch zum Priester geweiht, gründete er 1966 die Gemeinschaft „Unsere liebe Frau von Solentiname“ auf der Insel Mancarrón im Nicaragua-See, welche nicht zuletzt durch das von Cardenal aufgezeichnete „Evangelium der Bauern von Solentiname“ – Predigtgespräche aus den Gottesdiensten der Basisgemeinde – international bekannt wurde.
Kirchliche Sanktionen
Als Somozas Nationalgarde 1977 die Gemeinschaft von Solentiname zerstörte, musste Cardenal emigrieren. Erst nach dem Sturz des Somoza-Regimes 1979 konnte er in seine Heimat zurückkehren, wo er bis 1986 als Kultusminister der sandinistischen Regierung tätig war. Im Oktober 1994 trat er schließlich aus Protest gegen „Korruption und fehlende Ethik“ aus der inzwischen oppositionellen Frente Sandinista (FSLN) aus und blieb bis zuletzt ein Kritiker von Regierungschef Daniel Ortega. Wegen Cardenals politischen Engagements hatte ihm Papst Johannes Paul II. im Jahr 1985 die Ausübung des priesterlichen Dienstes verboten, doch 2019 hob Papst Franziskus sämtliche kirchlichen Sanktionen gegen den schwerkranken Theologen auf. Am Freitag wird er in Solentiname begraben.
Eine eigenständige Stimme der lateinamerikanischen Literatur
Seinen für die Lyrik ungewöhnlichen Stil hat Cardenal schon früh in Gedichten über die Geschichte Lateinamerikas entwickelt, einer kenntnisreichen Hommage an die indigenen Kulturen des Kontinents. In seinem umfangreichen Meisterwerk, dem naturwissenschaftlich fundierten Kosmischen Gesang, baut er diesen Stil aus, integriert aktuelle Erkenntnisse der Quantenphysik in seinen lyrischen Lobpreis auf die Schöpfung.
Kosmischer Gesang
Zwar enthält Cardenals Lyrik auch kontemplative Züge, kreist mystisch um die Gottesfrage, bildet aber dennoch das Gegenprogramm zu einer Poetik der Innerlichkeit: „exteriorismo“ (von exterior/außen) nennt er seinen Stil und erklärt: „Die exterioristische Poesie drückt Ideen oder Gefühle mittels realer Bilder aus der Außenwelt aus: sie verwendet Straßen- und Ortsnamen, Eigennamen von Menschen, Daten, Zahlen, Anekdoten, wörtliche Zitate, umgangssprachliche Wendungen… wissenschaftliche Fachausdrücke, historische Dokumente oder Fragmente aus Briefen oder journalistischen Reportagen… D.h. sie integriert alle Elemente, die bisher der Prosa vorbehalten waren… Sie unterscheidet sich von der Prosa dadurch, dass sie intensiver, kürzer, wirksamer ist, nicht aber durch ihre Sprache oder die Wahl ihrer Themen.“
Die Realität der Welt im Gedicht
So nimmt es nicht Wunder, dass die Realität der Welt seine Gedichte durchdringt, bis in sein Spätwerk hinein. Cardenals Neue Gedichte greifen so unterschiedliche Betrachtungen auf wie Die Plünderung des irakischen Nationalmuseums oder die Evolutionstheorie, die Lateinamerikareise Alexander von Humboldts oder den Klang der Glocken von Managua. In „El Celular / Das Handy“ (Cardenal, 2014, 7-9) führt der alte Mann die ausbeuterischen Produktionsbedingungen der Handys in den kongolesischen Coltanminen vor Augen. Bis weit ins hohe Alter blieb der Dichter ein wacher Zeitgenosse und Denker, setzte sich mit Laotse und der griechischen Philosophie auseinander und schrieb weiter Gedichte. Mit über 90 Jahren unternahm er seine letzte Lesereise durch Deutschland.
Eine Evolution der Liebe?
Cardenal hat sich zuletzt intensiv mit naturwissenschaftlichen Forschungen zu Fragen der Entstehung des Universums und der Evolution beschäftigt. In seinen Essays Diese Welt und eine andere schreibt er seine Reflexionen nieder. Stark verkürzt gesagt hofft er – gestützt u.a. auf Peter Russells Studie The Global Brain – auf eine weitere Evolution der Menschheit hin zu einer immer besseren Welt, zu einer Globalisierung der Solidarität und der Liebe:
„Jetzt gibt es also nicht mehr nur die Evolution des Menschen, sondern die Evolution wird auch vom Menschen gemacht. Mit dem Fortschritt lenkt der Mensch jetzt die Welt. Der Fortschritt des Lebens hängt nicht mehr nur von der Natur ab. Durch den Menschen ist sich die Evolution nicht mehr nur ihrer selbst bewusst, sondern ist auch frei. Sie kann weitergehen oder innehalten. Wir sind die Evolution… Die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst wird etwas Natürliches werden. Wir werden einen höheren Bewusstseinszustand haben, in dem wir die übrige Welt so empfinden, wie wir jetzt unseren Körper empfinden. Den Schaden, den man irgendeinem Teil der Welt zufügt, werden wir so empfinden, als würde er uns selbst angetan“ (Cardenal 2013, 19 und 63)
die übrige Welt so empfinden, wie jetzt unseren Körper
Ausblick: Die Vision von San José
Jene Dichterlesung vor Jugendlichen in Nürnberg im Jahr 2012 schloss mit einem Essen im kleinen Kreis. Während Ernesto Cardenal in aller Seelenruhe ein Wiener Schnitzel genoss, diskutierten wir Lehrer*innen über die Texte und die Reaktionen der Oberstufenschüler*innen. Auch das Handy-Gedicht kam zur Sprache und man lamentierte ein wenig über die heutige Generation gedankenlos konsumierender Jugendlicher. Da schüttelte Cardenal den Kopf und fragte: Seid ihr besser?
Welch herrliches Tier ist der Mensch
Er hält es lieber mit den Jugendlichen, die begeistert seiner „Vision von San José“ (Cardenal, 2012, Bd. 2, 621f.) gelauscht hatten. Diese Vision von der Revolution der Liebe sei zum Abschied zitiert:
„Und meine Vision in San José de Costa Rica, nun will ich
meine Vision erzählen – des abends in einem Taxi,
ich war im Flugzeug zu einem Schriftstellerkongress gekommen.
Dies war meine Vision: Neonreklamen, Apotheken, Autos,
Jungen auf Motorrädern, Tankstellen, Bars, Menschen auf den Gehsteigen,
eine Gruppe Mädchen in Schuluniformen, Gruppen von Arbeitern,
dies alles sah ich, geordnet von der Liebe.
Die Farbe eines Pullovers sprach mir von Liebe,
die Liebe bewegte die Autos, entzündete jene Lichter, alle.
Die modischen Kleider der Mädchen, was waren sie anders als Liebe.
Die Kinder in den Armenvierteln, von Liebe vereint,
und von Liebe gepflanzt die rot blühenden Bäume,
ein langhaariger Knabe – mit langem Haar aus Liebe,
eine Reklame: IMPERIAL. Wer weiß, was das ist, doch wird es
gewiss etwas sein zum Teilen, was zum Schenken.
Eine Telefonzelle, jemand, der telefoniert – mit wem?
Mutter und Kind auf der Straße, auch hier die Liebe,
ein Paar, das eng umschlungen geht, noch einmal Liebe,
eine schwangere Frau wie ein Schrei von Liebe.
Mein Taxi fährt. Zwei an einer Ecke: der eine erzählt etwas
(es müssen Freunde sein).
Welch herrliches Tier ist der Mensch, denk ich mir.
Gebratene Hühnchen, Konditorei… auch das ist Liebe.
Jemand, der es eilig hat, vielleicht zu spät kommt. Wohin?
Zu einer Verabredung, einem Fest, in ein Haus, wo er liebt.
Ein anderer trägt ein Brot. Das er mit anderen teilen wird. Kommunion.
Hell erleuchtete Restaurants: auch sie zur Vereinigung.
PILSEN-BIER: auch das verheißt Zusammensein, Versammlung.
Coca-Cola
(ein Scheißdreck), doch das Schild sagt mir an diesem Abend:
Kommunion.
Eine herrliche Gattung, so sage ich mir, wie ich sie liebe,
alle aus Vereinigung geboren,
zur Liebe geboren.
(in einem Viertel ein Haus mit einem kleinen Fest. Welche Fröhlichkeit!)
Und ich sah, wie schön es ist, für andere zu sterben.
Das war meine Vision an jenem Abend in San José de Costa Rica.“
Jüngere Werke auf Deutsch:
Ernesto Cardenal, Mein Leben für die Liebe. Gespräche/Susan Meiselas, Nicaraguita. Fotografien, hg. von Ronald Grätz und Hans-Joachim Neubauer, aus dem Spanischen von Lutz Kliche, Göttingen 2016
Ernesto Cardenal, Etwas, das im Himmel wohnt. Neue Gedichte, aus dem Spanischen von Lutz Kliche, Wuppertal 2014
Ernesto Cardenal, Diese Welt und eine andere. Essays, aus dem Span. von Lutz Kliche, Wuppertal 2013
Ernesto Cardenal, Aus Sternen geboren. Das poetische Werk, 2 Bde., aus dem Spanischen von Lutz Kliche, Wuppertal 2012
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Bild und Text: Dr. Annegret Langenhorst hat in ihrer theologischen Dissertation „Der Gott der Europäer und die Geschichte(n) der Anderen. Die Christianisierung Amerikas in der hispanoamerikanischen Literatur der Gegenwart“ u.a. über Ernesto Cardenal gearbeitet. Inzwischen ist sie in der Schulleitung des Gymnasiums Wendelstein tätig und unterrichtet Deutsch, Katholische Religion und Spanisch.