Die türkische Grenzöffnung für Flüchtlinge stellt eine Zerreißprobe für die europäischen Länder dar. Sigrid Müller plädiert für einen neuen Gleichheitsdiskurs. Es braucht einen Blick auf das Gemeinsame und den Verzicht auf vorschnelle Etikettierung, um Spannungen im Innern Europas und an den Außengrenzen aufzulösen.
Ein Gleichheitsdiskurs ist nicht nur nötig, um Menschenrechte für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in Erinnerung zu rufen, sondern vor allem, um falsche Polarisierungen innerhalb der europäischen Länder überwinden zu helfen, ohne die eine gemeinsame Haltung in der Grenzpolitik schwer zu finden ist. Dafür ist es notwendig, die im Kontext populistischer Kontroversen aufgebaute Entgegensetzung von fundamentalistischem Pochen auf Tradition und Religion und einer religions- und traditionsfeindlichen Verteidigung von Säkularität als falsch zu entlarven und beide Begriffe differenziert zu betrachten.
Plädoyers für „Tradition“ und „Säkularität“ differenziert betrachten
Die Türkei öffnet die Grenze für syrische Flüchtlinge. Griechenlands Kapazitäten sind seit Jahren an den Grenzen der Auslastung, in Auffanglagern auf der Route nach Österreich und Deutschland herrschen teilweise unerträgliche Zustände. Doch die größte Herausforderung für Europa wäre nicht die humanitäre Bewältigung der Migration: Vielmehr herrscht Angst vor einer Zerreißprobe für die europäischen Länder selbst, weil die Flüchtlinge mehr bewirken, als ein Schlaglicht auf die politisch-geographischen Grenzen Europas und die noch aufzubauende gemeinsame Verantwortung für diese Grenzen. Sie machen unterschwellige und offenkundige Spannungen in den Mitgliedsländern selbst deutlich, die das gemeinsamen politische und soziale Agieren erschweren.
Es braucht einen Blick auf das Gemeinsame und den Verzicht auf vorschnelle Etikettierung, um Spannungen im Innern Europas und an den Außengrenzen aufzulösen. Eine internationale Tagung zu Fundamentalismus und Säkularismus hat mir Zusammenhänge deutlich werden lassen, die ich im Folgenden skizzieren möchte. Dabei nehme ich Gedanken der Vortragenden auf, die im Original in Buchform erscheinen werden.
Blick auf das Gemeinsame
30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer machen die Erfahrungen des Kommunismus und das lange Gedächtnis der Geschichte den entsprechenden Landesteilen und Ländern Europas noch immer zu schaffen. Von den baltischen Ländern bis zu den Ländern Ex-Jugoslawiens führen die traumatischen Erfahrungen von Hegemonie und verletzter Souveränität durch Veränderung von Grenzverläufen als Spielball der Mächte in West und Ost zum Ruf nach einer Abwehr neuer Grenzüberschreitungen durch Fremde und verstärken das Bedürfnis von Identitätsmarkern.
Andererseits hinterließ auch die zwar limitierte, aber ohne große Eigenverantwortung garantierte Versorgung im kommunistischen Staat ihre Spuren in den Seelen und bewegt heute viele Menschen etwa in der Slowakei und in Ungarn dazu, Leitfiguren zu folgen, welche die Sicherheiten von früher versprechen und diese oftmals in Form von traditionellen Familienstrukturen und nationalen Werten symbolisieren. Agency, das zentrale Ziel für das Erlernen selbstbewussten Handelns und Wirkens, ist aus diesen Gründen weder mehrheitlich präsent noch wird es von großen Teilen als wünschenswert gesehen.
Sicherheiten von früher, symbolisiert in traditionellen Familienstrukturen und nationalen Werten
Die emotionalen Verstrickungen mit den Erfahrungen der Vergangenheit machen eine rationale Auseinandersetzung mit der eigenen Situation und der Europas für viele schwierig. Intellektuelle und Aufgeschlossene tun sich oftmals schwer, Gehör zu finden. Wo die Rückkehr in alte Zeiten und Versorgungsgewohnheiten Ausdruck der Sehnsucht ist, werden Säkularität und Veränderung zu Schlagwörtern der Bedrohung aus dem Westen, welche die eigene Identität bedrohen. Vor diesem Hintergrund erscheint die eigene Treue zur Vergangenheit als das letzte Bollwerk eines traditionsvergessenen Europas.
In dieser Gefühlslage wird entsprechend auch das Christentum interpretiert – als Chiffre für Sicherheit und emotionale Stütze. Christentum als Engagement für Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Gerechtigkeit in einer pluralen Gesellschaft dagegen, wie es in der Katholischen Kirche die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils befürworten, sind vielfach nicht angekommen. Unter diesen Vorzeichen erscheinen die Reformversuche von Papst Franziskus als Bedrohung für den gesuchten Halt.
Religiöse Themen oder gesellschaftliche Fragen mit religiöser Relevanz?
Dabei ist deutlich, dass zahlreiche Inhalte, mit denen Identität konstruiert wird, wie Familienwerte, Tradition oder Pro-Life-Bewegungen, gar nicht genuin religiöse Themen sind, sondern gesellschaftliche Fragen betreffen, die auch religiöse Relevanz haben. Aus diesem Grund nämlich können sie geschickt politisch aufgegriffen werden, um religiös beheimatete Menschen anzusprechen und für politische Parteien zu instrumentalisieren – ohne dass von Seiten der Politiker notwendigerweise ein genuin religiöses Interesse bestünde.
Diese Form politischen Instrumentalisierung und Ideologisierung von Religion verschleiert aber nicht nur die politischen Absichten, sondern macht vor allem das breite Spektrum von Überzeugungen unsichtbar – und dies auf Seiten der „Traditionalisten“ ebenso wie des „säkularistischen“ Widerparts. Sowohl Religionszugehörigkeit als auch die scheinbar gegensätzliche säkulare Welt werden in Einheitsfarben dargestellt. Dabei trifft dieses einheitliche Bild auch auf die säkulare Welt nicht zu – sie besteht keinesfalls nur aus Säkularisten.
Religion und Säkularität jeweils als einheitliches Bild
Selbst in Frankreich, dem europäischen Land mit der klarsten formalen Trennung von Staat und Kirche, gibt es unterschiedliche Verständnisse von Säkularität. Säkularität bedeutet selbst dort keinesfalls das Verdrängen von Religion, sondern formuliert die Bedingung, dass Religionen in einem Land nur auf der Grundlage der Anerkennung der staatlichen Gesetze tätig werden können, welche wiederum dafür sorgen, dass alle anerkannten Religionen gleichermaßen diese Freiheit genießen können. In diesem Sinne gibt es auch von Seiten der christlichen Kirchen Unterstützung für den säkularen Staat.
Laizität ist nicht Säkularismus
Dagegen wären säkularistische Positionen, welche religiöses Leben oder Engagement religiöser Gruppen in gesellschaftlichen Belangen, wie z.B. der Einsatz für die Ökologie, für die Wahrung der Menschenwürde im Kontext von Migration, für ein menschengerechtes Sozial- und Gesundheitswesen, prinzipiell einschränken wollten, in dem Sinn selbst fundamentalistisch, als sie die Gewissens- und Religionsfreiheit ablehnten, indem sie anderen das Recht auf eine Freiheit absprächen, die sie selbst in Anspruch nähmen. Ein Blick auf die USA zeigt, dass diese Gefahren nicht auf Europa beschränkt sind.
Analysiert man nun diese polarisierenden Strömungen in einigen der mittel- und osteuropäischen Länder, so stellt sich aber auch heraus, dass diese mit „Fundamentalismus“ nicht richtig bezeichnet sind. Es geht nicht um eine partikuläre Auslegung von religiösen Texten oder intellektuelle Positionen, die zur normativen Grundlage für alle Menschen einer Gesellschaft erhoben werden, sondern um eine emotionale Suche nach Heimat, Identität und Sicherheit, die von Politikern – oftmals zu eigenen Zwecken – aufgegriffen wird.
Rationale Kritik wird emotionale Rückzugsgefechte hervorrufen.
Mit Blick auf diese Analyse ist es also nicht ausreichend, die argumentative Unzulänglichkeit populistischer Positionen zu kritisieren, ohne den Versuch zu machen, die bei den Wählern vorliegende Gefühlslage zu verstehen. Wird diese nicht wahrgenommen, kann eine rationale Kritik nur emotionale Rückzugsgefechte hervorrufen.
Und hier liegt das Problem: Eine demokratische Gesellschaft, ein demokratisches Europa lebt von der grundsätzlichen Anerkennung der Würde und Rechte aller Menschen und einer demokratischen Erarbeitung von gerechten Strukturen. Ein wechselseitiges Ausgrenzen im Sinne einer Bipolarität, wie es ja populistische Rhetorik im Sinne von „wir gegen die anderen“ vorantreibt, darf nicht mit derselben Logik erwidert und so bestätigt werden. Ohne den Grundgedanken des „größeren Wir“, das Menschen mit unterschiedlichen Positionen zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, können Sorgen um die eigene Identität nicht aufgehoben werden.
Europa hat es in vielen Bereichen geschafft, alte Abgrenzungen zu überwinden, frühere Feinde sind Freunde und Bündnispartner geworden. Europas Gesellschaft ist gefordert, diese Prozesse, die Grenzen zwischen Nationen überwunden haben, auch innerhalb seiner Länder zu pflegen.
Menschenrechte nur für die Mitglieder der Kolonialmächte kann sich nicht fortsetzen.
Doch haben diese Voraussetzungen auch Konsequenzen für das Verhältnis von Europa zu den Menschen, die als Migrantinnen und Migranten nach Europa drängen und ihren Ursprung zu einem erheblichen Teil in ehemaligen Kolonien europäischer Länder haben. Die Anwendung von Menschenrechten nur für die Mitglieder der Kolonialmächte in vergangenen Zeiten kann sich nicht fortsetzen. Entweder gibt es Menschenrechte für alle oder für niemanden. In diesem Sinne spiegelt die Krise an den Außengrenzen die innereuropäische Krisenlage wieder.
Es geht darum, Agency zu stärken und zugleich Solidarität zu einem positiven Wert zu machen, der Menschen über Grenzen hinweg verbindet und persönlichen wie nationalen Individualismus überwinden hilft. Vielleicht ist es an der Zeit, in Europa statt der individuellen Freiheit die Gleichheit der Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen und die Augen dafür zu öffnen, dass das Gemeinsame fundamentaler ist als das Unterscheidende.
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Für die Anregungen danke ich den Referent*innen des Expertenworkshops „Between Fundamentalism and Secularism. The Contribution of a multi-cultural and multi-religious Europe for Today’s Church and World” (Universität Wien, 28.-29.2.2020). Die Veranstaltung fand am Fachbereich Theologische Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät statt, in Kooperation zwischen INSeCT (International Network of Societies of Catholic Theology), ESWTR (European Society for Women in Theological Research), ESCT (European Society for Catholic Theology) und WOTE (Viennese Workshops in Theological Ethics).
Sigrid Müller ist Univ.-Professorin für Theologische Ethik an der Universität Wien.
Bild: Verlassenes Flüchtlingslager in Calais, Radek Homola / unsplash.com