Corona versetzt Europa in einen Ausnahmezustand. Auch die in dieser Woche geplante Redaktionskonferenz von feinschwarz.net musste abgesagt werden. Wir geben Einblick, wie wir die Situation und die ethischen, intellektuellen und emotionalen Herausforderung erleben, die in ihr liegen.
Franziska Loretan-Saladin, Luzern
Während ich nachts wachliege, überlege ich mir, welche Personen ich getroffen habe, seit ich C. umarmte, in deren Betrieb eine Person positiv auf Corona getestet wurde. Drei Tage später trafen wir Freunde (über 70-jährig). Habe ich diese unwissend gefährdet? Darf ich meine Lehrveranstaltung noch halten? Ich fühle mich gesund, doch die Gedanken kreisen: Wieviele liegen ebenfalls wach in dieser Nacht und stellen sich ganz ähnliche Fragen? Und ich denke an all jene, die unermüdlich die Erkrankten pflegen, zu Hause und in den Krankenhäusern, in Italien bis zum Umfallen.
Es kommt mir vor, als sei die ganze Welt an diesem Virus erkrankt. Sie fiebert schon durch den Klimawandel. Nun wirkt sie auf mich wie gelähmt. Die grossen politischen Themen treten in den Hintergrund. Das ist nicht gut für die Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze. Die Digitalisierung schreitet voran. Covid-19 hilft auch an der Uni mit. Sie wird nächste Woche digital.
Hygienemaßnahmen, eine Petition – und Gebet
Eine Freundin weist auf Psalm 126 hin: Als Gott das Geschick Zions wendete, da waren wir wie Träumende… Ich bin noch immer gesund, befolge die Hygienemassnahmen, halte Distanz, unterschreibe eine Petition – und bete mit diesen alten, vom Gebrauch warm und beherzt gewordenen Worten.
Gerrit Spallek, Hamburg
Gnostische Zeiten? Wir fürchten uns vor dem Fleisch. Die eigene und die fremde Materie wird zur Brutstätte der Gefährdung. Wir ekeln uns vor Körperflüssigkeiten. Lieber nicht berühren, Abstand halten, zuhause bleiben. Menschen werden wieder unrein: weil sie infiziert sind, mit Erkrankten verwandt sind, im Urlaub waren, fremd aussehen.
Menschen werden wieder unrein.
Gott wird Mensch. Ich hatte immer im Kopf, wie Jesus zu Kranken und Unreinen gegangen ist, soziale Grenzen überwindet und Nähe sucht. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass auch das Fleisch des Gottessohnes Wirt war für Bakterien und Viren. Fleisch wie wir: niesend, schwitzend, Töpfchen infizierend. Ohne Sünde, nicht aber antiviral. „Einer hat uns angesteckt…“?
Wer antignostisch argumentiert, sollte aber auch auf sein Bauchgefühl hören. Ich mache mir Sorgen: um die Gesundheit meiner Liebsten und um Freunde, deren Leben an Ungewissheit gewinnt. Bei jedem Einkauf kaufe ich ein wenig mehr als sonst. An der Kasse fühle ich mich ertappt. Lange war Corona weit weg. Jetzt ist die Kita zu, die Vorlesungen werden ausgesetzt. Die nächsten Wochen werden eine Entdeckungsreise in den eigenen vier Wänden.
Hans Pock, Wien
Der Einschnitt in das gesellschaftliche Leben könnte größer nicht sein: Was zuerst noch weit weg schien, in China und Südkorea, rückt unmittelbar nahe. Auf die Phase des Nichtwahrhabenwollens, des Verleugnens und der Auflehnung gegenüber dem Virus und den notwendigen Konsequenzen, sind wir jetzt in der Phase der Akzeptanz angelangt – wohl oder übel.
Was ist jetzt wichtig – im leergeräumten Kalender?
Persönlich führt das zu eigenartigen Widersprüchen: Kommunikation noch mehr über Telefon und Social Media – und zugleich zurückgeworfen sein auf das Ich in der eigenen Wohnung. Für einen, der auf Monate hinaus vieles durchgeplant hat, bedeutet es das Leerräumen des Kalenders. Die Struktur von gemeinsamen Gottesdiensten wird abgelöst von privater Frömmigkeit – zugleich geteilt mit unglaublich vielen Menschen im Internet. Aber gerade die Menschen, die ich am liebsten besuchen würde, und die gerade nicht internetfähig sind, erreiche ich damit nicht. Mein Leben wird nun eigenartig relativiert: Welche Beziehungen sind wirklich wichtig; wen möchte ich unbedingt erreichen; wer meldet sich bei mir? Und welche der vielen liegengebliebenen Aufgaben der letzten Monate und Jahre kann ich nun unverhofft erledigen? Was ist jetzt wichtig, was zu vernachlässigen?
Ich erlebe eine Gesellschaft zwischen Angst und Gelassenheit, zwischen Vertrauen und Sorge, zwischen Hamsterkäufen und großer Solidarität. Diese Krisenzeit holt aus den Einzelnen und der Gesellschaft wohl das Schlimmste und das Beste hervor. Diese Zeit (deren Ende nur erahnt werden kann) verändert nachhaltig: das Lehren an Universitäten und Schulen (plötzlich entwickeln sich viele zu ExpertInnen von Elearning und entdecken, wie vielfältig die didaktischen Möglichkeiten hier doch sind); Rituale (die nun nicht in größeren Gruppen und Gemeinschaften möglich sind); die Vorstellungen von Hygiene, von Nähe und Distanz, von wirklich Notwendigem und Zweitrangigem. Selbstverständlichkeiten brechen weg – die Zukunft ist offen.
Kerstin Menzel, Berlin/Leipzig
Corona hat einige unangenehme Wahrheiten zutage gefördert:
Dass zivilisiert aussehende Herren eine Rangelei mit der Drogerieverkäuferin beginnen, die ihnen den Kauf von 8 Packungen Toilettenpapier verweigert. Dass Menschen auch bereit sind, Desinfektionsmittel auf Kinderkrebsstationen zu stehlen, wenn sie Angst haben. Wie dünn ist der Firnis der Zivilisiertheit.
Wie dünn ist der Firnis der Zivilisiertheit.
Dass wir bereit sind, unsere Lebensgewohnheiten radikal infrage zu stellen, wenn die Bedrohung imminent ist. Wenn ein Gutachten aus dem Robert-Koch-Institut zu dem Schluss käme, dass Tempo 100 auf Autobahnen die Verbreitung von Corona verringern würde, wäre es in der nächsten Woche in Kraft.
Dass finanzielle Maßnahmen zur Soforthilfe zuerst an Menschen in etablierten Unternehmen gehen, während die Einschränkungen bei vielen Selbständigen, Kleinunternehmern, prekär Arbeitenden und Kulturschaffenden viel schneller an die Substanz gehen.
Dass unser auf Wirtschaftlichkeit getrimmtes Gesundheitssystem im Ernstfall auch an Grenzen kommt. Dass wir Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, so unterschiedlich bezahlen.
Dass die Nachrichten, die uns betreffen, andere Themen ganz schnell verdrängen. Es passiert tatsächlich etwas für die Menschen auf den griechischen Inseln – bekommt es jemand mit?
Man könnte auch Versöhnlicheres schreiben. Natürlich gibt es auch große Mitmenschlichkeit und Fürsorge. Für mich wiegt sich das aber nicht auf. Wie gut, dass wir jetzt mehr Zeit haben, über diese Dinge nachzudenken.
Christan Bauer, Innsbruck
„Bis auf weiteres“ – kaum eine Wendung ist gerade öfter zu lesen und zu hören. Ganze Gesellschaften fahren auf Sicht. Und zwar in rasantem Tempo. Auch dieser Text wurde fast täglich neu geschrieben, zugleich wird der eigene Alltag von 100 auf annähernd 0 heruntergebremst (Stichwort Ausgangssperre). Es wäre angesichts der Todesopfer zynisch zu sagen: Der Planet atmet durch. Denn es entscheidet sich in den nächsten Tagen am Verhalten jeder und jedes Einzelnen, ob unsere Gesellschaften dabei ‚nur’ auf eine Krise zusteuern oder auf eine manifeste Katastrophe.
Ganze Gesellschaften fahren auf Sicht.
Die Coronakrise könnte ein Anlass sein, unsere Lebensweise zu überdenken: Was bedeutet diese Krise, die nicht nur in vielen Ländern bürgerliche Freiheitsrechte massiv einschränkt, sondern auch die Schwerkraft des Alltags aufhebt, für unsere globalisierte Art zu leben und zu wirtschaften? Auf welche Routinen können wir ohne großen Verlust verzichten? Und: Wovon leben wir eigentlich und wofür? Christliche Antworten auf diese Fragen müssten in der Spur der pastoralen Willensrichtung Jesu liegen. Das gilt auch für so manchen falschen eucharistischen Heroismus („Kommunion um jeden Preis“), der gerade vor allem in rechtskatholischen Kreisen grassiert: „Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2,27).
Fastenzeit im Zeichen der Coronakrise heißt besonnen, aber problembewusst handeln: besonders verletzbare Menschen aktiv schützen und unterstützen, die eigenen Prioritäten überdenken – und mit den Kindern vielleicht wieder einmal „Scotland Yard“ spielen. Nicht nur Homeoffice machen, sondern auch Homefitness („Bring Sally up“). Albert Camus’ „Die Pest“ lesen. Und zusammen im ‚Familienkino’ Filme wie “Gespensterjäger” schauen, bei denen man eine monströse Gefahr nur durch Zusammenhalt, Freundschaft und Liebe überwinden kann. Zeit dafür gäbe es ja jetzt genug…
Rainer Bucher, Graz
Meine Eltern mussten in ihrem Leben mit viel Schrecklichem zurechtkommen: mit dem Nationalsozialismus, mit Krieg und Verwundung, mit Hunger und großer existentieller Unsicherheit. Sie wurden durch die Zeitläufte wirklich geprüft. Meine Generation kam bislang recht ungeschoren davon. Unsere historischen Überraschungen, etwa der Zusammenbruch des „Ostblocks“, waren eher erfreulich. Und wir profitierten von den Befreiungseffekten der Medien-, Geschlechter- und Globalisierungsrevolutionen und vom Wohlstand prosperierender Gesellschaften.
Individuell kennt natürlich jedes Leben Katastrophen und Prüfungen aller Art. Kollektiv aber sind sie uns in Mittel- und Westeuropa bisher ziemlich erspart geblieben. Die Finanzkrise war eine erste Ahnung, dass es auch anders kommen könnte, die Klimakrise ist es untergründig und Corona ganz offenkundig.
Kollektive Prüfung
Angela Merkel hat gesagt, dass diese Krise „unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz“ auf die Probe stellt, also eine große ethische, intellektuelle und emotionale Herausforderung darstellt. So ist es. Es ist nicht sicher, dass wir diese Probe bestehen.
In den kommenden Wochen der erzwungenen Ruhe können wir entdecken, was der Lärm des Alltags alles verdeckt hat. Wir können entdecken, wer wir sind, in dem, wie wir reagieren. Wir können darüber nachdenken, ob wir wirklich so weitermachen wollen wie bisher: individuell wie kollektiv. Es geht um Einkehr und Umkehr. Vor allem aber können wir neu entdecken, was Nähe, Fürsorge und Liebe sind und vielleicht sogar: Gottvertrauen.
Michael Schüßler, Tübingen
Es heißt, die Lage ist „dynamisch“. Wir erleben, wie jedes neue Ereignis die vorläufige Gewissheit von gestern über den Haufen wirft. Rasenden Stillstand: Durch die rasend schnelle Verbreitung des Virus, kommt das Leben zum Stillstand.
Quasi gestern
Quasi gestern hatte ich noch jene belächelt, die ein paar Grundlebensmittel mehr im Kofferraum hatten. Als ich eine befreundete Ärztin mit den Worten begrüßte „Und, habt ihr auch schon Hamsterkäufe gemacht“, hat sie mir freundlich den Ernst der Lage erklärt. Meine Hybris des Alltags ist ernüchtert: Dass bei uns das öffentliche Leben so schnell stillstehen könnte, hatte ich nicht erwartet.
Quasi gestern war die drohende Coronapause für mich noch eine lohnende Aussicht: Termine absagen, Druck rausnehmen, mehr Zeit um zu Hause Texte fertig zu schreiben: Corona als Gnade? Die dynamische Situation hat die Entschleunigung beschleunigt, aber das Virus verseucht auch die Gewinne. „Yeah, schulfrei“ … aber am Abend fragt mein Sohn, wann die Schule wohl wiederbeginnt und wie das dann mit den vielen aufgeschobenen Klassenarbeiten wird.
christlicher Realismus gefragt
Die Lage deuten und bewerten Virologen, Journalist*innen und die politischen Exekutivorgane. Theologie und Kirchen sollten in ihren Beiträgen den naheliegenden Bezug auf die großen Erzählungen biblischen Ausmaßes sehr gut dosieren. Wie auch immer es weitergeht: Christlicher Realismus ist gefragt: Sensibel für die Nöte im Umfeld; politisch wach, um die Geflüchteten an der türkisch-syrischen Grenzen nicht zu vergessen; offen für die existenziellen Ängste und Sinnfragen im rasenden Corona-Stillstand.
Julia Enxing, Dresden
Letzte Woche hieß es noch „heute kein Friedensgruß per Hand“; heute schon „keine Messe“. Wir treffen uns mit Freunden und feiern draußen. Gottesdienst im Wald. Ich niese – sogleich ein Kommentar, der mich (noch!) laut lachen lässt: „Lass das bloß keinen hören“! Ich habe mehr Angst vor Ärzten als vor Viren, behaupte ich immer. Doch jetzt, jetzt frage ich mich, was diese Situation mit unserer Gesellschaft macht. Schaffen wir es wirklich, die Angst durch Solidarität zu überwinden? Ich lese große Töne über twitter: „Lasst und Nächstenliebe neu buchstabieren!“ Und wie, bitte? Bei dm kaufe ich die benötigte Fusselbürste, anderes hätte ich auch kaum noch bekommen. Das Regal mit den Lebensmitteln hält nur noch zwei Gläser Schokocreme und fünf Tüten Salzbrezeln bereit – und das an einem Samstagvormittag. Der Trekkingladen nebenan wirbt hingegen mit einem Schild „bei uns gibt es noch Desinfektionsmittel zu kaufen“. Und der Sexshop ein paar Meter weiter ebenfalls. Verkehrte Welt, denke ich. Sorge habe ich, dass gerade hier, im Osten der Republik, der Coronavirus für die Machenschaften der politischen Rechten instrumentalisiert wird. Und dass die vielen Menschen, die täglich sterben, weil sie nicht genug Reis in ihrer Schale haben, als Nichtschwimmer*innen im Mittelmeer kentern oder durch die Bombe des Bürgerkriegs alles, aber wirklich alles, verlieren, noch weiter ins Vergessen geraten. Ja, lasst uns Nächstenliebe neu buchstabieren – NÄCHSTENliebe!
„Bei uns gibt es Desinfektionsmittel zu kaufen“ – wirbt der Sexshop.
Helga Kohler-Spiegel, Feldkirch
Vieles ist verunsichernd in diesem Tagen. Nichts ist mehr wie vor „Corona“. In Österreich werden wir täglich mit Maßnahmen und Einschränkungen konfrontiert, die sinnvoll und notwendig sind, die unseren Alltag verändern, und die hoffentlich wirken.
Abschied – ohne zu wissen, was kommt
Ich erinnere mich: Es ist nur drei Tage her, dass wir an der Hochschule die Studierenden verabschiedet haben – ohne zu wissen, wann wir sie wiedersehen werden. Ich habe Kolleginnen und Kollegen verabschiedet – niemand von uns weiß, was genau in den kommenden Wochen passieren wird. Eigenartig. Kinder haben mit allen Unterlagen die Schulen verlassen, Eltern teilweise ihre Betriebe, manche mit der Sorge, nicht zu wissen, ob die Firma die wirtschaftlichen Einbußen überstehen wird.
Wenn Menschen in besonderen Situationen nicht auf Vorerfahrungen zurückgreifen können, greifen Verunsicherung und Übererregung um sich. Dann reagieren Menschen häufig mit Unsicherheit und Angst. Und dann tun Menschen Dinge, die ihnen helfen, sich ein bisschen sicherer zu fühlen. Zum Beispiel einkaufen.
Ich kann etwas tun: Toilettenpapier einkaufen. Und Nudeln.
Ich finde das verständlich: Ich kann etwas tun, ich kann vorsorgen, ich kann für mich und meine Lieben sorgen. Und dann kann ich mich ein bisschen sicherer fühlen. Wenigstens beim Einkaufen kann ich erleben: Ich bin nicht ausgeliefert, ich kann etwas tun: Toilettenpapier einkaufen. Und Nudeln.
Wolfgang Beck, Frankfurt/M.
Wer oder was ist zu schützen? Es ist vielleicht einer der wichtigsten Lernprozesse, der sich in der Bearbeitung der Corona-Krise in Deutschland und anderen Staaten beobachten lässt: Ab einem bestimmten Punkt geht es nicht mehr um das Vermeiden von Infektionen sondern um ihre zeitliche Streckung in der Gesamtbevölkerung.
Wechsel von der statischen Risikovermeidung zur dynamischen Risikobearbeitung
Dieser Schritt bildet einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel ab, weil es nun nicht primär um den Schutz vor Infektionen, sondern um den Schutz des Gesundheitssystems geht. An diesem Wechsel lässt sich der grundlegende Unterschied zwischen einer statischen Risikovermeidung auf der einen und einer dynamischen Risikogestaltung auf der anderen Seite verdeutlichen. Beides sind Risikobearbeitungsstrategien, wie sie aus anderen Gesellschaftsbereichen vertraut sind. Sie finden sich nicht zuletzt auch in kirchlichen Krisenerfahrungen. Statische Risikobearbeitungen zeichnen sich durch möglichst klare Abgrenzungen, durch die Definition von Ordnungen und die Konstruktion von Eindeutigkeit aus – und sie erzeugen darin eigene Gefahren. Dass sie in der Regel der Komplexität von Gesellschaften nicht gerecht werden und durch Eindeutigkeitskonstruktionen Sicherheit bloß behaupten, macht sie vielfach selbst zu einer Bedrohung.
Wenn es biblisch zur Heilung von Aussätzigen (vgl. Lk 10, 12f.) kommt, schildern die Evangelien dies nicht nur als Gesundung Einzelner, sondern als doppelte Zuwendung: als Heilung einer gesamten Gesellschaft und als Befreiung der Einzelnen. Das Ende der Ausgrenzung ist deshalb die Heilung einer Gesellschaft von ihren statischen Risikobearbeitungen in Form von Ausgrenzung, Absonderung und Distanznahme. Es ist Heilung von statischen Ordnungsstrategien zur Risikovermeidung.
je neues Einschätzen und Entscheiden
Die Etablierung von dynamischen Risikobearbeitungen hingehen erfordert das Einlassen auf unabgeschlossene Entwicklungen, das je neue Einschätzen und Entscheiden und auch die positive Bewertung von Uneindeutigkeit. Die täglich neuen Einschätzungen und Maßnahmen durch Naturwissenschaftler*innen und Regierungen sind Ausweis dieser dynamischen Lernprozesse als Bestandteil von Risikobearbeitungen. Der Umgang mit dem Corona-Virus bietet deshalb wichtige Lernimpulse für die Wertschätzung dynamischer Risikobearbeitung – nicht nur, aber auch im kirchlichen Kontext.
Birgit Hoyer, Bamberg
Eine Zeit der Einkehr und Besinnung – das hat der Pfarrer uns Trauernden mit in die Zeit zwischen Aussegnung und Trauerfeier gegeben. Mein Schwiegervater ist am Freitag gestorben, behütet vom Pflegepersonal der Palliativstation, seiner Familie, Freunden und Freundinnen und dem Pfarrer seiner Heimatgemeinde.
Erfahrung von Angst und existentieller Not eingeprägt
1946 im Alter von acht Jahren hatte sich die Erfahrung von Angst und existentieller Not schon in ihn eingeprägt: Der französische Kriegsgefangene am Hof im Sudetenland, der ihn vor einem Tiefflieger rettete, die Vertreibung, Lager, immer wieder aufbrechen, neu einquartiert werden bei fränkischen Familien, denen die Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Gründen ganz und gar nicht willkommen waren, der Vater, hart geworden durch Krieg und Gefangenschaft.
„Ich hatte ein gutes Leben“, hat er zu seinen vielen Freunden und Freundinnen gesagt, als er in den zahlreichen Feiern zu seinem 80. Geburtstag erfuhr, dass er Krebs hat. Seine Geburtstagseinladung war mit einem Liedtext von Vicky Leandros überschrieben:
Ich liebe das Leben.
Die Welt ist schön.
Wie’s kommt ist einerlei.
Was kann mir schon gescheh’n?
Glaub mir, ich liebe das Leben.
Eine Zeit der Einkehr und Besinnung sind diese Tage der Trauer, ist diese Zeit des Virus. Mein Schwiegervater, ein Galvanikmeister in einem fränkischen Metallbetrieb, ist in, durch, mit seinem Leben ein großer Weltbürger geworden, offen für die türkischen und griechischen Mitarbeiter, deren Einladungen in ihre Heimländer er gerne folgte, lebenslang eng verbunden mit einem französischen Freund, den er im deutsch-französischen Jugendaustausch kennengelernt hatte, jedes Jahr ging er auf Wandertour durch Tschechien, mit 70 fuhr er mit dem Fahrrad nach Ungarn und Italien. Seine Reisen führten in nach Israel, Jordanien, Brasilien, Kanada, USA, Spanien, ins Baltikum. Er konnte keine Fremdsprache und sprach doch alle Sprachen.
Eine Zeit der Einkehr und Besinnung ist diese Zeit des Virus. Wie und wofür leben wir? Was ist wichtig in dieser Zeit und in unserem Leben? Was hält unser Leben, uns am Leben? Menschen, die verantwortlich handeln, Freundinnen und Freunde über Grenzen hinweg, eine schöne Welt, deren Erhalt und Schutz uns alle Beschränkung wert ist – auch nach Corona.
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Bild: Felix Mooneeram / unsplash.com