Nicht erst durch die Aktionen von Maria 2.0 wird die Kritik katholischer Frauen an ihrer Kirche laut. Doch, wo bleiben die kritischen Stimmen aus dem Osten? Ulrike Irrgang und Johanna Rautenberg blicken in die Vergangenheit und Gegenwart der katholischen Kirche Ostdeutschlands, um das Schweigen der Schwestern zu verstehen.
In Köln, Münster, München, Limburg, Hildesheim und Hamburg demonstrierten am diesjährigen Weltfrauentag das Aktionsbündnis Maria 2.0 und katholische Frauenverbände für eine geschlechtergerechte Kirche. In den ostdeutschen Städten blieb es hingegen recht ruhig. Während schon im Mai 2019 Hunderte von Frauen dem Aufruf der Initiatorinnen von Maria 2.0 zum Kirchenstreik folgten, reagierten die katholischen Frauen im Osten eher verhalten. Wie lässt sich diese unterschiedliche Resonanz auf Maria 2.0 erklären? Hinkt der Osten mal wieder hinterher? Oder sind die Frauen in Ostdeutschland gar mit den Strukturen der katholischen Kirche zufrieden und sehen keinen Veränderungsbedarf? Das wohl kaum!
Hinkt der Osten mal wieder hinterher?
Viele katholische Frauen in den ostdeutschen Bistümern teilen die Anliegen von Maria 2.0. Dass es aber weder zu nennenswerten Kirchenstreiks, zur Niederlegung der Dienste, zu mit Pflastern zugeklebten Mündern oder zu Demonstrationen kam, hat mit der Geschichte der katholischen Kirche im Osten und mit den daraus erwachsenen Eigenheiten katholischen Lebens in den östlichen Bistümern zu tun. Aus der westdeutschen Perspektive mag die ostdeutsche Verhaltenheit in Sachen Maria 2.0 als kaum nachvollziehbar, rückständig oder konfliktscheu erscheinen. Eine solche Sichtweise verkennt jedoch die spezifische Ausprägung der katholischen Gemeinden im Osten und vor allem die Chancen für die Veränderung der Kirche, die in diesen ganz eigenen katholischen Lebenswelten liegen.
spezifische Ausprägung der katholischen Gemeinden im Osten
Warum wurden die Protestformen von Maria 2.0 in Ostdeutschland nicht im gleichen Maße aufgegriffen wie in den westlichen Bistümern? Hier lohnt ein Blick in die Geschichte katholischer Gemeinden in der DDR. Aufgrund der extremen Minderheitensituation in einem religionsfeindlichen Staat bildeten die katholischen Gemeinden in der DDR Nischen, in denen die Katholikinnen und Katholiken eine eigene Lebenskultur ausbildeten. In Abgrenzung zur staatlich verordneten sozialistischen Einheitskultur erblühte in den kirchlichen Gemeinden ein vielfältiges und lebendiges Miteinander: Hier wurden andere Feste gefeiert; hier waren vor allem offene Gespräche möglich. Aufgrund einer starken Binnenfokussierung und strikten Abgrenzung zur Außenwelt stellte die katholische „Parallelwelt“ einen Raum des gegenseitigen Vertrauens dar. Dieses Erleben von Kirche als (einzigem) Freiraum im DDR-Staat ist bis heute lebendig. Das aufgeklebte Pflaster auf dem Mund mag da für Frauen, in denen diese Art von Kirchenerfahrung noch lebendig ist, nicht recht passen.
Offene Gespräche? Pflaster auf dem Mund?
In diesem Erleben von Kirche als einer Oase inmitten einer Wüste liegt außerdem die hohe Identitätsrelevanz des Katholischseins im Osten. Kirche war ein Lebens- und Schutzraum, wie er im Westen so nicht erlebt wurde. In Münster, Limburg, München und Köln gehört katholisches Leben zur Normalität und ist nicht mit einer Minderheits- oder gar Ausgrenzungserfahrung verbunden. Im Osten Deutschlands hingegen schafft die Zugehörigkeit zur Kirchgemeinde ein starkes Verbundenheitsgefühl untereinander und prägt Identität auf andere Weise als im Westen. Diese Erfahrung von Kirche ist ein besonderes Erbe der DDR, das bis heute nachwirkt. Die engen gemeindlichen Sozialformen, die sich zur Stärkung der Gemeinschaft zu DDR-Zeiten herausgebildet haben, geben davon bis heute Zeugnis. So gehört es im katholischen Osten einfach dazu, einem Familien- oder Hauskreis innerhalb einer Gemeinde anzugehören. Aufgrund der hohen Identitätsrelevanz des Katholischseins im Osten und dem Erleben von Kirche als eines geschützten Sozialraumes wird klar, warum Katholikinnen nicht streiken: Eine Oase wird nicht bestreikt.
Eine Oase wird nicht bestreikt.
Die DDR-Vergangenheit wirft noch weitere Schatten auf die Gegenwart der katholischen Kirche im Osten. Das Verhältnis des DDR-Staates zur verfassten katholischen Kirche bestand darin, dass keinerlei politische Einmischung seitens der Kirche vom Staat geduldet wurde. Im Gegenzug dazu gewährte der Staat die ungestörte Religionsausübung innerhalb der Kirchenmauern. Diese Form von Absprache führte zu einer Entpolitisierung der katholischen Gemeinden, was nicht heißt, dass nicht einzelne Katholikinnen und Katholiken sich regimekritisch engagierten. Die Zielrichtung katholischen Lebens bestand weniger im Wirken in die Gesellschaft hinein als im Erhalt des katholischen Binnenraums. Wenn der Zusammenhalt einer Minderheit zum existentiellen Anliegen wird, liegt auf der Hand, dass eine Kultur des Dissenses nicht gerade gefördert wird. Eine konstruktive Streitkultur war weder innerkirchlich noch in der Kultur der DDR erwünscht. Auch das wirkt nach.
Entpolitisierung der katholischen Gemeinden –
Erhalt des katholischen Binnenraums
Hinzu kommt, dass die katholische Kirche nicht als gesellschaftsprägende Kraft erlebt wurde. Der Fokus liegt auch heute eindeutig im Nahraum, auf der Gemeinde. Die verfasste Amtskirche tritt im Erleben vieler katholischer Christinnen und Christen in Ostdeutschland eher in den Hintergrund. Verlautbarungen seitens der Bischofskonferenz oder Rom tangieren nur marginal. Während in vielen Westbistümern kirchliches Leben selbstverständlich ist und die Frauen daher verstärkt Reformen kirchlicher Strukturen im Blick haben, ist im Osten die Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens vor Ort von großer Bedeutung. Gern wird darum den katholischen Großstadtgemeinden in Dresden, Leipzig oder Potsdam eine ausgesprochen hohe Vitalität bescheinigt. Frauen widmen ihr Engagement einer Gemeinde und nicht der verfassten Amtskirche.
Den Beruf der Pastoralreferentin gibt es im Osten bis heute nicht.
Neben der Entpolitisierung katholischen Lebens im Osten mag ein weiterer Grund für das Ausbleiben von hör- und sichtbarem Frauenprotest darin liegen, dass in kirchlichen Kontexten Mädchen und Frauen viel länger als im Westen eine stark untergeordnete Rolle spielten. Bis teilweise in die 1990er Jahre hinein war es in ostdeutschen katholischen Gemeinden undenkbar, dass Mädchen Ministrantinnen sein konnten. Vereinzelt ist dies bis heute der Fall. Allein diese Möglichkeit galt schon als Fortschritt. Wenn nun Kommunionhelferinnen ihren Dienst tun oder Frauen Wort-Gottes-Feiern leiten, wird dies schon als bemerkenswerte Errungenschaft binnen weniger Jahrzehnte erlebt. Das kirchliche Engagement einzustellen, um die Priesterinnenweihe per Streik zu erkämpfen, erscheint unter diesen Bedingungen als zu hoch gegriffen. Hinzu kommt, dass es in ostdeutschen Gemeinden nicht erlebbar ist, dass Frauen am Ambo predigen, wie es in manchen westlichen Bistümern von Pastoralreferentinnen vorgelebt wird. Diesen Beruf gibt es schlicht im Osten nicht. Der einzige Beruf, den eine Frau im kirchlichen Gefüge in den Ostbistümern ergreifen kann, ist der der Gemeindereferentin. In der DDR hießen diese noch Seelsorgehelferinnen und wurden mit „Fräulein“ angeredet. Es braucht noch viel mehr weibliche role models, die als kompetente Theologinnen sichtbar liturgisches Leben gestalten.
In Punkto Feminismus sind Ost- und Westfrauen „ungleiche Schwestern“.
Ein weiterer struktureller Grund für das Ausbleiben von geräuschvollem Frauenprotest liegt in der historisch nicht gewachsenen bzw. heute nur schwach ausgeprägten Verbandsstruktur in den ostdeutschen Bistümern. In den westdeutschen Bistümern wirken gerade die Frauenverbände KDFB und kfd als Multiplikatorinnen für die Anliegen von Maria 2.0. Wer oder was sollte diese Funktion im Osten übernehmen? Ebenso korrespondieren die Ausdrucksformen des Protestes von Maria 2.0 mit einer feministischen Tradition, die über Jahrzehnte im Westen gewachsen ist. Gerade hinsichtlich ihrer Sicht auf den Feminismus sind Ost- und Westfrauen aber oft „ungleiche Schwestern“. Die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen ist durch die jahrzehntelange hohe Erwerbstätigkeit ostdeutscher Frauen anders ausgeprägt. Insgesamt ist das Verhältnis zum Feminismus eher nüchtern bzw. löst nicht selten Befremden aus. Ganz zu schweigen davon, dass in katholisch-theologischen Kreisen in Ostdeutschland feministische Theologie eine intensive Rezeption erfahren hätte. All dies wäre näher zu ergründen, um zu verstehen, warum die Protestformen von Maria 2.0 im Osten nicht recht verfangen.
Eine eigene Protestform im Osten?
Die verhaltene Reaktion ostdeutscher Katholikinnen auf den Frauenprotest von Maria 2.0 ist jedenfalls kein Ausdruck von Desinteresse, sondern basiert auf ihrer spezifischen Kirchen- und Gemeindeerfahrung. Es gibt eine andere „katholische Bodenbeschaffenheit“ im Osten und damit andere Voraussetzungen für Veränderung und Reform. In diesem Boden ruht viel Samen, der zum Leben erweckt werden möchte. Das ist die Herausforderung, vor der ostdeutsche Katholikinnen jetzt stehen. Protestformen aus dem Westen zu kopieren, scheint nicht die Lösung zu sein. Es geht darum, die Differenzen, die zwischen ost- und westdeutschen Kirchenerfahrungen bestehen, als Chance zu begreifen. Eine spezifisch ostdeutsche Ressource könnte dabei die starke Bindung an die Ortsgemeinde sowie die hohe Verbundenheit untereinander sein. Dass der Ballast der verfassten Kirche dabei weniger im Fokus ist, könnte den Keim einer großen Freiheit bergen. Diese gilt es zu leben und z.B. „von unten her“ die konkrete Praxis vor der eigenen Haustür zu ändern. Vom kraftvollen Protest der westdeutschen Schwestern geht der Impuls aus, eigene Wege der Veränderung zu wagen. Die Zeit ist reif dafür, dass katholische Frauen in Ostdeutschland ihre Stimme erheben, ihre eigenen Erfahrungen einbringen und auf ihre Weise sichtbar werden – in Verbundenheit mit ihren Schwestern in Köln, München und Hildesheim.
Autorinnen:
Ulrike Irrgang, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dresden. Kürzlich erschien ihre Dissertation: „Das Wiederauftauchen einer verwehten Spur.“ Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers.
Johanna Rautenberg, Dr. phil., promovierte 2014 an der TU Dresden mit einer exegetischen Arbeit über das Buch Tobit: „Verlässlichkeit des Wortes. Gemeinschaftskonzepte in den Reden des Buches Tobit und ihre Legitimierung“. Sie arbeitet als Referentin beim Diözesancaritasverband Dresden-Meißen e.V.
Bild: Kristina Flour, www.unsplash.com