Im Ausnahmezustand wächst die Sehnsucht nach heroischen Taten, gerade in den Religionen. Viele leisten zwar Außergewöhnliches, verstehen das aber als postheroisches Engagement. Religiöser Heroismus ist dagegen oft kontraproduktiv, meint Michael Schüßler.
Die meisten Religionen haben im Zentrum zwei Basisgebote. Man soll sich regelmäßig zum gemeinsamen Ritual versammeln, um Gott oder etwas Heiliges zu verehren. Und man soll den Armen, Kranken und Sterbenden beistehen, ihnen nahe sein und helfen. Beides wandelt sich in Zeiten der Corona-Pandemie in Heilsversprechen, die sich und anderen den Tod bringen können. Vor allem, wenn aus heroischer Frömmigkeit alle Achtsamkeit und alle Ambivalenzen ignoriert werden.
Heilsversprechen, die den Tod bringen können
Die Medien dokumentieren, wie weltweit Religionsführer das Überleben ihrer Religionskultur über das Leben von Menschen stellen. In Brasilien bleiben viele Pfingstkirchen offen. Die Prediger tun dabei so, als ob das unsichtbare Virus einem starken Glauben nichts anhaben kann. Die Süddeutsche Zeitung zitiert den Präsidenten von Tansania: „Corona kann nicht im Körper von Jesus überleben, das Virus wird verbrennen.“[1] Heroischer Widerstand der Religionen wird auch aus der russisch-orthodoxen Kirche berichtet und aus dem ultraorthodoxen Judentum. Am Fatima-Schrein in Iran wollten Gläubige die Sperrung durchbrechen: Das Gebet am Schrein helfe gegen Krankheiten, also auch gegen Covid-19.
Nächstenliebe als heroische Schutzlosigkeit?
Das zweite Gebot heißt im christlichen Kontext Nächstenliebe. Wer im Einsatz für Arme und Kranke sein Leben riskiert oder sogar hingibt, gilt als Märtyrer, als Glaubenszeuge für den unschuldig gekreuzigten Gott. Ganz im Sinne einer diakonischen und „verbeulten“ Kirche hatte anfangs auch Papst Franziskus reagiert. Vielen war damals schon unwohl, als er kurz nachdem ganz Italtien zum Hochrisikogebiet erklärt wurde, zum kirchlichen Personal gesagt hat: „Mögen Sie den Mut haben, hinauszugehen zu den Erkrankten, um ihnen die Kraft des Wortes Gottes und die Eucharistie zu bringen“. Seelsorge und Nächstenliebe sind demnach nur in körperlicher Nähe vorstellbar. Doch genau das ist aktuell tödlich. Hochbetagte Priester sind offenbar in heroischer Schutzlosigkeit an die Krankenbetten, haben sich infiziert und sind gestorben. „Kurienkardinal Angelo Comastri sagte kürzlich, die Priester von Bergamo seien ein Beispiel für ‚wahres Heldentum‘“.[2]
Wenig hilfreicher Heroismus
Ich halte diese heroische Glaubensrahmung für wenig hilfreich. In Ausnahmesituationen sind Menschen zu Außergewöhnlichem bereit, Ärzt*innen, Pfleger*innen, auch Seelsorger*innen. Aber sie tun das gerade meist in einem postheroischen Realismus, der sehr genau um die Gefahren weiß und dabei das Notwendige wagt und tut. Es besteht deshalb auch für Seelsorger*innen kein Martyriumszwang. Niemand muss jetzt aus kirchenberuflichen oder spirituellen Gründen den Helden oder die Heldin spielen. Es ist vielleicht gar keine Tragödie, wenn man einem gläubigen Leben aktuell die Ohnmacht und Verletzlichkeit der Situation auch ansehen würde.
Krise heroischer Religionsformen
Ulrich Bröckling formuliert in seinem neuen Buch die „Weigerung, vermeintlich falsches und wahres Heldentum gegeneinander auszuspielen und Letzterem pauschal die Absolution zu erteilen. Zur Debatte stehen … nicht die Taten selbst, sondern deren heroische Rahmung“[3]. Diese Rahmung wird gerade intensiv bemüht und man kann dabei zusehen, wie sie scheitert. Die Coronakrise ist vielleicht auch die wegweisende Krise tradierter heroischer Religionsformen im 21. Jahrhundert. Sie können immer weniger bezeugen, was sie versprechen. Im Extremfall bringen sie den Tod und nicht das Leben.
________
Michael Schüßler ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen
Bild von Klaus Hausmann auf Pixabay
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-religion-beten-religionsausuebung-1.4854435?reduced=true, analog: SZ vom 24.3.20, S. 6.
[2] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/dutzende-priester-in-ganz-italien-an-coronavirus-gestorben-16691177.html?service=printPreview.
[3] Ulrich Bröckling, Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, 17.