Die Kolumne für die kommenden Tage 23
Aus: Matthias Wörther, Als ich noch älter war. Durch Dogmen das Leben entdecken, Würzburg 1996, 123
Der eigene Körper ist die unmittelbarste Realität für einen selbst. Er ist die Selbstverständlichkeit des Wirklichen. Als Instrument der Wahrnehmung und Basis für das Sakrament des Ausdrucks (nur mit und über ihn können Menschen überhaupt etwas ausdrücken und auf den Begriff bringen) stellt er die Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt dar. Er nimmt eine Unendlichkeit sinnlicher Nuanzen wahr, speichert sie, erinnert sie. Eine Wunde vergißt den Moment der Verletzung nicht, ein Duft kann eine Körperempfindung zurückrufen, die Jahrzehnte zurückliegt.
Aber in seiner Selbstverständlichkeit bleibt einem der eigene Körper auch fremd, nicht nur im Schmerz. Er entzieht sich der Kontrolle und führt sein Eigenleben. Seine Aktivität bleibt in weiten Bereichen unbewußt, das Herz schlägt fern aller bewußten Steuerungen, um schließlich innezuhalten und nie wieder zu schlagen.
Die Selbstverständlichkeit wie die Fremdheit des Körpers sind erfahrbar und bleiben letztlich unbegreiflich. Den Körper als Geheimnis zu betrachten, ist deshalb eine Form des Realismus. Dieser Realismus bewahrt in gleicher Weise davor, den Köper zu unterschätzen wie ihn zu überschätzen.
Genausowenig auslotbar wie der Körper sind das eigene Ich und das Bewußtsein seiner selbst, jeder Mensch bleibt nicht nur den anderen ein Geheimnis, sondern auch sich selbst. Diese Unauslotbarkeit ist eine prinzipielle Größe und durch die umfassendste Selbsterforschung und Reflexion auf sich selbst nicht aufhebbar.
Photo: Matthey Henry (unsplash)