Am 2. März 2019 wandte sich „Madame Survivante“ in einem offenen Brief an die Deutschen Bischöfe. Nun fügt sie ein weiteres Schreiben an und appelliert an die Bischöfe, sich für eine verwandelte, verletzliche Kirche stark zu machen.
Sehr geehrte Herren Bischöfe,
Ostern und Weihnachten sind Hochfeste des liturgischen Jahres – aber zugleich auch Hochfeste einer in Christus offenbarten Verletzlichkeit.
An Weihnachten feiern wir, dass Gott sich uns nicht in einer pompösen Machtdemonstration, sondern zutiefst verletzlich zeigt – als ein hilfloses, schutzbedürftiges Neugeborenes, das in eine menschliche, allzumenschliche Umgebung hineingeboren wird.
An Ostern schließt sich dieser Kreis: Ostern ist der Moment der ultimativen, fundamentalen Verletzung. Es ist der Kristallisationspunkt, die Kernschmelze der Vulnerabilität – wenn der Menschensohn Gottes am Kreuz, dem schlimmsten Foltergerät seiner Zeit, unter schrecklichen Qualen zerbrochen und getötet wird. Wenn Gott als Mensch den letzten Schritt wagt, um auch den düstersten Winkel des Menschseins zu durchwandern. Und genau in diesem Moment der absoluten Verletzlichkeit, des Zerreißens des Vorhangs, der absoluten Demaskierung, in dem die Zeit für einen Moment still steht, wendet sich das Blatt hin zum Unerwarteten, zum Guten und zum Erlösenden. Denn Verletzlichkeit ist immer auch ein Angebot, eine Aufforderung an ein Gegenüber, sich auf einen fragilen Moment einzulassen, sich zu öffnen, sich verwandeln zu lassen und zu glauben.
Wenn Gott als Mensch den letzten Schritt wagt, um auch den düstersten Winkel des Menschseins zu durchwandern.
Die jesuanische Kraft der Verletzlichkeit zeigt sich aber nicht nur am Beginn und am Ende des Lebens Jesu, sondern auch in seinem Wirken in der Zwischenzeit: In seiner Hinwendung zu den Schwachen, den Randfiguren, den Kindern, den Angefochtenen, den Sünder*innen – sprich: den Verletzlichen – und in seiner Ablehnung jeglicher Formen politischer, gesellschaftlicher und religiöser Vulneranz.
Wenn wir dieses Jahr Ostern feiern, können und dürfen wir nicht nur auf die damaligen Geschehnisse blicken. Wir müssen uns fragen: Als was für eine Kirche feiern wir jetzt Ostern? Als eine verletzliche oder als eine verletzende Kirche?
Als was für eine Kirche feiern wir jetzt Ostern?
Wenn man die innerkirchlichen Zustände in den letzten Jahrzehnten betrachtet, senkt sich die Waage erschreckend hin zur Vulneranz[1]. Zu schwer wiegen das Begünstigen, das Begehen und das anschließende Vertuschen von sexuellem Missbrauch, zu schwer die nichtexistente Geschlechtergerechtigkeit (was eine eklatante Diskrepanz zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung darstellt), zu schwer die klerikalistischen und Machtmissbrauch befördernden Strukturen. Sollte dieses Ungleichgewicht nicht beendet und ein radikales Umdenken, eine umfassende Metanoia vollzogen werden, dann kippt das Ungleichgewicht in einen Abwärtssog. Deshalb muss unser aller, aber besonders Ihr Ziel, eine grundlegende Verwandlung hin zu einer vulnerablen Kirche sein!
Eine grundlegende Verwandlung hin zu einer vulnerablen Kirche
Einer Kirche, die Verletzlichkeit wagt und so nicht den institutionellen Selbstschutz, sondern den Schutz anderer über Alles stellt, und die die missbrauchsgenerativen Strukturen radikal reformiert, um so weitere Opfer zu verhindern.
Einer Kirche, die Verantwortung übernimmt, in der ‚mea culpa‘ nicht zu einer hohlen Phrase wird und die die befreiende und heilende Kraft des eigenen Schuldeingeständnisses entdeckt.
Einer Kirche, die Vulnerabilität anderer nicht instrumentalisiert, beispielsweise indem sie Frauen durch Verweise auf eine vermeintlich ‚marianische Zartheit‘ von einer umfassenden Teilhabe ausschließt, sondern in der Frauen ihre Charismen und Berufungen unbegrenzt ausleben können.
Einer Kirche, die vulnerante Strukturen und hierarchische Machtasymmetrien aufbricht und mehr Augenhöhe und Demokratisierung wagt.
Einer Kirche, die Caritas nicht nur formal, sondern aufrichtig und glaubwürdig vorlebt, indem sie sich – gerade jetzt – verletzlich und offen für die Vulnerabilität anderer zeigt, sich zur sicheren Schutzinstanz für die Schwachen, Verletzten, Ausgegrenzten und Benachteiligten macht und so zu einem Ort des glaubwürdig gelebten Evangeliums wird.
Einer Kirche, verletzlich und offen für die Vulnerabilität anderer
Und es liegt besonders in Ihren Händen, was die Zukunft bringen wird: Einen Niedergang oder ein Über-sich-Hinauswachsen, ein Begrabenwerden oder eine Auferstehung.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen drei (im wahrsten Sinne des Wortes) besinnliche Kartage und ein gutes Zugehen auf Ostern.
Mit freundlichen Grüßen
‚Madame Survivante‘
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Name und Anschrift der Leserin liegen der Redaktion vor.
Bild: Joanna Kosinska / unsplash.com
[1] Siehe auch: Hildegund Keul, Thomas Müller (Hg.), Verwundbar. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020.
Zum ersten Brief der Leserin: