Die (nicht nur) medizinethische Herausforderung bei Triage-Entscheidungen im Zusammenhang mit Covid-19 ergänzt Martin Birkhäuser in einem Leserbrief mit seinen Reflexionen über die Bedeutung des Gewissens einzelner in solchen Situationen.
Wie schon aus der Überschrift des Beitrages hervorgeht, ist eine Triage-Situation für Prof. Lintner vor allem auch eine ethische Herausforderung, die im Kern in der Beachtung des Gerechtigkeitsprinzips, also des verfassungsrechtlich zugesicherten Gleichheitsgrundsatzes besteht. Doch die Problematik birgt eine weitere ethische Herausforderung: Denn was ist, wenn dieses Prinzip im konkreten Einzelfall in Konflikt mit dem persönlichen Gewissen der Entscheidungsträger*innen gerät?
Dieses heikle Thema – wie überhaupt die Frage nach der Bedeutung und Rolle des Gewissens in einer Triage-Situation – wird bisher in den Kommentaren und Empfehlungen zur Triage geflissentlich umgangen. Dabei konnte man zuletzt nirgendwo so deutlich wie in Italien sehen was passiert, wenn Norm und Gewissen aufeinanderprallen: Dort, wo sich unglaublich dramatische Triage-Situationen abspielten entschieden sich Ärzt*innen, im Einzelfall vom Gleichheitsprinzip abzuweichen, und stattdessen nach Alter bzw. „geretteten Lebensjahren“ zu priorisieren. Wie lässt sich diese Entscheidung der Ärzt*innen anders erklären als durch ihr moralisches Empfinden? Und wie sind solche zwar subjektiven, aber dennoch ernst zu nehmenden Gewissensregungen zu bewerten?
Wie sind solche Gewissensregungen zu bewerten?
Die Triage-Empfehlung der italienischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SIAARTI) ist jedenfalls heftig dafür kritisiert worden, dass sie die bisher üblichen Kriterien zur Priorisierung – „bevorzugt wird, wer die bessere Überlebens-Prognose hat“ – über die rein medizinischen Aspekte hinaus ausgeweitet hat. Dabei ist der Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz im Prinzip richtig, denn er schützt vor Diskriminierung: Weder Alter noch soziale Kriterien dürfen bei Priorisierungs-Entscheidungen im Kontext einer Triage eine Rolle spielen. Das bestätigten kürzlich auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutsche Ethikrat in einer „Ad-hoc-Empfehlung“. Mit dieser Norm sollen die fundamentalen Werte von Gerechtigkeit und Gleichheit aller geschützt und garantiert werden. So weit so gut. Die Frage ist aber: Haben diese verfassungsrechtlich garantierten Werte absolute Geltung, so dass sie in jedem Fall ausnahmslos durchzusetzen sind? Oder ist es denkbar, dass in konkreten Einzelfällen auch Ausnahmen moralisch legitim sind, wenn Entscheidungsträger*innen aufgrund subjektiver moralischer Abwägung und Bewertung der Situation eine Gewissensentscheidung treffen, die vom Gleichheitsgrundsatz abweicht?
Haben diese verfassungsrechtlich garantierten Werte absolute Geltung?
Dazu ein Beispiel:
Nehmen wir an, da ist eine 80-jährige Frau und eine 40-jährige alleinerziehende Mutter mit drei kleinen Kindern. Beide werden ohne intensivmedizinische Beatmung nicht überleben. Es kann aber nur eine von beiden beatmet werden. Die 80-Jährige hat mit Beatmung eine um etwa 10-20% bessere Überlebens-Prognose als die 40-Jährige. Wer von beiden soll den Beatmungsplatz bekommen, und wen muss man sterben lassen?
Halten wir uns an den Gleichheitsgrundsatz, so ist der Fall klar: Den Beatmungsplatz bekommt die 80-Jährige, weil sie die höhere Überlebenschance hat. Es müsste dann aber nicht verwundern, wenn diese Entscheidung bei Vielen ein moralisches Unbehagen auslösen würde – etwa bei einer Ärztin, die eine Priorisierung allein nach medizinischen Kriterien in diesem Fall gerade nicht mit ihrem moralischen Empfinden vereinbaren kann. Sie wird in ihrem Gewissen abwägen, welche Folgen der Tod der einen und der anderen Person für die Hinterbliebenen haben würde, und dabei vielleicht zu dem Schluss kommen: Der Wert, dass drei Kinder ihre Mutter behalten können, wiegt in diesem konkreten Fall mehr als der Wert der Gleichheit zwischen diesen beiden Personen. Damit wäre nicht ausgesagt, dass das Leben der einen Frau wertvoller wäre als das der anderen. Bewertet würden die Lebensumstände: dass nämlich der Verlust der einen Frau mehr Leid zur Folge haben würde, als der Verlust der anderen Frau. Eine derartige Argumentation mag utilitaristisch sein. Sie wäre aber in diesem konkreten Einzelfall – wenn auch verfassungsrechtlich heikel – so doch moralisch sicher gerechtfertigt. Dabei steht außer Frage, dass solcherlei Abwägungen subjektiv sind und mitunter auch fragwürdig sein können. Die Beachtung des „Mehraugen-Prinzip“ ist daher umso wichtiger.
Kann Medizinethik sich darauf beschränken, ethisch begründbare und moralisch verantwortbare objektive Normen zu erheben?
Bei diesen Überlegungen geht es um eine grundsätzliche Frage: Kann Medizinethik sich darauf beschränken, ethisch begründbare und moralisch verantwortbare objektive Normen zu erheben? Oder muss sie nicht auch bedenken und einordnen, in welchem Verhältnis das subjektive Gewissen der Person, die sie darauf verpflichtet, dazu steht? Gibt es in der Medizinethik einen Spielraum für freie Gewissensentscheidungen? Oder muss hier die Rolle des Gewissens reduziert werden auf die gewissenhafte Befolgung bereits vorgegebenen Richtlinien und Kriterien? Wenn Prof. Linter darauf hinweist wie wichtig es ist, dass in einer „Triage-Situation die grundlegenden medizinethischen und moralischen Aspekte beachtet und befolgt werden“, gleichzeitig aber (neben dem Patientenwillen) allein medizinische Kriterien für Priorisierungs-Entscheidungen gelten lässt, dann heißt das doch: Medizinethisch sind solche Entscheidungen nichts anderes als die Befolgung normativ vorgegebener medizinischer und juristischer Vorschriften. Sie sind dann keine Gewissens-Entscheidungen. Kann man aber, wenn das Gewissen im Entscheidungsprozess gar keine Rolle mehr spielt, überhaupt noch von einer ethischen Entscheidung sprechen? Sind ethische Entscheidungen nicht immer auch Gewissensentscheidungen? In der Medizin-Ethik jedenfalls ist die Rolle des Gewissens keineswegs bedeutungslos. Sie unterscheidet zwei wichtige Aspekte des Gewissens: die „moralische Intuition“ und die „ethisch reflektierte Argumentation“. Eine ethisch verantwortbare Gewissensentscheidung wird immer beide Aspekte beachten und miteinander abwägen müssen.
Sind ethische Entscheidungen nicht immer auch Gewissensentscheidungen?
Auch in einer Triage-Situation wird es unausweichlich zu Gewissensentscheidungen kommen. Man sollte aber nicht glauben, dass solche Priorisierungs-Entscheidungen allein auf dem Weg der Befolgung normativer Vorgaben zu lösen seien, und dass man auf diese Weise dem Gewissen die Last ersparen könnte. Denn indem man das Problem ausblendet, ist es noch nicht weg. Wäre es darum nicht sinnvoller, den (zugegeben unbequemen, weil subjektiven) Faktor „moralische Intuition“ bei Handlungsempfehlungen mindestens mit einzubeziehen? Oder besser noch: Könnte man nicht innerhalb der vorgegebenen Normen (Kriterien) einen Spielraum offenlassen, damit Entscheidungsträger*innen im konkreten Einzelfall, wenn es ihr Gewissen fordert, auch anders handeln können, als es die Norm vorschreibt? Anderenfalls nimmt man in Kauf, dass von den Vorgaben abweichende moralische Gewissensentscheidungen – und solche wird es im Ernstfall sehr wahrscheinlich geben – im Tabubereich bleiben. Das wäre für das klinische Personal nicht nur sehr belastend, sondern auch rechtlich wiederum problematisch. Ein Handlungsspielraum für moralische Gewissens-Entscheidungen würde dagegen den Mitarbeiter*innen bedeuten, dass ihre moralische Intuition auch zur Geltung kommen darf, und dass sie im Falle eines Konfliktes zwischen ihrem moralischen Empfinden und einer vorgegebenen Norm die Möglichkeit haben, eigenverantwortlich abzuwägen und zu entscheiden.
Martin Birkhäuser ist Pastoralreferent und Klinik-Seelsorger des Erzbistums Köln.
Der Beitrag, auf den sich der Leserbrief bezieht:
Covid-19 und Triage: eine (nicht nur) medizinethische Herausforderung