Sich als Gründer und Gründerinnen verstehen in der pastoralen Arbeit, ist ungewohnt. Was die Suche nach Innovation an Begegnungen und Kreativität freisetzt, erzählt Kerstin Rödiger.
Einfach mal anfangen, in den Kühlschrank schauen und sich zu einem Gericht inspirieren lassen. Dazu lädt das «Gründer*Innenhandbuch für pastorale Start-ups und Innovationsprojekte»[1] im übertragenen Sinn auch für pastorales Handeln ein. Im Frühling 2019 folgten dieser Einladung einige MitarbeiterInnen aus den Fachstellen der katholischen Kirche Basel. Die Worte im Buch, statt das Sterben der Kirche verwalten, lieber die Zukunft gestalten zu wollen, trafen einen strukturellen und persönlichen Nerv. In der Lektüregruppe fragen wir danach, wie wir den Auftrag des Evangeliums, die Menschen zu mehr seelischem und physischem Heil zu führen, in heutiger Zeit umzusetzen können.
Lesend und träumend unterwegs
Gespannt lasen wir die Seiten und liessen uns inspirieren, zum Beispiel in diesen drei Punkten:
- In den Zeiten wachsender Komplexität gibt es kaum noch funktionierende allesumfassende Masterpläne. Vielmehr sind Ausprobieren, Evaluieren, Weiterdenken gefragt.
- Nicht das perfekte Gericht für die Mitglieder der Kirche ist das Ziel. Vielmehr können und sollen die Mitglieder schon beim Kochen einbezogen werden! Sie nennen diesen Prozess «Co-Kreation», also frühzeitiges Einbinden und miteinander Gestalten.
- Immer wieder geht es darum, einerseits im Denken weit zu bleiben und andererseits ganz konkrete Begrenzungen ernst zu nehmen. Niemand kann alles und kein Angebot kann für alle sein, es gilt immer die genaue Zielgruppe in den Blick zu nehmen und sich an deren Bedürfnissen, Widerständen, Kommunikationswegen und ästhetischen Voraussetzungen zu orientieren.
Einfach mal anfangen
Im Moment gibt es in der RKK Basel drei Projekte um das «Gründer*Innenhandbuch. Das Projekt «Basel träumt» ist eines davon. Es hat das Ziel, mit einem bekannten Angebot neue «Märkte» zu erobern. Mit Elfchen, also kleinen Gedichten aus elf Worten in einer festgelegten Aufteilung auf fünf Zeilen, wurden in der Adventszeit schon gute Erfahrungen gemacht, um auch mit kirchenfernen Menschen über ihre Wünsche und spirituelle Themen ins Gespräch zu kommen. Auf dieser Erfahrung aufbauend versuchen nun drei FachstellenmitarbeiterInnen neue Einsatzmöglichkeiten zu erproben.
Mit kirchenfernen Menschen über ihre Wünsche und spirituelle Themen ins Gespräch kommen.
Wir waren zu dritt an einem Nachmittag im Advent 2019 für etwa 2 Stunden auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Münsterplatz in Basel unterwegs. Mit dem Button «Basel träumt» an der Jacke ausgestattet, dienten uns Postkarten mit elf leeren Zeilen dazu, Fremde nach ihren Träumen zu befragen.
Ich begann mit einem Englisch sprechenden Strassenmusiker, der vor dem Münster gerade Pause machte. Er war etwas überrascht, machte aber sofort mit, obwohl ich von der Kirche und er kein «Kirchgänger» im üblichen Sinn war. So entstand dieses Elfchen:
Dreams
Be lucky
Word without war
Healthy have a family
Future
Es funktionierte tatsächlich in doppelter Hinsicht. Ich fühlte mich beschenkt durch das Gedicht und er hatte seinen Traum in der Tasche, als kleine Karte mit elf Worten. Es erschien mir wie ein kleiner magischer Moment mitten im Alltag. Eine ältere Frau, vielleicht Grossmutter die mit ihrem Enkel unterwegs war, wollte nicht mit mir über Träume reden. Sie hatte es eilig.
in kleiner magischer Moment mitten im Alltag
Besonders spannend wurde hingegen die Begegnung mit zwei jungen Mitarbeitenden im Robi-Kerzenziehzelt. Sie wussten erst gar nicht so recht, wovon ich sprach. Ich bot schliesslich an, sie sollten doch einfach elf Worte zum Thema «Traum» sagen. Sie suchten, wurden dazwischen immer wieder mal unterbrochen, weil sie eine Kerze einpacken mussten. Aber ich merkte, sie blieben innerlich dabei, dachten nach. Es entspannte sich ein kleines Gespräch darüber, was Träume sind. Mein Eindruck war, dass sie nicht so häufig über dieses Thema redeten. Träume waren für sie eher etwas Unrealistisches und Verrücktes, wie in ihren Elfchen spürbar:
Träume
So schön
Wahnsinnig wunder schön
Machen aber eigentlich nichts
Anders
Träume
Nicht festhalten
Sollen Wirklichkeit werden
Schade wenn nicht, aber
Trotzdem
Schliesslich sprach ich noch einen Mann an, der allein bei einem Glas Glühwein auf dem Platz stand.
Ohne grosse Erklärungen flossen die Worte und fügten sich wie von selbst zusammen. In mir entstand ein Gefühl, als hätte er mir gerade etwas von seiner Lebensgeschichte in elf Worten erzählt. Da gab es nichts hinzuzufügen:
Träume
Liebe Zärtlichkeit
Trauer Schmerz Freude
Freundschaft Natur Ereignisse Reisen
Entspannung
Dieses Anfangen zeigte: Die meisten liessen sich darauf ein, wenn sie nicht gerade wirklich beschäftigt waren. Jedoch brauchte es von unserer Seite schon Überwindung, auf die Menschen so zuzugehen. Es wurde aber belohnt mit einem besonderen Gefühl, wenn ich mich so vorstellte: «Ich komme von der katholischen Kirche Basel Stadt. Wir sind dabei, einige Träume der Menschen zu sammeln. Hätten Sie Zeit und Lust mit mir über Träume zu sprechen? Es ist ganz einfach, wir haben die Form von kleinen Gedichten, die einfach aus elf Worten bestehen, die wir nun zusammen finden können. Später können Sie ihr Gedicht auf dieser Homepage auf meinem Button nachlesen.»
Es fühlte sich richtig an. Nichts wollen, sondern kreativ anregend die Menschen an etwas anderes zu erinnern.
Es fühlte sich richtig an. Nichts wollen, sondern kreativ anregen.
Meine Kollegin hat noch Träume von Frauen aus dem Sexgewerbe gesammelt, die sich zur Beratung oder Pause in der Anlaufstelle aliena aufhielten. Eine Frau war von der Idee ganz begeistert und leitete andere an.
Nur elf Worte, mit einer grossen Dichte und Tiefe, denn Sie erzählen Wahrhaftiges:
Proteje
A mi
Familia y que
Dios cuide a mis
hijos
Schütze
meine
Familie und möge
Gott meine Kinder
Behüten
Quiero
Estudiar en
Aleman eso es
Mi sueno tengo que
cumplir
Ich will
studieren auf
Deutsch das ist
mein Traum, den muss ich
erfüllen
Nach dem Anfangen mal Innehalten
In der Lesegruppe reflektierten wir dann diese Idee von «Basel träumt» anhand des Markt-Innovationsmodells Canvas.
Dieses bildet sozusagen den Kern jedes reflektierten Start ups, und ab jetzt ist gar nichts mehr einfach. Sich in dieses Modell einzuarbeiten, stellt für die Lesegruppe eine Herausforderung dar. Es stammt aus dem marktwirtschaftlichen Bereich und wurde von den Autoren pastoral reflektiert, was z.B. die Erweiterung des Modells um den Pastoralen Rahmen (Feld 0/10) zur Folge hat. Wir beginnen nach Plan mit diesem Feld 0/10, dem pastoral-visionären Rahmen und füllen ihn so:
- wir wollen Kundinnen und Klientinnen der Spezialseelsorge ansprechen und abholen
- wir wollen einzelne Menschen mit ihren Geschichten ernst nehmen
- wir wollen Nicht-Sichtbares sichtbar machen
- wir wollen eine Kirche, die hingeht, spürbar ist
- Kirche kommt in Kontakt mit neuen Leuten, weil viele Träume haben
Aufgrund unserer Erfahrung auf dem Weihnachtsmarkt würde ich sagen: Der Anfang ist gelungen. Mit nur elf Worten, ohne Versprechungen und ohne Ansprüche wird ein Raum für etwas Anderes geöffnet. Begegnung zwischen Fremden in einer ehrlichen, weil sehr überschaubaren Form ist gelungen. Die Elfchen funktionieren wie erhofft: sowohl als Brücken zu anderen Menschen als auch als Unterbrechung im Alltag.
Aber, es braucht Mut und Sicherheit im Umgang mit der Elfchen-Form, um entspannt und einladend auf die Menschen zugehen zu können.
Begegnung zwischen Fremden
Das Feld 1/10 beschäftigt sich anschliessend mit den Nutzergruppen, fragt also nach dem passenden Milieu und der Zielgruppe und ist damit der Kern des ganzen Modells. Da wurde in der Lesegruppe eine sehr kreative Energie spürbar, als wir aufschrieben:
- alle Kioskverkäuferinnen
- Weihnachtsmarktbesucherinnen
- Rheinschwimmerinnen
- die am Morgen im Trämli stehen müssen
- Klienten der Spezialseelsorge (Gefangene, Patienten, Arbeitende im Sex-Gewerbe)
- Kirchenleute, Personal, Jesuiten…
- Wir
Genau, wir: Kommunikation ist keine Einbahnstrasse. Wir kirchlichen Mitarbeitenden sind ebenso Nutzer dieser Kampagne, wie das Gegenüber, das von seinen Träumen erzählen darf. Wir sind persönliche Nutzerinnen, weil wir der Kirche ein anders Gesicht geben dürfen. Wir sind auch strukturelle Nutzer, weil wir auf Menschen zugehen können, die im Pastoralraum noch nicht vorkommen. Darin liegt die hohe Motivation für das Projekt, ohne die wir über ein tolles Brainstorming nicht hinauskommen würden.
Nach dem Anfangen kommt noch viel Arbeit
Das Canvas-Modell stellt im Feld 3/10 die zentrale Frage nach dem Nutzerversprechen. Die Menschen und ihre Bedürfnisse stehen im Zentrum. Auf welches Bedürfnis können wir mit diesem Projekt Antwort geben:
Wir notierten:
- open your mind → Leute zum Träumen anregen
- den Menschen zuhören
- uns wird ermöglicht, uns als Kirche anders zu zeigen
- ein Time out, Alltag unterbrechen und aus Sackgassen rauskommen mit der Erfahrung, dass man träumen kann.
Mit dem Projekt geben wir Antwort auf das Bedürfnis der Menschen nach Überraschung, Begegnung, Kreativität und auch Wertschätzung, denn die Elfchen-Gedichte werden auf der Homepage veröffentlicht.
Bedürfnis der Menschen nach Überraschung, Begegnung, Kreativität und auch Wertschätzung
Genau diese Umsetzung in der digitalen Welt erweist sich für uns als die grösste Herausforderung. Aus verschiedenen Gründen haben wir noch keine passende Präsentation der Elfchen auf der Homepage «www.basel-träumt.ch» gefunden. Eine Idee könnte auch hier sein: Vielleicht sollten wir uns genau für diese Crux, Co-KreatorInnen suchen!
Weite und Begrenzung
Es zeigt sich, warum das Buch so dick und schwer ist. Das Anfangen ist zwar gelungen, aber der Weg zur Innovation, also eine Idee erfolgreich zu etablieren, bleibt trotzdem harte Arbeit. Der nächste Schritt im Projekt «Basel träumt» ist somit vor allem viel Vernetzungsarbeit. Menschen finden, die bei der Präsentation helfen und KollegInnen schulen, einbinden, damit der verheissungsvolle Anfang wachsen kann.
Neben dem Mut für kreative, unkonventionelle Anfänge braucht es grosses Durchhaltevermögen und konsequente Reflexion, in der man in die Weite denkt und dafür konkret begrenzt: Sich immer wieder die Frage nach Auftrag, Ziel und Bedürfnissen der Menschen stellen und dies in eine Strategie für genau diese Menschen und dieses Angebot übersetzen wollen.
Anfangen braucht ein gutes Urteilsvermögen und einen langen Atem.
—
Text und Bilder: Dr. Kerstin Rödiger
Ohne Träume wäre Kerstin Rödiger heute nicht die, die sie ist und auch nicht in der Schweiz zu Hause. Alles begann mit dem Zitat von Rainer Maria Rilke: «Wie ein Traum scheint’s zu beginnen, wie ein Schicksal geht es aus.»
[1] Florian Sobetzko, Matthias Sellmann (Hg), Gründer*innen Handbuch für pastorale Startups und Innovationsprojekte, Würzburg 2017.
Von der Autorin auf feinschwarz.net erschienen:
Wenn Geburt und Tod zusammenfallen. Vom Staunen über die Kraft in den Menschen
Es war einmal und ist noch immer. Über Erzählcafés und die Kraft des Erzählens