Der Caritasdirektor der Diözese Steiermark, Herbert Beiglböck, zu den Herausforderungen der Corona-Krise für seine Organisation.
Eine Krise trifft Systeme dort am stärksten, wo sie akut verwundbar sind. Wo der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und zur medizinischen Versorgung nicht allen im selben Ausmaß offensteht, dort wird sich ein Krisenherd ausbreiten, längerfristig dann in den Lücken eines Systems: in einem kranken Arbeitsmarkt oder einem zu weitmaschig gestrickten Sozialnetz. Krisen treffen jene Menschen innerhalb einer Gesellschaft am stärksten, die an der Grenze zum finanziellen Abgrund stehen oder an jener zur sozialen Vereinsamung.
In Krisenzeiten braucht, wer fragil ist, umso stabilere Stützen, bis hin zur existenziellen Unterstützung. Doch gerade sozial Benachteiligte haben meist keine Lobby hinter sich. In diesem Sinne muss Akut- und Nothilfe immer auch verbunden sein mit anwaltschaftlichem Handeln, müssen Organisationen wie die Caritas die mitunter himmelschreienden Situationen und die daraus resultierenden Bedürfnisse von Menschen für die Gesellschaft sichtbar machen.
Ich muss zugeben, ich habe die Dimension der Krise lange unterschätzt und erst am 13. März die Koordinationsgruppe in einen Krisenstab umgewandelt und die Leitung übernommen. Wir haben uns vom ersten Augenblick an als systemrelevante Infrastruktur definiert und hatten rasch zu klären, welchen Beitrag wir zu leisten haben, damit die Gesellschaft stabil bleibt und auch jene Menschen, die am Rand sind, eine Chance haben, die Krise halbwegs gut zu bewältigen. Damit war die Zielrichtung bestimmt und viele in der Caritas waren zunächst damit beschäftigt, mögliche Entwicklungen und neue Maßnahmen zu überlegen, von Schutzmaßnahmen bis zu (vorübergehenden) Schließungen.
Hilfe für die Ärmsten
Im Bereich Hilfe (Obdachlosenbetreuung, Lebensmittelversorgung, medizinische Versorgung, Sozialberatung) ging es darum, die Dienste der neuen Situation anzupassen. Die Notschlafstellen, die normalerweise nur in der Nacht geöffnet sind, wurden auf einen 24-Stunden-Betrieb umgestellt. Dafür braucht es Personal, aber auch neue Leistungen, wie die Essensversorgung oder ganztägige Begleitung; Einkaufsdienste für die Menschen, die nicht hinausgehen können; auch die Versorgung von suchtkranken Menschen, beispielsweise mit den Getränken, die sie brauchen.
Angebote anderer Organisationen oder der Pfarren zur Lebensmittelversorgung wurden zurückgefahren, gleichzeitig brauchen mehr Menschen Hilfe. Innerhalb weniger Tage mussten daher neue Wege der Lebensmittelausgabe aufgebaut werden, was durch die Caritas-interne Kooperation mit dem Bereich Beschäftigung sehr gut gelang. Auch die Beratungsangebote werden weiterhin stark nachgefragt, weil gerade Menschen, die bis jetzt so recht und schlecht über die Runden gekommen sind, den Alltag nicht mehr bestreiten können. Zu der bestehenden Beratung wurde ergänzend eine Online-Beratung neu angeboten, wofür es Gott sei Dank schon weitreichende Vorarbeiten gab. Vorsorglich müssen Wohnmöglichkeiten für obdachlose Menschen bereitgestellt werden, die durch behördliche Anordnung in Isolation oder Quarantäne leben müssen.
Der große Bereich der Pflege
Gerade im Pflegebereich zeigt sich die Vielfalt der Anforderungen für die Caritas als Organisation. In den 17 Pflegewohnhäusern geht es um die Anpassung des Betriebes an die geänderte Situation und um die Aufrechterhaltung der Dienste für die Pflege. Es wurden und werden viele Gespräche mit dem Personal geführt, das auch verunsichert ist und trotzdem dringend gebraucht wird. Hier sind kein Sonderurlaub und keine Kurzarbeit möglich. In den mobilen Diensten dagegen brechen die Aufträge ein, weil Angehörige, die selbst zu Hause sein müssen, die Pflege übernehmen. In diesem Fall waren relativ leicht interne Umschichtungen möglich, weil die Aufgaben und Tätigkeiten sehr ähnlich sind.
Im Zusammenspiel mit den Behörden war zwar erkennbar, dass alle miteinander einen geeigneten Weg der Bewältigung der Krisensituation suchen; trotzdem waren Abstimmungen häufig schwierig, weil Informationen oft unklar blieben, kurzfristig kamen und schnell überholt waren. Ein Beispiel: Es gab Gerüchte über Einreiseverbote aus den Nachbarländern. Spät am Abend kommt die Information, dass Mitarbeiterinnen aus Slowenien am nächsten Tag nicht zum Dienst kommen werden, weil sie Sorge haben, nicht mehr nach Hause zu können. Eine rasche Abklärung mit dem zuständigen Bezirkshauptmann bringt Gewissheit, dass das nicht stimmt und die rechtzeitig ausgestellten Bestätigungen ihnen weiterhin gesicherte Ein- und Ausreise ermöglichen. Jetzt zeigt sich, dass manch verloren geglaubte Stunde bei Empfängen und Veranstaltungen doch sinnvoll war, weil ein gutes Netzwerk kurze Klärungen und rasche Lösungen ermöglicht.
In den Pflegewohnhäusern gibt es Besuchsverbote und aufwändige Vorsichtsmaßnahmen auf der einen Seite. Andererseits werden Menschen aus dem Krankenhaus ohne Testung in das Pflegewohnhaus entlassen. Nur langsam gibt es die notwendige Schutzkleidung, die wir in der Pflege, aber auch in vielen anderen Bereichen, dringend brauchen. Der Alltag in den Pflegewohnhäusern verändert sich grundlegend. Die über Jahre aufgebauten Modelle der Unterstützung durch Freiwillige und Angehörige können nicht weitergeführt werden. Manchen Bewohnerinnen und Bewohnern ist schwer zu vermitteln, warum das so ist. Eine demenzkranke Frau fragt jeden Tag die Betreuerin: „Was habe ich falsch gemacht, dass niemand zu mir kommt? Alle anderen bekommen noch Besuche“. Sie kann diese Erfahrung nicht mehr einordnen, spürt aber sehr gut, dass etwas anders ist. All das beansprucht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besonderer Weise und braucht intensive Begleitung.
Die Problematik Bildung und Beschäftigung
Die Schließung der Schulen und die Neuorganisation des Unterrichts war eine große Herausforderung. Gerade bei unseren Zielgruppen fehlt vielfach eine ausreichende IT-Ausstattung zu Hause, wir vermitteln dazu Geräte. Unsere 32 Carla-Geschäfte mussten geschlossen werden. Die dort über Beschäftigungsprojekte tätigen Menschen können nicht ohne weiteres in anderen Bereichen eingesetzt werden, dagegen sprechen arbeitsrechtliche Fragen, aber auch Kompetenzen und Voraussetzungen. Wir mussten daher für etwa 160 Menschen Kurzarbeit anmelden. Das erforderte umfassende Abklärungen mit dem Betriebsrat, mit den Betroffenen und dem AMS. Gleichzeitig ist damit ein Einnahmenverlust von mehreren hunderttausend Euro pro Monat verbunden. Wir versuchen einen Teil der Betroffenen in neuen Aufgabenbereichen einzusetzen, wie z.B. in der Produktion und Verteilung von Schutzkleidung oder zur Unterstützung bei der erweiterten Lebensmittelausgabe.
Freiwilligenmanagement
Die Caritas ist ganz wesentlich in ihrer Arbeit von Freiwilligen mitgetragen und auch Einsatzstelle für mehr als 100 Zivildiener. Viele der Freiwilligen gehören der Corona-Risikogruppe an. Mit ihnen musste gut abgeklärt werden, wie sie sich schützen und welche Aufgaben sie weiter wahrnehmen können. Gleichzeitig meldeten sich viele neue Freiwillige, und es ging darum, Bereitschaft und Einsatzmöglichkeiten gut abzustimmen und die Menschen auch qualifiziert zu begleiten. Zivildiener werden in neuen Tätigkeitsfeldern eingesetzt, ihre Einsatzzeit wird verlängert und außerordentliche Zivildiener werden angefordert, um den Pflegebetrieb gut abzusichern.
Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising
Die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ist in diesen Tagen auf die Krise konzentriert, alle Tätigkeiten und Aktivitäten werden unter diesem Blickwinkel betrachtet. Das bedeutet auch für die Caritas, dass die verschiedenen Aufgabenfelder stark im öffentlichen Fokus stehen. Es wird zu konkreten Diensten nachgefragt, aber es geht im Sinne anwaltschaftlichen Handelns auch darum, Positionierungen vorzunehmen und darauf zu achten, dass die Schwächsten gesehen werden.
Für die Haussammlung, die abgebrochen werden musste, war spontan eine Alternative zu entwickeln, um die fehlenden Spenden gerade für die stärker nachgefragte Nothilfe auszugleichen. Erfreulicherweise gibt es aber auch breite Unterstützung. Die Bischofskonferenz und große Unternehmen leisten erhebliche Beiträge. Bei allem Bemühen um finanzielle Mittel braucht es aber auch einen scharfen Blick auf die Not der Menschen, die bestimmend ist für das, was wir zu tun haben. Und wir müssen der Versuchung widerstehen, die Spendengewinnung nicht zum dominierenden Motiv werden zu lassen.
Alle diese Herausforderungen müssen bewältigt werden, während wir die gesamten Arbeitsprozesse neu gestalten, etwa die Umstellung hunderter Arbeitsplätze auf Homeoffice. In der Digitalisierung machten wir innerhalb weniger Wochen große Fortschritte. Hier wurde wesentliche Vorarbeit einzelner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fruchtbar für die Gesamtorganisation.
Die Größe der Caritas mit beträchtlichen Ressourcen ist in dieser Situation ein Vorteil. Die Bereiche sind unterschiedlich stark von der Krise betroffen, daher ist intern ein Ausgleich und manche Umschichtung möglich. Gleichzeitig liegt darin die größte Herausforderung, weil wir nicht mit einer einheitlichen Strategie reagieren können. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es besonders schwierig, anzuerkennen, dass ein Teil der KollegInnen übermäßig gefordert ist und andere in Kurzarbeit gehen müssen, aber es sind eben die unterschiedlichen Aufgabengebiete und Qualifikationen zu berücksichtigen.
Caritas als kirchliches Wirken
Die Kirche lebt in den drei Grundvollzügen Diakonie, Verkündigung und Liturgie. Auch in der Krise zeigt sich, dass die Caritas in ihren vielfältigen Aufgaben und Diensten gut in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Wichtig wird es sein, dass zukünftig dieses Tun auch als kirchliches Wirken erlebt wird und dass die seelsorglichen Strukturen das Miteinander mit den Caritas-Einrichtungen stärker suchen. Nur so kann es gelingen, dass die Kirche insgesamt in der Krise eine bestimmende gesellschaftliche Kraft ist. Gerade eine Gesellschaft, die sich in dieser Dimension als verwundbar und verletzlich erlebt, braucht Religionsgemeinschaften, die Orientierung und Sinn geben.
Mag. Herbert Beiglböck, MBA, ist Direktor der Caritas Steiermark.
Bild: Caritas Steiermark