Die Kolumne für die kommenden Tage 52
Was es bedeutet, wenn das Antlitz des*der Nächsten fehlt; was es bedeutet, eine Kirche zu sein, die machtlos und hilflos ist, wie alle Welt. Wie sollten wir geeicht sein, um mit Fragen umzugehen, die sich gegenwärtig in uns drängen und gären? Darum geht es hier.
Neue nachösterliche Zeit
Darüber nachzudenken, wie man mit Krankheit lebt, was das Leben in und mit Krankheit ist, darin habe ich zufällig viel Erfahrung, denn meine Krankheit ist ab ovo. Um genau zu sein: Krankenhäuser und Kranksein gehören zu meinen frühsten Erinnerungen, da ich mit einem schweren Herzfehler geboren worden bin und seit langem einen Schrittmacher trage. In zahlreichen Situationen meines Lebens war alles in Frage gestellt. Oft musste ich zurückkommen, aufholen, zurückstecken, mich anderen übergeben, verzichten, den Kurs wechseln, oder war ich nicht sicher, ob ich für die da sein kann, die ich liebe. Eine Krankheit, die bleibt, ist wie ein Schatten, will sagen: Sie gibt allen Umrissen Kontur und Riss.
Also, wie lesen wir Covid-19 als Zeichen der Zeit? Hierzu möchte ich vier Thesen vorschlagen, die mir helfen, mein Leben mit Krankheit zu leben und darin Sinn zu entdecken.
ERSTE THESE: Es gibt keine magische Linie zwischen Krankheit und Gesundheit. Krankheit ist die Skala, an der wir das allgemeine Lebensriskio kontextualisieren. Die Verweigerung, Risiko zu kontextualisieren, führt zur Verabsolutierung des Kranken oder des Heils. Ein Vollkasko-Dasein ist eine Fiktion, die auf Irrwege führt. Anderswo habe ich diese kurzsichtige binäre Perspektive salutonormativ genannt: alle Krankheitsbilder, Institutionen, Vorstellungen vom Heil, Normen oder Gesetze sind von gesunden Menschen für gesunde Menschen formuliert worden. Das müssen wir als Kirche verändern oder an einer fiktiven Heilsvorstellung verenden.
ZWEITE THESE: Denn alles was wir tun, ist infiziert, insuffizient, ist defizitär, ist erkrankt, ist kurzgesagt unvollkommen und unzulänglich. Dies schmerzt. Ist aber so. Sich gewiss zu sein, dass keine Handlung, keine Lösung perfekt ist, macht uns vielleicht mehr offen, Kompromisse zu finden, Fehler zu akzeptieren, den Makel einzupreisen.
DRITTE THESE: Niemand ist schuld an der Krankheit. Das Virus ist nicht das Virus der anderen. Theolog*innen nennen dies malum physicum, ein natürliches Übel, das ohne Handlungen von Menschen hervorgebracht wird.
VIERTE THESE: Wir sollten nicht sofort verzagt nach dem Staat, nach Gott, nach der*dem Nächsten rufen, sondern umgekehrt uns so disziplinieren, vorbereiten, einüben, stärken, damit wir eine Stütze für den Staat, für Gott und unsere Nächsten sein können. Was hier zu tun ist, ist oft viel einfacher zu erkennen, als man denkt: lernen, wie man nützlich und hilfreich sein kann. Kurzum: Sei eine Stütze und rufe nicht nach der Krücke.
Zeit des schniefenden Gottes
Was ich damit sagen möchte ist dies: eine Fastenzeit, an die sich eine Erlösung anschließt ist nicht drin. Eine Krankheit sozusagen auszufasten, sie wie einen Aussetzer, eine Übergangszeit, eine Zeit der Prüfung zu behandeln, ist schief. Eine Pandemie mit der Fastenzeit zu vergleichen, ist binäres Denken, beruht auf einer unehrlichen Vorstellung dessen, was Erlösung bedeuten kann.
Die neue nachösterliche Zeit hingegen, die ich meine, ist nicht eine binäre Zeit. Sie hebt nicht die Krankheit auf und macht nicht heil. Was ich meine, ist die Zeit des schniefenden Gottes, ist ein Husten im Halleluja. Deshalb glaube ich, sollten wir für die generationelle Aufgabe der Neubegründung unseres Glaubens und der Kirche in dieser neuen österlichen Zeit vier Prinzipien walten lassen: 1. Krankheit braucht Kontext und ist nicht das Gegenteil von Gesundheit; 2. alles Tun ist imperfekt und die Illusion des vollkommen Richtigen, Guten, Perfekten, Makellosen führt auf Irrwege; 3. Niemand ist schuld – krank ist ein Adjektiv und kein Namenswort; 4. sei eine Stütze und rufe nicht nach der Krücke.
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Autor: Paul-Henri Campbell ist Mitarbeiter in der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Limburg und Schriftsteller. Er erhielt den Bayerischen Kunstförderpreis 2017 und 2018 den Herman-Hesse-Förderpreis. Zuletzt erschien der Interviewband „Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst“ sowie der Gedichtband „nach den narkosen“ (beides Wunderhorn-Verlag, Heidelberg).
Foto: Kelly Sikkema / unsplash.com