Thomas Staubli kritisiert mit Vehemenz einen Artikel von Irène Dietschi im Magazin «Horizonte» des Schweizer Nationalfonds und besteht auf dem revolutionären Potential der christlich-jüdischen Tradition – auch in Geschlechterfragen.
In der Dezembernummer 2015 des Forschungsmagazins «Horizonte» des Schweizer Nationalfonds erschien ein Artikel von der unter anderem mit dem Zürcher Journalistenpreis und dem Prix Média der SAMW ausgezeichneten Wissenschaftsjournalistin Irène Dietschi über neue Erkenntnisse der Gen-Biologie (S. 10-15). Es geht um «differences of sexual development», kurz DSD, wie sie an vorderster Front von der Freiburger Professorin Anna Lauber-Biason erforscht werden.
Das Fazit dieser Forschung und ergo Titel des Artikels: «Es gibt mehr als Frau und Mann.» Der Grund dafür: Die altbekannten XX- und XY-Chromosomen sind nur ein Bausatzteil im Prozess der geschlechtlichen Individuation. Damit diese stattfindet, bedarf es, wie sich mehr und mehr herausstellt, einer Hormon-Kaskade, die von weiteren Gensequenzen gesteuert wird und die höchst fragil und damit fehleranfällig ist. Wird sie gestört, so bilden Menschen mit männlichem Chromosomensatz weibliche Geschlechtsmerkmale aus und umgekehrt. Geschlechter jenseits von männlich und weiblich sind die Folge, für die aber leider die gesellschaftliche und rechtliche Akzeptanz noch fehlt.
So weit die Facts. Irritierend nun, dass diesem Artikel ein gigantisches, doppelseitiges Bild vorausgeht, auf dem die Hand eines orthodoxen Popen in Goldbrokat zu sehen ist, der einen Säugling im weißen Täuflingskleid, gehalten von einer Frau, tauft.
Der erste Satz dieser Legende ist grundfalsch.
Dazu der Legendentext: Mit der Taufe erhält ein Kind nicht nur den Namen, sondern wird rituell Teil der Gesellschaft und damit einer Rolle zugewiesen. Von den beliebtesten 50 Vornamen für Jungen in der Schweiz sind alle eindeutig, bei den Mädchen geht nur Nummer 38 für beide Geschlechter: Lynn.»
Der erste Satz dieser Legende ist grundfalsch. Mit der Taufe wird das Kind nicht Teil der Gesellschaft, sondern Teil der christlichen Gemeinschaft und es wird gerade keiner Rolle zugewiesen. Die Taufe ist das pure Gegenteil davon. Der christliche Schlüsseltext lautet (Galater 3,27-28):
«Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, ihr habt Christus angezogen.
Da ist nicht Jude noch Grieche,
da ist nicht Sklave noch Freier,
da ist nicht männlich und weiblich;
denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.»
Ein avantgardistischerer, antiker Text zum Thema des Horizonte-Artikels ist kaum denkbar, aber er wird nicht nur ignoriert, sondern durch das Gegenteil ersetzt.
Jesus von Nazareth durchbricht ständig traditionelle Rollenerwartungen.
Es ist eine religionssoziologische Binsenwahrheit, dass der Erfolg des Christentums als neuer Religion im Konzert der religiös äußerst bunten Welt des Mittelmeerraums vor zweitausend Jahren maßgeblich auf seiner Relativierung ethnischer, sozialer und geschlechtlicher Schranken beruht (Meeks). Der Spitzensatz des Paulus steht dabei keineswegs isoliert im neutestamentlichen Schriftgut.
Auch Jesus von Nazareth durchbricht ständig traditionelle Rollenerwartungen, sei es, dass er im Johannesevangelium einen Jünger hat, den er liebt, dass er eine Freundin hat, der er nach der Auferstehung als erster begegnet, dass er seine leibliche Familie radikal relativiert zugunsten seiner Nächsten, dass er damals gängige männliche Rollenmuster nicht erfüllt und in einer patriarchalen Gesellschaft Sohn bleibt oder dass er punkto seines zunächst reservierten Verhältnisses gegenüber Nichtjuden einen Lernprozess durchläuft.
Dass es nebst diesen Rollen relativierenden Grundlagentexten auch Geschlechterhierarchien aufbauende und zementierende neutestamentliche Texte gibt, welche die bürgerliche Gesellschaft übrigens weidlich ausgeschlachtet hat, sei damit selbstverständlich nicht in Abrede gestellt. Aber gerade in der Taufe geht es um die Feier eines egalitären Ideals, dem die Gläubigen nacheifern sollen, und nicht um die Demonstration und Festigung von Unterschieden und Hierarchien. Rosa und hellblaue Kleider für äußerlich sexuell noch kaum unterscheidbare Säuglinge ist eine bürgerliche Erfindung. Das Christentum kennt nur das einheitliche weiße (Tauf-)Gewand, das zum Beispiel auch bei der römisch-katholischen Erstkommunion vielerorts wieder verwendet wird.
Unnötig darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Namensstatistik im zweiten Satz der Legende mit christlicher Tradition nichts, mit bürgerlicher Geschlechtereindeutigkeit jedoch einiges zu tun hat? Bekannte Namen wie Rainer Maria Rilke oder Jean-Marie Le Pen belegen, dass gerade die christliche Namenstradition eine Relativierung des Geschlechts kennt, die den auf Eindeutigkeit bedachten Namensgeschmack der postchristlichen Mehrheitsgesellschaft vielleicht ebenso provoziert wie die Erkenntnisse der jüngsten Genforschung.
… gelenkt durch einen subtilen Legendentext, werden Falschheiten und Vorurteile über das Christentum kolportiert.
Das doppelseitige, farbige Bild sagt also nicht nur nichts aus über den Inhalt des folgenden Artikels, es kolportiert darüber hinaus, gelenkt durch einen subtilen Legendentext, Falschheiten und Vorurteile über das Christentum. Aufschlussreich ist es hingegen für die Haltung eines religiös ignoranten Wissenschaftsjournalismus gegenüber dem Christentum.
1. Das Christentum wird willkürlich mit rückständigen Positionen assoziiert.
Es muss hinhalten für eine Gesellschaft, die den Menschen vorschnell in traditionelle Rollenschemata einteilt, für eine Weltanschauung, die durch Fakten der modernsten biologischen Forschung gleichsam falsifiziert wird. Es steht für die Welt, die die Menschheit in XX- und XY-Wesen einteilt, obwohl nun deutlich wird, dass es noch XXY-, X- und weitere Wesen gibt. Dass die Einteilung in XX- und XY-Wesen ein Resultat gerade nicht des Christentums, sondern einer auf bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnis fußenden bürgerlichen Gesellschaft ist, wird dadurch überdeckt.
In den Taufrodeln stehen nur Namen wie Rainer Maria. Ob das Kind männlich oder weiblich ist, wird dort nicht spezifiziert. Dass es seit mehr als dreißig Jahren eine intensiv geführte, innerchristliche Gender-Debatte gibt, in der gerade auch die oben erwähnten biblischen Texte eine Rolle spielen, erfährt man nicht. Ebensowenig ist von den gesellschaftlichen Rollen die Rede, die das Christentum alternativ zur Ehe anbietet und die noch heute in vielen bürgerlichen Gesellschaften zu den wenigen Alternativen gehören, die Menschen, denen die Ehe keine Heimat bietet, offenstehen. Die Tatsache, dass viele homosexuelle Menschen Priester oder Nonnen wurden, um dadurch etwas weniger zu Außenseitern zu werden, sei in diesem Zusammenhang auch einmal positiv ins Feld geführt.
2. Das Christentum repräsentiert dadurch eine zu überwindende Welt.
Innerhalb der Logik des Artikels steht das Christentum damit für eine zu überwindende Gesellschaft, die nur zwei Optionen kennt, wo es vier und mehr geben müsste. Dass die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Optionen gerade nicht von den Kirchen abhängt, sondern dass die bürgerliche Gesellschaft selber sich mental und letztlich auch rechtlich reformieren muss, wird damit verunklärt. Dass gerade das Christentum zu den Erkenntnissen der Biologie und ihren gesellschaftlichen Folgen Unterstützendes zu sagen hätte, wie obiges Zitat aus dem Galaterbrief zeigt, kommt gar nicht in den Blick. Die christliche Religion wird nur als konservative, wenn nicht gar als reaktionäre Größe wahrgenommen und entsprechend instrumentalisiert.
3. Das Christentum wird zu diesem Zweck künstlich exotisiert.
Statt eines reformierten Pfarrers im Anzug oder einer katholischen Pastoralassistentin in einer bescheidenen einfarbigen Albe wird ein Pope bei der Taufe abgebildet, was in der Schweiz vielleicht gerade mal bei 1-2% der Taufen der Fall sein wird. Das Christentum erscheint dadurch als irgendwie orientalisch-exotisch, und dadurch als pompös, fremd und antiquiert. Die Bildsprache unterstreicht die gewünschte Distanz zur nüchternen Welt wissenschaftlicher Faktizität, die gewollte Distanz zwischen einem angeblich folkloristischen, rückständigen Glauben und seriösem, modernem Wissen.
4. Die Thematisierung des Christentums erweist sich als uninformiert, ja religiös ungebildet.
Damit der Artikel so publiziert werden konnte, wurden grundlegende Kategorien wie (bürgerliche) Gesellschaft und (kirchliche) Gemeinschaft verwechselt, christliche Grundlagentexte, Sitten und Ansichten zur Taufe ignoriert, innerchristliche Diskurse und Unterschiede missachtet. Das Schlimmste daran ist, dass man den Eindruck hat, dass es nicht wider besseres Wissen passierte, sondern in ignoranter Unschuld. Der Artikel dokumentiert vermutlich eine fortgeschrittene Entfremdung von der hiesigen Mehrheitsreligion, zugleich aber auch eine unverfrorene Instrumentalisierung dessen, was man gar nicht mehr kennt.
5. Der Artikel ist daher wissenschaftsjournalistisch unqualifiziert und damit verantwortungslos.
Horizonte wird in einer Gesamtauflage von 54’500 Exemplaren gedruckt und darüber hinaus via Internet verbreitet. Unzählige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler informieren sich über das Organ, was in anderen Gebieten läuft. Der doppelseitige Blickfang zementiert da, sofern er nicht als Ärgernis wahrgenommen wird, latente Vorurteile über das Christentum.
6. Der Artikel ist daher letztlich christenfeindlich,
denn er tut genau das, was man sich punkto Judentum, Islam, Homosexualität oder ethnischen Minderheiten in diesem Journal niemals erlauben würde: Vorurteile werden entgegen dem, was man wissen könnte, wenn man sich informierte, effektvoll verbreitet und damit zementiert. Das Christentum wird zu einer Geisteshaltung degradiert, von der die Schreibenden offenbar hoffen, dass sie möglichst bald wissenschaftlich überwunden wird.
….leider kein Einzelfall.
Der Artikel ist leider kein Einzelfall. Er belegt, dass die unreflektierte Christenfeindschaft inzwischen in den Wissenschaftsetagen angelangt ist, weshalb ich es für notwendig hielt, ihn exemplarisch zu besprechen. Wer nicht will, dass das Christentum allmählich in der Abteilung Folklore und Aberglauben kompostiert wird, tut gut daran, sich gegen seine dreiste Verunglimpfung zu wehren und an seine vitalen und bis heute revolutionären Quellentexte und Traditionen zu erinnern. Letzteres ist heute offensichtlich nicht nur gegenüber sektiererischen Kreisen innerhalb der Kirchen notwendig, sondern mehr denn je auch gegenüber religionsfernen «Aufklärern».
Link zum diskutierten Beitrag: http://www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/horizonte/Horizonte_gesamt/Horizonte_107_D.pdf, S. 10-15.
Literaturhinweis: Meeks, Wayne A. Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993.