Die Samstagsrezension. Von Wolfgang Beck
Kein Tattoo ohne persönliche Geschichte! Diese Beobachtung steht am Beginn des Buches des jungen Schriftstellers und Theologen Paul-Henri Campbell. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf ein markantes, ästhetisches Gegenwartsphänomen des 21. Jahrhunderts. Längst haben Tattoos das Image des Halbseidenen verlassen. Und sie lassen sich auch nicht mehr nur als jugendkulturelle Protestform gegen bürgerliche Lebensstile abtun. Sie sind in einem kulturellen Umfeld einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) zu einem der vielen Felder avanciert, auf denen Menschen ihr Selbstverständnis und ihre Identitätskonstruktion ausdrücken. Eine Fülle von Zeichen und Symbolen greift nicht nur die vielfältigen kulturellen und religiösen Traditionsbestände auf, sondern korreliert sie darüber hinaus mit persönlichen Erfahrungen, Biographien und Schicksalen.
Sie riskieren vielfältige Deutungen
Das Buch von Campbell präsentiert 16 sehr persönliche Gespräche mit Tattoo-Künstler*innen und Träger*innen von Tattoos, die deren persönliche Bedeutung aufzeigen. Es sind tiefgehende Zeugnisse davon, wie Menschen sich selbst und ihren Lebensweg deuten und ausgedrückt sehen wollen. Dabei steht die christliche Symbolwelt im Fokus, ohne sich jedoch in den kulturellen Wurzeln von Tätowierungen oder in der großen Geschichte der christlichen Symbolwelt, die als Zitate immer wieder aufgegriffen werden, zu verlieren. Es sind gerade die gegenwartskulturellen Zuschreibungen von Bedeutungen, die den Autor interessieren: Hier drücken Menschen gegenüber ihrer Umwelt etwas sehr Persönliches aus und riskieren vielfältige Deutungen und Wahrnehmungen durch ihre Umwelt. Mit jedem Tattoo wird eine „expressive Hingabe an die Außenwelt“ angeboten und ein dialogisch offener Austausch initiiert, der auch als Spur zum Selbst verstanden werden kann.
mit priesterlicher Berufung
Der französische Künstler Mikaël de Poissy entwickelt an den Kathedralfenstern seiner Heimat einen eigenen „Style Troubadour“ mit großflächigen Heiligenfiguren. Das Verständnis der Tattoos als existentielle Ikonografie wird hier anschaulich. Und die Wahrnehmung von Tätowierer*innen als Menschen mit einer geistlichen Berufung wird darin erkennbar, dass sie Menschen dabei helfen, zum Kern ihres Selbstverständnisses vorzudringen. Die Entwicklung von den ersten Gesprächen bis zum rituell vollzogenen Abschluss des Tattoos wird so zu einer spirituellen Weggemeinschaft.
intensive Biographiearbeit
Es geht diesen Tätowierer*innen nicht um die Arbeit mit kleinen Bildchen, sondern um prozessorientierte Biografiearbeit mit konkreten Menschen. Und dieser Prozess spannt sich zwischen der individuellen Geschichtlichkeit der Menschen und ihrer Körperlichkeit aus.
Tradition der Pilgertätowierungen
Die fotografischen Arbeiten der Journalistin und Nahost-Korrespondentin Andrea Krogmann würdigen die Bedeutung religiöser Tattoos als Ausdruck eigener Identität in einem vielfältigen und fragilen kulturellen Umfeld. Mit ihr rückt der Blick auf die Tradition der Pilgertätowierungen, die gerade in Jerusalem im Rahmen von Pilgerreisen bis in die Gegenwart beliebt sind. Solche Tattoos drücken nicht nur ein Bekenntnis aus, sondern auch die einschneidende Erfahrung der besonderen Pilgerreise.
Kunst als Lebensbegleiterin
Die Tätowierungen, die mit den facettenreichen und tiefgründigen Gesprächen und faszinierenden Bildern spirituelle Welten erschließen, sind Kunst und dabei intensiver mit ihren Besitzer*innen verbunden, als es von jedem anderen Kunstwerk gesagt werden kann. Diese Kunst wird nicht gezeigt, sondern gelebt und prägt ihrerseits als 24-Stunden-Begleiterin das Leben. Sie verändert nachhaltig das Erscheinungsbild, das Auftreten, die Kommunikation und Beziehung mit anderen Menschen. Mit ihrer Dauerhaftigkeit erlangen die Tattoos in einem durch Beschleunigung und Wandel geprägten Umfeld eine stabilisierende Funktion. Sie geben Halt.
Diese Kathedralen richten den Blick
auf Fragen existentieller Suche
Faszinierend ist die Vielfalt von Gesprächspartner*innen des Autors: Es gibt nicht nur die Stars der Szene. Im Gespräch sind auch eine Fotografin, ein Journalist und Redakteur einer Fachzeitschrift, Tätowierer*innen, Ausbilder*innen, ein Jesuit und ein Tankstellenbetreiber. Sie alle ermöglichen persönliche Einblicke und werden vom Autor nicht mit der Faszination am Exotischen vorgeführt. Stattdessen ermöglicht Paul-Henri Campbell mit einem sehr hintergründigen und einfühlsamen Zugehen auf die Lebenswege der Menschen und ihre spirituelle Suche. Die gotischen Kathedralen können mit beeindruckender Architektur den Blick der Menschen zum Himmel richten. Die hier vorgestellten, „bunten Kathedralen des Selbst“ richten den Blick auf tiefgehende Fragen des Lebens und eine Ikonografie des Suchens.
Buch: Campbell, Paul-Henri, Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2019.
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Autor: Wolfgang Beck, Mitglied der feinschwarz-Redaktion, Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M.
Foto 1: Bildausschnitt „Passion of Christ“; Foto: Damiono Lucidi, Eternal City Tattoo, Rom.
Foto 2: Buchcover
Foto 3: Mikael de Poissy (Paris)
Foto 4: Tools und Stencil aus dem Studio Razzouk in Jerusalem, Schiran Golan (Tel-Aviv)