Gestern abend endete der Ramadan. Das Ende des Fastens wird gemeinsam gefeiert. Dieses Fest bedeutet Solidarität für die Gemeinde und gemeinsame Freude, aber auch soziale Verantwortung. Von Mahmoud Abdallah.
Der Begriff „Fest“ ist ambivalent. Als Nomen drückt das Wort ein Ereignis aus, welches Geschenke, Freude, arbeitsfreie Zeit, Entspannung oder Reisen und Wiedersehen der Lieben mitbringt, aber auch zugleich Stress (Geschenke zu Weihnachten), Trauer (Geburtstag eines Fortgegangen im Familien- oder Freudenkreis), oder (oft im Islam) auch Streit über die Festlegung von dessen Eckdaten. Als Adjektiv ist das Wort nicht weniger komplex: „Es steht fest“ ist eine alltäglich-gängige Formulierung, die Sicherheit spendet und Verlässlichkeit und Vertrauen betont, aber zugleich Hoffnungslosigkeit (etwa auf Änderung einer unpassenden Situation) und Einschränkung assoziiert.
Im Islam gibt es viele Feste, davon sind zwei unumstritten. Das erste ist das Fest nach dem Fastenmonat, dem 9. Monat im islamischen Kalender, also dem „christlichen“ September. Dieses Fest fällt im Jahr 2020 auf Sonntag, den 24. Mai. Das zweite ist das Fest nach der Pilgerfahrtzeit, etwa zwei Monate und zehn Tage nach dem ersten Fest, also im „christlichen“ Dezember, es heißt Opferfest. Dazu gibt es eine Reihe von Festen bzw. Anlässen, deren Feiern in den Gemeinden oder Freundeskreisen umstritten ist, wie etwa der Geburtstag des Propheten Muhammad, der Beginn des islamischen Jahres, der Tag Aschura[1], der 10. Tag des ersten Monats im Jahr, Muharram (in 2020 fällt er auf 24. August auf), oder den eigene Geburtstag.
Zuckerfest – ungesundes Ende nach einem gesunden Monat?
Das Fest nach dem Fastensonntag Ramadan ist im europäischen Kontext als Zuckerfest bekannt, eine Bezeichnung, die zum einen den besten Beweis für einen europäischen Islam mitbringt und zum anderen den Pragmatismus des Islam nachweist. Wo kommt der Name her? Bedient die Namensvergabe vielleicht das exotische Bild über den Islam, nach dem Motto: Nach der Enthaltung für einen ganzen Monat und dem sparsamen, vernünftigen Umgang mit Ernährung durch das Fasten, schließen Muslime das Ganze mit einer großen Party voller Süßigkeiten ab. Auch wenn die gesundheitlichen Vorteile des Fastens noch umstritten sind, sind die Schäden des Zuckers jedem bekannt – dadurch rückt das Paradoxe ins Zentrum: Gesunde Zeit, ungesundes Ende!
Oder dient die Bezeichnung „Zuckerfest“ hingegen einem kommunikativen Ziel und entstammt einer Praxis? Zum Ende des Fastenmonates wird süßes Gebäck – sog. Islamische Weihnachtplätzchen – gebacken. Statt nach Zimt riechen die Häuser hier eher – regional und sozial bestimmt – nach Hasel- und Erdnüssen, Mandeln oder Pistazien. Gebacken wird über eine Woche lang, ständig und täglich. Das Gebackene wird zum Fest für Gäste reserviert, an Nachbarn und Verwandte verteilt und an Arme als Spende gegeben. In klassischen muslimischen Gesellschaften wird damit die Koranrezitation am Friedhof an diesen Festtagen bezahlt, denn Muslime suchen anlässlich des Festes nicht nur den sozialen Kontakt zu ihren lebendigen Lieben, sondern auch zu den Fortgegangenen.
Von diesem Brauch sowie aus dem Grund, dass Kinder an diesem Fest mit vielen Süßigkeiten beschenkt werden, kommt der Name „Zuckerfest – türkisch: Şeker Bayramı“. Den muslimischen Arabern ist diese Bezeichnung nicht bekannt. Dort redet man vom „Fastenbrechenfest“, weil damit die Fastenzeit zu Ende geht, oder „kleines Fest“, weil es nur drei Tage dauert, während das Opferfest vier Feiertage und somit auch eine längere arbeitsfreie Zeit mit sich bringt. Der Begriff „Zuckerfest“ ist somit ein Versuch, mit dem Westen auf einer Ebene des Verstehens und Zusammenlebens zu kommunizieren, ohne das Theologische ins Zentrum zu rücken, ein Versuch des sozialen Zusammenlebens und der Integration.
Religiöse Feste – mehr als einen Anlass zum Feiern?
Heute geht der Ramadan, der Fastenmonat im Islam, zu Ende und das Zuckerfest (umgangssprachlich: kleines Fest) wird gefeiert. Ein religiöser Anlass, um die Spiritualität des Fastens zu krönen, den Fastenden zu belohnen und die Gemeinde zusammenzubringen. Das Fest bringt Solidarität für die Gemeinde, Freude für den Körper und Vervollkommnung für die Seele mit sich, ist aber zugleich eine Prüfung. Die soziale Verantwortung des Menschen wird geprüft, eine soziale Verantwortung, in die sich der Fastende den ganzen Monat eingeübt haben musste.
Im Islam ist jeder Mensch nicht nur in der Lage, sondern auch aufgefordert, soziale und geistige Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen zu übernehmen. Neben der Familie, welche an erster Stelle der sozialen Verantwortung für das Individuum (vgl. Q 2:83; 7:189 und 30:2) steht, wird auch die Glaubensgemeinschaft der Muslime, Umma, als Gegenstand der brüderlichen und religiösen Solidarität und des gegenseitigen Zusammenhalts (vgl. Q 3:103 und 49:10) thematisiert. Dementsprechend spricht der Koran den Menschen nicht nur als ein Subjekt an, das in individueller Verantwortung vor Gott steht, sondern auch als eines, das eingebunden in kleine und große soziale Zusammenhänge ist.
Fasten bedeutet sprachlich „Enthaltung“. Im Fasten steht die religiöse Verantwortung im Zentrum unserer Wahrnehmung (Fasten, Beten und Koranrezitation machen den Alltag aus), doch das Fest stellt die ethische Verantwortung des Menschen ins Zentrum. Am Ende des Fastenmonates haben die Muslime die Zakat (soziale Abgabe) zu entrichten. Diese soll vor dem Beginn des Festes ausbezahlt werden und dafür sorgen, dass die Menschen ungeachtet ihres sozialen Status das Fest gleichermaßen feiern und genießen können. So fordert eine Überlieferung die Muslime auf, die Bedürftigen an Festtagen vor Anfragen um Hilfe zu beschützen, damit sie das Fest mit voller Würde und Ehre mitfeiern können.
Die Zakat soll folgerichtig die Würde des Menschen als unantastbares Gut stären. So setzt diese soziale Abgabe – und das ist das Besondere daran – eine aktive Arbeit der Menschen voraus. Mit anderen Worten: Ein sozialer Staat befreit die Menschen nicht von der Verantwortung, anderen zu helfen. Der persönliche Kontakt, das menschliche Mitgefühl und die eigene Verantwortung werden zum Fest besonders angesprochen. Das mag in einer pluralen Gesellschaft schwierig sein, aber gerade deswegen ist diese Aufgabe enorm wichtig.
Durch den persönlichen Bezug zu den Menschen, ihren Notlagen, ihrem Leid und zugleich durch das Miterleben ihrer Freude kommt der Mensch seinen Aufgaben als Statthalter (Kalif) Gottes auf Erden (Q 2:30) nach. Das Fest setzt voraus, dass der Mensch sich um die Menschen in seinem sozialen Kontext kümmert, mit ihnen im Gespräch und auf dem aktuellen Stand bleibt und persönlichen Kontakt sucht. Ansonsten kann er nicht herausfinden, wer die Bedürftigen sind. So soll sich der Mensch mit seiner Umgebung auskennen, um seinen Beitrag zum sozialen Staat leisten zu können.
Wann das Zuckerfest seine Ziele verfehlt!
Die Zakat soll vor Habsucht (Q 100:8), vor Neid und negativer Eifersucht (Q 17:26), vor Vereitelung und Ungemach (Q 2:264), vor Entwertung des Menschen (Q 20:118) und Verschuldung schützen. Es wird hier nicht erwartet, die Abgabe an den Staat oder eine bestimmten Moschee oder Organisation zu geben, sondern idealerweise an die Bedürftigen persönlich. Die Zakat appelliert an die Menschen, für das Wohl ihrer Mitbürger selber verantwortlich zu sein und entsprechend zu handeln, statt dem (sozialen) Staat alles überlassen.
Dementsprechend gibt es die Zakat nicht nur in Form von Auszahlung von Geld, sondern für jede Gabe und Gnade Gottes gibt es eine Art Zakat, sodass sich Reiche wie Arme daran beteiligen können: Es gibt Zakat für die Gesundheit, dass man etwa eingeschränkten Menschen (beim Einkaufen) hilft; Zakat für das Wissen, dass man etwa das Wissen weitergibt bzw. Schülern Nachhilfe anbietet; Zakat für die Freizeit, wie etwa der Besuch von Verwandten oder in einen Seniorenheim usw.. Zakat ist ein Stichwort für jegliche Form sozialer Solidarität allen Menschen gegenüber – ungeachtet ihrer ethnischen, geographischen oder religiösen Zugehörigkeit, die zum Zuckerfest seinen Hohepunkt erreichen sollte – und das durch persönliche Mitwirkung, sonst hat das Zuckerfest seine Ziele verfehlt. Mit der Bezahlung der Zakat ohne richtige Anstrengung zu erfahren, wie es den Menschen geht, wird die religiöse Pflicht erfüllt, die ethische Verantwortung bleibt jedoch unvollendet.
Ich hoffe, die Lehren des Fastens prägen uns weiterhin, und ich hoffe, dass die ganze Menschheit aus dieser Krise klüger, solidarischer und spiritueller
herausgeht und wir in Zukunft unsere Umwelt und unsere Mitmenschen besser schützen können.
Allen Muslimen gesegnetes Fest – ʿId Mubarak
Allen Nichtmuslimen – es ist wieder Zeit für einen gemeinsamen Kaffee.
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Dr. Mahmoud Abdallah ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik der Universität Innsbruck.
[1] An diesem Tag sind nach muslimischen Überlieferungen wichtige Ereignisse passiert, die alle einen bemerkenswert interreligiösen Bezug haben, wie z. B. die Vergebung Gottes gegenüber Adams, die Landung der Arche Noah auf dem Berg Ararat, und die Rettung der Propheten Abraham und Moses. Das Fasten dieses Tages geht im Islam auf das Letztgenannte zurück. Die Wahrnehmung ist im Islam sehr ambivalent. Konservative sunnitische Muslime sprechen gegen dessen Feiern (und das Feiern der anderen Anlässe ebenso) und begnügen sich mit dem Fasten an diesem Tag. Im schiitischen Islam ist dieser Tag von enormer Bedeutung und steht für ein Ergebnis, welche die Spaltung in Sunnit-Schiit sehr stark prägte und gilt somit als Trauertag. Er beschließt die zehntägige Trauerzeit um Hussain, dem Enkelkind des Propheten, der an diesem Tag ermordet wurde.
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