Religiöse LGBTIQ-Personen befinden sich in einem Staat wie Bosnien und Herzegowina im Niemandsland zwischen jenen Gruppen, denen sie angehören. Das kann als existentielles Problem der Einzelnen begriffen werden, aber auch als theologische, religiöse, pastorale und kirchliche Tragödie. Von Tanja Grabovac.
In dem mit einem Oscar ausgezeichneten Film „No Man’s Land“ aus dem Jahr 2001 verwendete Regisseur Danis Tanović den Ausdruck „Niemandsland“, um die Tragödie und Absurdität des Krieges in Bosnien symbolisch darzustellen. Derselbe Begriff kann als Symbol für die Absurdität vieler anderer menschlicher Tragödien verwendet werden, viele davon auf demselben bosnischen Boden. Zwischen zwei kämpfenden Frontlinien standen sich zwei gegnerische Soldaten, Bosniak und bosnischer Serbe, verwundet auf dem Niemandsland, auf dem Minenfeld gegenüber.
Die LGBTIQ-Gemeinschaft wächst
In der bosnischen Nachkriegsgesellschaft gewinnen Aktivismus und Kampf für die Menschenrechte immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Die LGBTIQ-Gemeinschaft wächst, erhält internationale Unterstützung, erhält öffentliche Reaktionen und nimmt Einfluss auf die Gesellschaft. Die wachsende Sichtbarkeit bedeutet nicht sofort eine Allianz mit der konservativen bosnischen Gesellschaft. Im Gegenteil: Je mehr Sichtbarkeit, desto größer sind Gewalt und Diskriminierung und die Notwendigkeit des Schutzes auf rechtlicher, gerichtlicher und internationaler Ebene.
Während des LGBTIQ-Aktivismus der letzten Jahre sieht sich die LGBTIQ-Gemeinschaft mit der Diskriminierung auf politischer und staatlicher Ebene konfrontiert, mit der Nichtanerkennung friedlicher Protestmärsche, mit Angriffen auf das Queer Festival in Sarajevo, mit Angriffen auf Aktivisten usw. Der Erfolg des Aktivismus hing stark vom Erfolg der Organisation der ersten Pride Parade in Sarajevo und damit Bosnien-Herzegowina am 8. September 2019 ab, dem letzten Land, das die Pride Parade in post-jugoslawischen Ländern veranstaltete.
Katholische Kirche unter den Kritikern der Pride Parade
Unter den Kritikern an der ersten Pride Parade in Gesellschaft und Politik, so etwa durch eine islamistische Gruppe von Wahhabiten (Vehabije), spielte auch die katholische Kirche in Bosnien und Herzegowina eine große Rolle. Die Erzdiözese Sarajevo formulierte: „Homosexuellenparaden fordern angeblich ‚Rechte‘ für Homosexuelle und setzen sie mit den Menschenrechten gleich. Aber es ist nur allzu klar, dass es nach kirchlicher Lehre keine signifikante Verbindung zueinander gibt… Daher wird die katholische Kirche niemals in der Lage sein, irgendeine Forderung zu unterstützen, der die Relativierung oder sogar die Amnestie der Sünde zugrunde liegt. Von daher kann sie weder die Homosexuellenparade unterstützen noch sie rechtfertigen“.
Konfrontiert man die LGBTIQ-Gemeinschaft und die katholische Kirche, aber nicht nur sie, sondern auch die Islamische Gemeinschaft und die Serbisch-Orthodoxe Kirche in Bosnien und Herzegowina, gelangt man zu der begründeten Vermutung, dass wir es in Bosnien mit zwei gegnerischen Truppen, LGBTIQ-Gemeinschaft und Religionen, zu tun haben. Man muss auch davon ausgehen, dass jede Aktion der LGBTIQ-Gemeinschaft eine Gegenreaktion bei den drei religiösen Gemeinschaften auslöst. Und in der Tat ist diese Beziehung kompliziert und in Kürze nur schwierig zu erklären. Jahrhunderte lang geformte religiöse Identitäten werden mit der Identität der LGBTIQ-Gemeinschaft konfrontiert.
Mitglied in gegnerischen Gruppierungen
Aber in beiden Gruppen gibt es einige Mitglieder, die im Zwischenraum existieren. Ihre Existenz kann symbolisch beschrieben werden als eine Existenz im Niemandsland, in niemandes Religion, in niemandes Gesellschaft: Es geht um religiöse LGBTIQ-Personen oder LGBTIQ-Personen, die ihre religiöse Identität nicht einfach aus ihrer Persönlichkeit verschwinden lassen können.
Es geht um die Existenz auf einem Minenfeld, einer etwas anderen Art von Minenfeld als dem zuvor beschriebenen. Dort stehen Soldaten an unterschiedlichen Fronten und kommen erst später an den Punkt der Absurdität ihrer Unterschiede, der Absurdität ihrer Konfrontation. Im religiösen LGBTIQ-Minenfeld besitzen die Personen beide Identitäten aus entgegengesetzten Lagern. Sie repräsentieren diese gegensätzlichen Lager vollständig und repräsentieren gleichzeitig keines von ihnen. Sie durchdringen beide Seiten, werden aber auch von beiden Seiten auseinandergerissen. Sie sind ihre eigenen Verbündeten, aber auch ihre eigenen Feinde.
Drei Ebenen des Problems: Existenz, Anerkennung und Repräsentation
Näher hin zeigen sich Fragen auf drei Ebenen: der Ebene der Existenz, der Anerkennung und der Repräsentation. Es stellt sich die Frage des alltäglichen Kampfes religiöser LGBTIQ-Personen sowie die Frage ihrer Anerkennung: Wer erkennt sie an? Werden sie in der LGBTIQ-Gemeinschaft oder/und in der katholischen Kirche oder einer anderen Religion gleichermaßen anerkannt? Die dritte Frage ist die der Repräsentation: Wer vertritt sie? Wer vertritt ihre Rechte, ihre Bedürfnisse?
Wenn wir diese drei Fragen aus der Perspektive des religiösen LGBTIQ-Minenfeldes betrachten, gelangt man zu der umgekehrten Entdeckung. Während sich die Betroffenen der Existenz beider Seiten bewusst sind, wird ihre eigene Existenz innerhalb dieser beiden Seiten kaum gesehen. Während sie die Existenzformen erkennen, die sie umgeben, werden sie selbst nicht erkannt. Und obwohl sie mit ihrer Identität als religiöse und LGBTIQ-Personen beide Seiten vertreten, werden sie von keiner dieser Seiten wirklich repräsentiert.
Von keiner Seite wirklich vertreten
Während in anderen, meist westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten viele religiöse LGBTIQ-Gruppen und -Plattformen innerhalb ihrer religiösen/kirchlichen Konfessionen oder unabhängig voneinander funktionierten, ist dies in Bosnien und Herzegowina und fast in der gesamten Balkanregion immer noch nicht der Fall. Viele religiöse LGBTIQ-Personen in Bosnien und Herzegowina wollen nicht Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft und ihrer Veranstaltungen sein. Sie wollen nicht als Mitglied der LGBTIQ-Gemeinschaft gesehen werden. Einige andere religiöse LGBTIQ-Personen sind offene Aktivisten innerhalb der LGBTIQ-Gemeinschaft.
Wenn man all diese Themen im Überblick sieht und analysiert, kann man diese kurze Übersicht so zusammenfassen: Religiöse LGBTIQ-Personen befinden sich im Niemandsland: eine religiöse Tragödie religiöser LGBTIQ-Personen. Das ist in der Tat eine echte religiöse und pastorale Tragödie, neben vielen anderen, auch wenn viele sie nicht als Tragödie bezeichnen werden, sondern eher als Verteidigung des traditionellen Weges. Diese Tragödie kann als eine tiefe existentielle Tragödie einer einzelnen Person begriffen werden, aber auch als theologische, religiöse, pastorale und kirchliche Tragödie.
Auch wenn man auf der Suche nach einem glücklichen Ende nicht allzu optimistisch sein sollte, wartet im religiösen Niemandsland der LGBTIQ-Gruppe eine enorme Offenbarung: die Erkenntnis über die ganze Absurdität all unserer Kriege und all unserer Spaltungen.
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Tanja Grabovac ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz.
Foto: Maida Zagorac (die erste Pride Parade in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina, 8. September 2019)