Kann es ein moralisches Recht auf Wohnraum in der Stadt geben? Was genau würde ein solches Recht bedeuten und wie wäre es umzusetzen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein ökumenisches Forschungsprojekt in Berlin und Frankfurt am Main, das Clemens Wustmans vorstellt.
Die Diagnose ist eigentlich kaum umstritten: Für viele Menschen ist bezahlbarer Wohnraum in den wirtschaftsstarken Ballungsräumen denkbar knapp und oft kaum bezahlbar geworden. Die politische und ökonomische Debatte über unterschiedliche Lösungsstrategien, die mehr oder weniger stark auf ein Eingreifen des Staates setzen, wird kontrovers geführt.
Begründet ist die Kontroverse auch in den – meistens nicht offen ausgewiesenen – sehr unterschiedlichen Auffassungen davon, was mit einem Mangel an bezahlbarem urbanem Wohnraum auf dem Spiel steht. Geht man davon aus, dass die Frage nach Wohnraum in städtischen Ballungsräumen einfach im Bereich individueller Wünsche und Entscheidungen liegt, dann ist sie aus moralischer Sicht quasi neutral. Ein Eingreifen der öffentlichen Hand in das „freie Spiel des Marktes“ ist dann nicht plausibel.
Individueller Wunsch oder Gerechtigkeitsfrage?
Wenn sich aber Gründe dafür benennen lassen, die Frage des Wohnraums als Gerechtigkeitsfrage zu verstehen, dann stellt sich die Lage anders dar: Wenn also der Zugang zu Wohnraum in der Stadt z.B. die Bedingung für bestimmte Arbeitsverhältnisse ist oder aufgrund viel weniger nötiger Mobilität zu größerer Nachhaltigkeit beiträgt, dann wäre es eine Frage, die die ganze Gesellschaft angeht.
Der Begriff „urban“ meint zunächst einmal die Größe einer Siedlung: Er verweist auf große Großstädte (mit mehr als 500.000 Einwohnern) und ihr Umland oder auf großstädtische Ballungsräume (wie etwa die Region Rhein-Neckar). Das besondere Interesse an urbanen Orten des Wohnens geht aber auf die Vorstellung einer Stadtkultur zurück, die ihren Bürger*innen einen besonderen Zugang zu ökonomischen, sozialen und politischen Chancen ermöglicht.
„urbanes Wohnen“ und Stadtkultur
In den Städten der beginnenden Industrialisierung wohnte der Großteil der Bevölkerung unter einfachsten Bedingungen und in qualvoller Enge. Mit zunehmender Entwicklung des Wohlstands kam es dann für breitere Schichten auch zu einer allmählichen Verbesserung der Wohnraumsituation, die allerdings durch den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs von Phasen akuten Wohnungsmangels unterbrochen wurde.
Auch wenn sich die Lage mit der Herausbildung der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (so Helmut Schelsky 1953) im Westen wie im Osten Deutschlands zu entspannen begann, blieb die Wohnungsfrage auch im 20. Jahrhundert auf der Agenda. Erstmals seit dem Wiederaufbau sprach man Mitte der 1990er Jahre von einer ausreichenden Wohnraumversorgung. Konsequenterweise nahm das Thema Wohnen immer weniger Raum in den politischen Debatten ein.
Das Thema Wohnen verschwindet Mitte der 1990er von der politischen Agenda.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts und spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise steigt jedoch die Zahl der Haushalte wieder an, die Schwierigkeiten bei der Suche nach passendem Wohnraum haben. Besonders deutlich zeigt sich die Entwicklung in den Ballungsräumen. Neben der Abnahme des sozialen Wohnungsbaus dürfte auch die steigende Attraktivität urbaner Räume zu den wesentlichen Ursachen gehören. Mit ihr intensivierte sich der Wettbewerb um Immobilien bzw. um Mietwohnungen, die gut gelegen, angebunden und ausgestattet sind.
Mit steigenden Mieten, weltweit niedrigen Zinsen und der Erwartung steigender Immobilienpreise wurden Immobilien immer mehr zu begehrten Investitions- und letztlich auch Spekulationsobjekten. Im Zuge dieser Entwicklungen hat sich in den Ballungsräumen Wohnraum, der auch für untere und mittlere Einkommensschichten bezahlbar ist, zu einem knappen Gut entwickelt.
seit der Finanzkrise – Immobilien als Investitions- und Spekulationsobjekte
Obwohl das Problem des bezahlbaren Wohnraums also eine ausgeprägte normative Dimension hat, haben sich in der Philosophie, der politischen Ethik und auch der theologischen Ethik in den letzten drei Jahrzehnten nur wenige Autor*innen und diese zumeist nur in einzelnen kleineren Schriften mit der Thematik auseinandergesetzt.
Allerdings wird man zur Frage nach einem möglichen Recht auf urbanes Wohnen in kirchlichen Diskussionen zu Eigentum an Grund und Boden, Vermögensverteilung und Raumordnung durchaus fündig. Für die Kirchen wie für die theologische Sozialethik war dieser Zusammenhang seit Beginn der Bundesrepublik von Bedeutung; nicht nur, weil die Kirchen selbst als gemeinnützige Wohnungsanbieter auftraten (und auftreten) – auch ihr gesellschaftspolitisches Engagement galt als erwünscht.
theologische Sozialethik: menschenwürdiges Wohnen bei freier Wahl der Wohnart für möglichst viele
In den Debatten war in katholischen wie evangelischen Traditionen die Frage nach der Funktion des Grundeigentums leitend. Seitens der katholischen Sozialethik wurde nach dem Prinzip des Naturrechts das gängige Eigentumsverständnis in Bezug auf die Frage nach Wohnraum kritisch kommentiert: Da Boden und Wohneigentum den Rang einer gewöhnlichen Handelsware hätten, würden durch die steigenden Bodenpreise viele Menschen vom Kauf bzw. der Anmietung von Wohnraum ausgeschlossen. Stattdessen müsse ein menschenwürdiges Wohnen bei freier Wahl der Wohnart für möglichst breite Kreise ermöglicht werden.
In der evangelischen Sozialethik benannte Artur Rich bereits 1964 – angesichts einer Konzentration von Arbeitsplätzen in Ballungszenten – die Wohnungsfrage als zentrales Problem im Zusammenhang der Verteilung von Eigentum. Ein in der Zeitschrift für Evangelische Ethik veröffentlichter Entwurf problematisierte, dass Personen, die bereits Bodeneigentümer*innen sind, durch die Erhöhung der Bodenpreise von völlig unverdienten Wertzuwächsen profitierten.
Gemeinsame kirchliche Stellungnahmen früherer Jahrzehnte…
Wie hoch die Übereinstimmung zwischen evangelischen und katholischen Positionen war, wurde besonders deutlich in dem gemeinsamen Memorandum „Soziale Gestaltung der Bodenordnung“ (1973), erstellt durch die Kammer für soziale Ordnung der EKD und den Arbeitskreis „Kirche und Raumordnung“ beim Kommissariat der Deutschen Bischöfe. Dass der Text ursprünglich sogar als gemeinsame Denkschrift geplant war, verdeutlicht, wie bedeutsam es beiden Kirchen in den 1970er Jahren erschien, hier eine überkonfessionelle christliche Haltung zum Thema zu entwickeln.
… heute wieder aufgreifen!
Es lohnt sich, diese Diskussionen, die in beiden Konfessionen intensiv geführt wurden, dann ein wenig in Vergessenheit geraten und trotzdem heute als Problem hoch aktuell sind, wieder aufzugreifen – und Frankfurt am Main und Berlin scheinen besonders geeignete Standorte, an denen Sozialethik und damit Theologie zeigen kann, welche Bedeutung sie für die Gesellschaft in ihrer jeweils konkreten Umgebung haben kann.
Geht man (wie wir) davon aus, dass es moralisch richtig ist, ein Recht auf urbanen Wohnraum zu fordern, bleiben Fragen: Worin genau könnte ein solches moralisches Recht bestehen? Wer wäre als Adressat eines solchen Rechtes angesprochen? Und wie ließe es sich rechtlich oder wohnungspolitisch umsetzen – vor allem so, dass überzeugende Gründe für ein Recht auf urbanes Wohnen (beispielsweise höhere Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit) auch tatsächlich realisiert werden? Gerade diese Begründungen sind aus christlicher Perspektive alles andere als randständig, und entsprechend lohnt es sich, konkret aufzuzeigen, wo immer sich Bausteine zu ihrer Verwirklichung umsetzen lassen können.
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Dr. Clemens Wustmans ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Ethik und Hermeneutik) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit Prof. Dr. Torsten Meireis (Berlin) sowie Prof. Dr. Bernhard Emunds und Julian Degan (Philosophisch-Theologische Hochschule St. Georgen) leitet er das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt „Gibt es ein Recht auf urbanen Wohnraum? Sozialethische Analysen“.
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