Schaufrömmigkeit, ein fragwürdiger Sinn von ‚Stellvertretung‘, neu erfahrene Gemeinschaft unter Gläubigen – was bedeuten die Unterbrechungen der Corona-Krise für den gelebten Glauben? Egbert Ballhorn spürt seinen persönlichen Erfahrungen nach.
Vielleicht war es das größte Experiment in der Liturgiegeschichte: Von einem Augenblick auf den anderen wurden aufgrund der Pandemie alle öffentlichen Gottesdienste ausgesetzt. Eigentlich dachte man als katholischer Theologe, dass der eigene Blick auf die Liturgie gefestigt sei. Doch das erzwungene Pausieren und die Erlebnisse um Ausfälle, Leerräume und neue Formen haben bei mir viel in Bewegung gebracht und Fragen aufgeworfen. Können wir aus der Krise für unsere zukünftige Gottesdienstpraxis lernen, statt möglichst schnell einen „Normalbetrieb“ anzustreben, der doch auch einem schleichenden Veränderungsprozess unterworfen ist? Das treibt mich um.
Andere Räume, unterbrochene Zeiten
Den Ausfall der sonntäglichen Eucharistie hat es in meinem gesamten bewussten Leben noch nicht gegeben. Unerwartet war, was mir fehlte und was auch nicht. Den Gottesdienst musste ich mir nehmen lassen, nicht jedoch den Kirchgang. Gott sei Dank war meine Pfarrkirche geöffnet. Sonntags setzte ich mich zur Gottesdienstzeit in die leere Kirche, genoss das Licht und das Schweigen und las und meditierte in aller Ruhe die biblischen Lesungen. Das benötigte so viel Zeit, wie sonst die gesamte Eucharistiefeier. Erstaunlich, wie die biblischen Texte im Normalbetrieb ohne Atemholen durchgehuscht werden und in der Fülle der Worte randständig werden.
Ich merkte schnell: Ich brauche den Kirchenraum als Ortswechsel, eine Decke, die viel höher ist als die meiner Wohnung, Weite, Licht und Nichtstun. Andere Räume, unterbrochene Zeiten. Und das Schweigen! Ob die vielen Worte der vielen Gottesdienste und der in ihnen Redenden nicht vielleicht auch Platzhalter sind und sein sollen für den Raum der Stille? Ich erlebe sonst eine große Furcht vor der Stille im gottesdienstlichen Geschäft und im Handeln der Kirchen, einen gewaltigen Druck, Leerräume unmittelbar mit Eigenem zu füllen.
Und während ich Sonntag morgens dort saß und vermisste und genoss, kam Trost: Die Tür ging immer wieder auf, Gemeindemitglieder traten ein. Und dann ergaben sich einfach Dinge: Wir beteten in Stille gemeinsam, bis eine sagte: „Jetzt sind wir einmal hier, jetzt können wir auch singen“. Das war schön. Und ich habe gelernt: Für mich ist die erfahrbare Gemeinschaft der Gläubigen unersetzlich. Es müssen nicht meine Freunde sein, es reicht, dass ich Menschen treffe, die dasselbe glauben und hoffen wie ich. Und es müssen nicht viele sein. Meine Panik vor dem Schrumpfen von Gemeinden hat sich seitdem gelegt. Wie schön, wenn es überhaupt Menschen gibt, die der Glaube zusammenführt. Was wollen und müssen wir denn mehr, außer vor Gott zu sein?
Worin besteht der Auftrag Christi heute an uns?
Natürlich ergeben sich auch Rückfragen. Mich hat irritiert, wie die Kirche mit der Eucharistie umgegangen ist. Der eilige Dispens von der sonntäglichen Eucharistie als eines der ersten Worte vieler Bischöfe in der Krise. Und verletzt hat mich die unmittelbar eintretende Dichotomie von Priestern und Gläubigen. Priester feierten weiterhin Eucharistie, und Gläubige nicht. Manche kirchlichen Amtsträger sprachen vom eucharistischen Fasten, das sie den Gläubigen empfahlen, während sie selbst sich hinter verschlossenen Türen an Leib und Blut des Herrn sättigten. Durch gestreamte Messen fühlte ich mich mitunter an mittelalterliche Formen der Schaufrömmigkeit zurückerinnert. Der Graben zwischen Klerikern und Laien hat sich in meiner Wahrnehmung vertieft. Der Begriff der Stellvertretung hat eine eigenartige Schieflage erfahren. Können Priester die Gläubigen ersetzen?
Der Geschenkcharakter der Eucharistie, das nicht Machbare, ist der Dreh- und Angelpunkt des Sakraments. Stehen die Priester vielleicht in der Gefahr, aus den Augen zu verlieren, dass auch sie auf das Geschenk angewiesen sind und es sich nicht selbst bereiten können? Jede Form von Amt, gleich wie es gestaltet sein mag, steht in der Gefahr der habitualisierten Zugriffsmöglichkeit auf das, was ihm als Dienst für die Gemeinschaft nur anvertraut ist. Größte Hochachtung empfinde ich für die Priester und Konvente, die gemeinsam mit dem Volk Gottes gefastet haben.
„Der Auftrag Christi muss erfüllt werden“, sagte ein Liturgiewissenschaftler in jenen Tagen. Das ist wahr. Nur: Müssen wir nicht viel intensiver nachfragen, worin der Auftrag Christi heute an uns, an die Gläubigen und an die Kirche, besteht? Haben wir uns vielleicht zu sehr daran gewöhnt, alles was wir (liturgisch) tun, mit dem Willen Christi gleichzusetzen?
Es geht nicht so sehr um die Art des Formates, sondern um die Weise des Feierns
Durch äußere Umstände erzwungen, haben viele Katholikinnen und Katholiken überraschende Erfahrungen mit Liturgie gemacht. Viele ältere Menschen sind mit sie selbst verwundernder Leichtigkeit auf Fernsehgottesdienste ausgewichen oder auf die Übertragung der Papstmesse im Internet und stellen fest, wie sattmachend gut vorbereitete und mit innerer Präsenz gefeierte Gottesdienste sind. An manchen Orten treten sie in einen unerwarteten Kontrast zur Geschäftigkeit und Geschäftsmäßigkeit gewohnter gemeindlicher Feiern. Das schlichte Streamen von Messen zeigt mitunter manches in Großaufnahme, was bei der Mitfeier im selben Raum sonst den Augen verborgen bleibt. Was ich nicht erwartet hätte: Vielen auch älteren Menschen fehlt die Gemeinschaft der Gläubigen, gemeinsames Feiern und gemeinsamer Austausch; das Sakrament der Eucharistie ist ihnen dagegen länger verzichtbar, als sie es bisher gewohnt waren. Oder geht es eher darum, wie das Sakrament in die Feierform eingebettet ist?
Neue und gute Erfahrungen gibt es mit nicht nur in das Internet übertragenen, sondern im Format von Netzkonferenzen gemeinsam gefeierten Gottesdiensten. Die einseitige Form der Kommunikation ist hier aufgebrochen. Alle, die mitfeiern, teilen etwas miteinander und teilen sich in einer Weise mit, die den Glauben bestärkt. Schaue ich hierauf, wird mir deutlich, dass es nicht um die Formate geht, sondern die Art und Weise des Feierns.
Man muss wollen, was man tut
Meine eigenen Überlegungen kreisen um zwei Punkte. Zum einen: Wie steht es um die innere Präsenz der Feiernden und des Gefeierten, um geistliche Wachheit in dem, was getan wird? Mir scheint das Zentrum zu sein: Man muss wollen, was man tut. Eine Freundin brachte es auf den Punkt: „Es gibt ein Festgeheimnis, es gibt einen biblischen Text, und es gibt die Aktualität des Tages, das muss man nur wach zusammenbringen“. Das wird nach meinem Eindruck von der derzeitigen Gottesdienstkultur nicht eingeholt. Ein Beispiel: In jedem Gottesdienst warte ich sehnsüchtig darauf, dass in ihm gebetet wird. Das erlebe ich nur in Sternstunden.
Stattdessen werden Orationen und Fürbitten üblicherweise vorgelesen. An diesem Unterschied hängt alles. Und Stille ist Voraussetzung für das Gebet, Atemholen. Der andere Punkt: Wir haben es versäumt, eine Kultur partizipativer Gottesdienste zu entwickeln. In der jetzigen Feierform ist Liturgie immer noch großteils Tun der Amtsträger, weniger Feier des ganzen versammelten Volkes Gottes. Man muss wollen, was man tut. Es liegt nicht an der Lehre, es liegt an der Praxis. Dass in Krisenzeiten die eucharistische Frömmigkeit der Gläubigen nahezu lautlos ausgeschaltet werden kann, ist selbst ein Krisenzeichen. Vielleicht liegt es am performativen Widerspruch. In jeder Messe werden die Herrenworte „Das ist mein Leib“ mit der inneren Haltung zitiert „das ist so gemeint“, die gleich darauf folgenden Worte „Trinkt alle daraus“ jedoch mit dem Unterton „das ist nicht so gemeint“. Man muss meinen, was man sagt. Das Wort hat Gewicht.
Ein Schatz von Menschen
Ich möchte nicht einem naiven und ungezügelten Aktionismus in der Gottesdienstfeier das Wort reden. Die Frage beschäftigt mich jedoch intensiv: Wie kann der Glaube meiner Mitchristinnen und Mitchristen, um den ich in diesen Wochen nicht nur wusste, sondern den ich in den notgedrungenen „Ersatzfeiern“ gespürt und leibhaftig erfahren habe, der mich in diesen Wochen ernährt und getragen hat, auch in zukünftigen Weisen der Gottesdienstfeiern sichtbar bleiben? Warum beispielsweise gibt es einen immer reicheren Schatz von Menschen, die Erfahrungen mit lectio divina und der Kommunikation im Glauben haben – und nichts davon findet Eingang in die sonntägliche öffentliche Liturgie der Gemeinden? Warum, um Himmels willen, werden sie nicht gebraucht? Manches geschieht im Verborgenen und drängt sich nicht auf. Liturgie als Feier der gesamten Kirche, nicht als Tun ihrer Amtsträger, ist eine vor uns liegende Aufgabe.
Es ist an der Zeit, innezuhalten, gerade nicht möglichst schnell wieder in einen „Normalbetrieb“ hineinzufinden. Ich habe den Eindruck, dass unsere Kirche im aufopferungsvollen, aber strukturell zunehmend verzweifelten Bemühen, eine flächendeckende eucharistische Versorgung der Gemeindestrukturen sicherzustellen, wichtige Dimensionen aus den Augen zu verlieren droht. Freilich, die Amtsfrage und die Geschlechterfragen sind gestellt und müssen als Auftrag der Zeit im Licht des Evangeliums neu beantwortet werden, sonst läuft jedes andere Bemühen ins Leere. Darüber hinaus stehen weitere fundamentale Fragen an, die die immer gleichen bleiben, der sich jedoch jede Generation zu stellen hat: Wozu sind wir da als Kirche? Wie feiern wir Gottesdienst? Wie gelingt es uns, Räume zu schaffen, in denen wir auf die Stimme Gottes hören?
Er kommt uns entgegen. Es geht um das innere Verständnis dessen, wozu wir gesandt sind. Wir müssen uns auf die Suche begeben.
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Dr. Egbert Ballhorn ist Professor für Altes Testament in Dortmund und Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.
Bild: E. Ballhorn – Brennender Dornbusch, St. Bonifatius – Dortmund.