Das Werk: ein Oratorium eines gläubigen Katholiken und begnadeten Musikers. Das Thema: das letzte Buch der Bibel, die „Offenbarung“ des Johannes. Der Text: fast ausschließlich Bibeltext aus eben diesem biblischen Buch. Die Zeit: der aufkommende Nationalsozialismus. Das Resultat: grandiose Musik mit scheinbar biblischer Botschaft – und prekärer Schlagseite. „Das Buch mit sieben Siegeln“ von Franz Schmidt ist ein Beispiel für Bibelrezeption im Jahr 1938. Von Elisabeth Birnbaum.
Das Werk
„Das Buch mit sieben Siegeln“ von Franz Schmidt (1874–1939) gilt in Österreich als eines der wichtigsten großen Chor-Orchester-Werke der Spätromantik und als eines der bedeutendsten biblischen Oratorien allgemein. Schmidt schrieb an dem Werk von 1935–1937. Es sollte im März 1938 in Wien uraufgeführt werden, durch die Ereignisse rund um den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland verschob sich die Uraufführung auf Juni 1938 und wurde dann hymnisch gefeiert.
Wer Franz Schmidt auf die Idee brachte, sein Werk zu schreiben, ist nicht sicher. Viele, darunter auch ein enger Freund Schmidts, vermuten den Dirigenten Oswald Kabasta als Inspirationsquelle. Dieser, Katholik und Parteimitglied der NSDAP, habe ihn in den frühen Dreißigerjahren davon überzeugt, dass „katholisch Trumpf sei und er die Apokalypse des Johannes vertonen müsse.“[1] Kabasta dirigierte auch die Uraufführung, ebenso wie später einen (von Schmidt unvollendeten) Jubelhymnus auf den Führer.
Ein beliebtes Buch
Die „Offenbarung“ war nicht nur in Zeiten des Austrofaschismus, sondern auch des Nationalsozialismus ein beliebtes Buch. Nicht nur wegen der Idee eines heilbringenden „tausendjährigen“ Reiches, das als „ewiges“ Reich, als „Endphase der nationalsozialistischen ‚Heilsgeschichte‘“ verstanden wurde.[2] Auch die Endzeit-Szenarien, die schrecklichen Plagen und Kriege als unumgängliche Vorboten der Erlösung, die Verdammung der Feinde und der Sieg der Erwählten schienen geeignete Motive zu sein, die bewegte Zeit zu deuten. Von Feinden des Nazi-Regimes ebenso wie von Freunden: „Vielerorts wurde die Apk [=Offb] in Deutschland am Sonntag nach der Reichspogromnacht (13.11.1938) als gottesdienstliche Lesung benutzt.“[3]
Doch auch diejenigen, die Franz Schmidt nicht wohlgesonnen sind und seine Anbiederung an das austrofaschistische und später an das nationalsozialistische Regime kritisieren, sehen im „Buch mit sieben Siegeln“ einfach ein großartiges religiöses Werk eines katholischen Künstlers. Das Libretto des Werks besteht immerhin beinahe ausschließlich aus Bibeltext, noch dazu so gut wie nur aus einem einzigen biblischen Buch, dem Buch der „Offenbarung“ oder „Apokalypse“ (des Johannes). Dementsprechend selten sind genauere Untersuchungen über das „Wie“ der Bibelrezeption. Was sollte daran verdächtig sein?
Der endzeitliche Kampf und die Erlösten
Die biblische „Offenbarung (des Johannes)“ thematisiert die Endzeit. Die dramatische Vision zeigt zunächst einmal Gewalt, Krieg, Hunger und andere Plagen als unumgänglich vor dem Jüngsten Gericht und der Heilszeit für die Erlösten. Das Buch, in dem all jene verzeichnet sind, die vor dem Herrn bestehen und erlöst werden, ist nicht durch jedermann zu öffnen. Nur „das Lamm“, also Christus, ist würdig dafür. Sieben Posaunen erklingen nacheinander, jede bringt eine andere Plage mit sich. Zuletzt singen die Erlösten, die (Juden- und Heiden-)Christen, die Gott treu bleiben, Jubelgesänge. Schmidt folgte nach eigenen Angaben dem Duktus der Bibel, und tatsächlich fehlen weder die Plagen noch die Posaunen noch ein grandioses Halleluja. Erst bei näherem Hinsehen zeigen sich entscheidende Verkürzungen.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen
Offb 21,2 – bei Schmidt gestrichen
Endzeit ohne Israel
Die Vision der biblischen Johannes-Offenbarung gipfelt in einem erneuerten, endzeitlichen Jerusalem. Unter Rückgriff auf Ezechiels große Tempelvision wird die neue „heilige Stadt Jerusalem“ beschrieben: Sie ist prachtvoll und kostbar, erleuchtet von der Herrlichkeit des Herrn, bewohnt von Gott selbst und dem „Lamm“ (Offb 21). Im Oratorium dagegen fehlt jeder Hinweis auf Jerusalem. Der neue Himmel und die neue Erde entstehen an keinem bestimmten Ort. Es gibt keine Erwählten aus Israel (vgl. Offb 7,4–8). Die Bedrohung und Errettung der Stadt spielt keine Rolle. Die Vision wird aus seinem Israel-Kontext entwurzelt und universalisiert.
Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
Offb 5,5 – bei Schmidt gestrichen
Das betrifft auch den Messias selbst, „das Lamm“ Gottes. Er wird in Offb 5,5 eingeführt als „Löwe aus dem Stamm Juda“ und „Wurzel Davids“. All das wird im Oratorium ersatzlos gestrichen. Christus wird durch wenige Auslassungen entjudaisiert. Die Erlösten sind folgerichtig auch nicht mehr Juden und Heiden, die sich zu Jesus bekennen, sondern Christen ohne Vergangenheit und Verortung.
Die Synagoge des Satans
Umgekehrt fehlen aber auch Bibelverse, die von der Auslegungsgeschichte gerne antijüdisch verwendet wurden, allen voran Offb 2,9: „Und ich kenne die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden; sie sind es aber nicht, sondern sind eine Versammlung/Synagoge des Satans.“ – „Jude“ ist hier ein Ehrentitel. Ein „wahrer“ Jude ist einer, der an Christus glaubt, so die Aussage des Verses. Den anderen wird das „Jude-Sein“ abgesprochen.
In der Auslegungsgeschichte wurde zwar die „Synagoge des Satans“ eine beliebte Pauschal-Diskreditierung des Judentums, doch ohne dass „Jude“ dadurch ein positiv besetzter Begriff würde. Es wäre Schmidt ein Leichtes gewesen, diesen Vers in sein Werk aufzunehmen. Doch scheinen ihm Juden weder im Positiven noch im Negativen erwähnenswert zu sein.
… bis vollendet würden die tausend Jahre. Danach muss er losgelassen werden eine kleine Zeit.
Offb 20,3c – bei Schmidt gestrichen
Das tausendjährige Reich
Ein anderes, viel weniger durchgängiges Motiv der biblischen Offenbarung wird hingegen sehr wohl erwähnt: In der „Offenbarung“ ist von einer tausendjährigen Herrschaft die Rede (Offb 20). In dieser Zeit ist der Satan gefesselt: Das Oratorium zitiert die Verse 2–3: „Und er [der Engel, Anm. d. V.] ergriff den Drachen, die alte Schlange, die da heisset auch der Teufel und Satan, und band ihn für tausend Jahre. Und warf ihn in den Abgrund und verschloss und versiegelte ihn über ihm, dass er nicht mehr verführen sollte die Völker der Erde.“
In Schmidts Opus endet der Vers hier. In der Bibel nicht. Der Vers setzt fort mit: … „bis vollendet würden die tausend Jahre. Danach muss er losgelassen werden eine kleine Zeit (Offb 20,3c).“ In der Bibel ist der Sieg über den Satan also noch nicht das Ende. Es gibt ein Danach. Bei Schmidt hingegen wird die tausendjährige Herrschaft über den Satan zum endgültigen End- und Schlusspunkt der Geschichte.
Alles Wesentliche?
Wie Schmidt selbst zum Nationalsozialismus stand, ist umstritten. Über die Gründe und Motive seiner Textauswahl kann daher nur spekuliert werden. Er wollte nach eigenen Angaben „den Text auf eine Form … bringen, die alles Wesentliche womöglich dem Wortlaute nach beinhaltet und dabei die geradezu unübersehbaren Dimensionen des Werkes auf durchschnittlichen Menschenhirnen faßbare Maße brachte.“[4]
Ob aus antijüdischen Ressentiments, aus Furcht vor Repressalien oder aus reinem Desinteresse am Judentum – Tatsache ist, dass Schmidt jüdische und Israel-spezifische Inhalte nicht zu diesem „Wesentlichen“ zählte, eine „tausendjährige“ endgültige Heilszeit jedoch schon, wodurch der biblische Duktus zumindest reduziert, wenn nicht verfälscht wird. Und Tatsache ist auch, dass das bis heute kaum jemandem auffällt.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.
[1] J. Bednarik, Das Leben Alexander Wunderers, in: Journal Wiener Oboe https://www.bachgemeinde.at/Wunderer_3.pdf, einges. am 15. Juli 2020; S. 11.
[2] Klaus Vondung: Revolution als Ritual. Der Mythos des Nationalsozialismus. In: Ursula Härtl et al. (Hrsg.): „Hier, hier ist Deutschland…“ Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, Göttingen 1997, S. 52.
[3] Martin Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,14); EKK XXIV/1; 2017; S. 384.
[4] Programmheft der Uraufführung am 15.6.1938, zitiert in https://www.tamino-klassikforum.at/index.php?thread/17051-schmidt-franz-das-buch-mit-sieben-siegeln/; einges. am 14.7.2020.
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