Am 18. Juli 2020 starb der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff an den Folgen eines Unfalls. Sein Lebenswerk: Ethik im Namen der Vernunft. Ein Nachruf von Walter Schaupp.
Der plötzliche und unerwartete Tod von Prof. Eberhard Schockenhoff hat weit über universitäre, theologische und kirchliche Kreise hinaus Betroffenheit ausgelöst. Schockenhoff lehrte seit 1994 in Freiburg im Breisgau Moraltheologe und starb am 18. Juli 2020 mit 67 Jahren an den Folgen eines Unfalls bei sich zu Hause in Sölden, etwa zehn Kilometer südlich von Freiburg. Eberhard Schockenhoff war eine bekannte Persönlichkeit, nicht nur in der deutschsprachigen Moraltheologen/innen-Community, sondern auch im kirchlichen und öffentlichen Leben Deutschlands. Sein Urteil hatte Gewicht und wurde medial wahrgenommen. Über lange Zeit hinweg hat er sich vor allem zu lebensethischen Fragen wie embryonale Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik und selbstbestimmtes Sterben geäußert und immer wieder für einen umfassenden Lebensschutz plädiert. Innerkirchlich hat er in den letzten Jahren mit Forderungen nach einem offeneren Umgang der Kirche mit wiederverheiratet Geschiedenen und gleichgeschlechtlich Liebenden Aufmerksamkeit erregt.
Er sah es als unabdingbare Aufgabe der Kirche an, sich nicht in ein Ghetto zurückzuziehen, sondern die Auseinandersetzung zu suchen und gesellschaftliche Entwicklungen nach Kräften mitzugestalten. Aufgrund seiner Bereitschaft, seine Positionen ungeheuer sorgfältig darzulegen und differenziert zu begründen, schätzten ihn auch jene als Gesprächspartner, die in der Sache anderer Meinung waren als er. Mit Blick auf innerkirchliche Auseinandersetzungen hat er trotz aller grundsätzlichen Verbundenheit von der Kirche gefordert, die Lebensrealität des heutigen Menschen wie auch die Erkenntnisse der Humanwissenschaften ernst zu nehmen und moralische Positionen zu vertreten, die vernünftiger Weise nachvollziehbar sind.
Sein Tod hat ihn mitten aus einem noch andauernden Arbeits- und Schaffensprozess als universitärer Lehrer und Wissenschaftler gerissen. Vor wenigen Wochen noch hat er dem Verfasser dieser Zeilen einen Beitrag über die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Corona-Krise übersandt und dabei mit Freude bemerkt, dass sein neues Buch zur Sexualmoral bald erscheinen würde. – Was verbirgt sich hinter dieser Persönlichkeit?
Eberhard Schockenhoff wurde 1953 in Stuttgart geboren und studierte Theologie in Tübingen und in Rom. Er dissertierte in Tübingen bei dem bekannten Moraltheologen Alfons Auer und habilitierte später an derselben Fakultät bei dem Dogmatiker und späteren Kardinal Walter Kasper über das Thema Freiheit bei Origenes. Darüber hinaus war er Diözesanpriester der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Moraltheologisch wurde er in Rom durch den transzendental-hermeneutischen Ansatz Klaus Demmers geprägt und dann in Tübingen durch Alfons Auers „Autonome Moral“.
Er führte weder den einen noch den anderen Ansatz einfach fort. Prägend für sein ganzes weiteres Denken war die Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin im Rahmen seiner Dissertation Bonum Hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin (1987). Ging es hier um einen tugendethischen Fokus, so wird einige Jahre später in seinem Buch Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt (1996) ebenfalls an Thomas angeknüpft, nun aber an dessen Naturrechtstheorie und mit einem starken normativen Interesse. Wie der Untertitel andeutet, suchte Schockenhoff nach einem Weg, in einer Zeit, in der sich Normen verflüssigen und Werte pluralisieren, einen argumentativ begründbaren, minimalen Normenbestand zu sichern. Er interpretierte das gegenwärtige Ethos der Menschenwürde als neue Form eines universalen Naturrechts, in dessen Mittelpunkt Freiheit und Würde des Menschen stünden. Der menschlichen Vernunft kommt die kreative Aufgabe zu, in wechselnden historischen Situationen einen gültigen ethischen Orientierungsrahmen zu erstellen.[1] Zu diesem Kernbestand gehörte für ihn zentral der Schutz des Lebens, da das physische Leben die erste und nicht hintergehbare Bedingung für jeden Selbstvollzug des Menschen in Freiheit und Würde darstelle.
Neben diesem Interesse an unhintergehbaren, normativen Bedingungen des Menschseins, die von der Gesellschaft gesichert werden müssen, gibt es jedoch eine zweite Spur in seinem Denken. Sie wird in der Habilitation mit dem programmatischen Titel Zum Fest der Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes (1990) sichtbar. Wohl auf dieser Linie beschäftigte er sich immer wieder mit dem Gewissen als unverfügbaren und schöpferischen Ort moralischer Wahrheit. Der erste Beitrag zu diesem Thema stammt schon aus dem Jahr 1990 und trägt den Titel Das umstrittene Gewissen. Eine theologische Grundlegung. Ein Symposium anlässlich seines sechzigsten Geburtstags in Freiburg i.Br. nahm bewusst die Gewissensthematik auf und stellte sie, entsprechend seinem starken Engagement in medizinethischen Fragen, in einen medizinischen Kontext.[2]
Viele seiner Stellungnahmen sind von der Überzeugung geprägt, dass es in modernen Gesellschaften einerseits unverzichtbare minimale moralische Standards zu sichern gilt, andererseits aber der Spielraum persönlicher Lebensgestaltung nicht ungebührlich eingeengt werden darf. So hat er, was Fragen des Lebensendes betrifft, einerseits den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe zurückgewiesen, andererseits aber die Möglichkeit verteidigt, jenseits dieser Grenze frei über das Ausmaß an therapeutischen Maßnahmen am Lebensende zu verfügen.
Darüber hinaus wurde er durch einige umfangreiche und fundierte Monografien zu speziellen Themen wie Lebensethik[3], Ethik der Wahrhaftigkeit[4] und Ethik des Friedens[5] bekannt.
Über seine wissenschaftliche Tätigkeit hinaus war Schockenhoff langjähriges Mitglied des Nationalen Ethikrats bzw. des Deutschen Ethikrats, Herausgeber der „Zeitschrift für medizinische Ethik“ und zuletzt Mitglied des Forums „Sexualmoral“ des synodalen Wegs in Deutschland. In all diesen Kontexten zeichnete er sich, wie schon erwähnt, durch einen differenzierten und engagierten Reflexions- und Argumentationsstil aus, der die Konfrontation nicht scheute, aber in allem an die Kraft der Vernunft im Menschen vertraute.
Jene, die bei ihm in Freiburg studierten oder zu seinen MitarbeiterInnen zählten, schätzten seine unkomplizierte persönliche Zugänglichkeit, egal ob es um akademische oder um private Fragen ging. Er war ein zuverlässiger Begleiter bei akademischen Arbeiten. Regelmäßig konnte man in seinem Haus in Sölden in einem Ambiente, das im Lauf der Jahre mehr und mehr von modernen Kunstwerken geprägt war, seine offene und herzliche Gastfreundschaft genießen. Ein besonderer Dank gebührt ihm dafür, dass er trotz seiner vielen Verpflichtungen Einladungen zu Vorträgen immer annahm, wenn es seine Zeit zuließ, ganz unabhängig davon ob es um hoch akademische Veranstaltungen ging oder um niederschwelligere Bildungsangebote. Bis zuletzt war Eberhard Schockenhoff neben seiner beruflichen Tätigkeit auch ganz selbstverständlich als Seelsorger in der Gemeinde von Sölden präsent.
Es ist zu hoffen, dass Eberhard Schockenhoff in seinem Lebenswerk als Moraltheologe in die Zukunft weiterwirken wird.
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[1] Diese Thomasrezeption brachte ihm im Übrigen immer wieder heftige Kritik von Seiten zeitgenössischer, neuscholastisch orientierter Thomasinterpretationen ein.
[2] Vgl. dazu der Titel der Festschrift zu seinem 60en Geburtstag Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik, hrsg. v. Franz Josef Bormann u. Verena Wetzstein, Frankfurt 2014.
[3] E. Schockenhoff: Ethik des Lebens, Freiburg i. Br., 1993 und 2013 (zweite, erweiterte Auflage).
[4] E. Schockenhoff: Zur Lüge verdammt? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit, Freiburg i.Br. 2000.
[5] E. Schockenhoff: Kein Ende der Gewalt. Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg i.Br. 2018.
Autor: Univ.-Prof. i.R. Dr. Walter Schaupp, Moraltheologe in Graz, war von 1998 – 2003 in Freiburg i.Br. Assistent am Arbeitsbereich Moraltheologie und habilitierte in dieser Zeit bei Prof. Eberhard Schockenhoff.
Bild: Univ.-Prof. i.R. Dr. Walter Schaupp.