Judith Gruber wirft einen postkolonial informierten Blick auf die Antisemitismusdebatte um Achille Mbembe.
Eine Theologie, der ich mich verschreiben möchte, stellt Instrumente zur Verfügung, mit denen sich eingespielte Sichtweisen und Handlungspraktiken kritisch hinterfragen lassen, und die dabei auch nicht vor einer kritischen Relecture ihrer eigenen Tradition zurückschreckt. Sie verlässt sich nicht auf vertraute Quellen, sondern wagt sich in Gefilde vor, die vielleicht nicht auf den ersten Blick als loci proprii einer christlichen Gottesrede erkennbar sind. Immer wieder führt diese theologische Praxis an überraschende Orte, wo ein genauerer Blick hinter scheinbare Gewissheiten mit tiefschürfenden theologischen Fragen konfrontiert.
Die Debatte um Achille Mbembes Einladung zur Ruhrtriennale 2020 eröffnet für mich solch einen theologischen Raum. Nachdem der Antisemitismus-Beauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, Mbembes Ausladung forderte, weil er wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner ungeeignet sei, füllte sich das Feuilleton wochenlang mit hitzigen Kommentaren. Doch die Debatte verlief in engen Bahnen: bestimmend war die formelhafte Suche nach Belegen für oder gegen antisemitische Argumentationsmuster in Mbembes Werk, den Antisemitismusvorwurf konterte ein Rassismusvorwurf, zu einer Annäherung der Positionen kam es nicht.
Ein Kommentar stach dabei jedoch heraus: Während der kollektive Blick zumeist gebannt auf Mbembe als Objekt der Untersuchung gerichtet blieb, fragte Ralf Michaels nach den diskursiven Rahmenbedingungen, die in der Diskussion um Mbembes etwaigen Antisemitismus stillschweigend vorausgesetzt wurden. Die Debatte, so Michaels, wurde vor dem Hintergrund eines spezifisch deutschen Erinnerungsdiskurses geführt, der in der Verantwortungsübernahme für den Holocaust verankert ist und den Kampf gegen Antisemitismus zu einem zentralen Marker deutscher Identität erklärt. Wie selbstverständlich bestimmte dieser Diskurs den Verlauf der Debatte: Man diskutierte “an denselben wenigen Stellen …, ob Mbembe antisemitische Argumentationsmuster nutzt. Werkimmanente Kritik gab es fast gar nicht, Kontextualisierung auch nicht; das Framing durch den Antisemitismusvorwurf determinierte den Blick auf das Gesamtwerk.”[1] Im Kampf gegen (Mbembes) Antisemitismus scheint die “Norm … klar, gebraucht wird nur noch die Subsumption. Eine Hermeneutik nicht so sehr des Verdachts, wie Aleida Assmann schrieb, sondern der Gewissheit über die eigene moralische Position.”[2]
Wie Michaels zeigt, trägt die Selbstverständlichkeit, mit der dem deutschen Erinnerungsdiskurs in der Mbembe-Debatte Deutungshoheit eingeräumt wird, eine Gewalthaltigkeit in sich, mit der sie sich selbst reproduziert. Indem sie universale Gültigkeit für einen partikularen Diskurs beansprucht, folgt sie einem kolonialen Muster, mit dem sie sich der Kritik postkolonialer Theorie entzieht und Mbembes Position nur insofern wahrnimmt, als sie sie in diesen Diskurs einpassen kann. Sie übt so epistemische Gewalt aus, die sie ihre Diskurshoheit absichern und gegen Erschütterungen immunisieren lässt. In weiten Strecken bleibt dieser Diskurs in der Mbembe-Debatte dann auch unhinterfragt. Erst Michaels’ postkolonial informierter Blick legt seine Machtförmigkeit auf und streut so Sand ins Getriebe seiner Selbstverständlichkeit.
Es sind eben jene Blickwechsel wie der von Michaels, die den unhinterfragten Voraussetzungen eines Diskurses nachgehen und auf seine blinden Flecken verweisen, die ich in meiner theologischen Arbeit als inspirierend erlebe. Sie bringen die Maschine der Selbstverständlichkeiten ins Stottern und ermöglichen/erzwingen damit Zwischenstopps, denen wir eine genuin theologische Qualität zuschreiben können. Indem sie uns an die Grenzen dessen führen, was in einem Diskurs als sicht- und sagbar gilt, eröffnen sie eine Perspektive auf Transzendenz als das, was wir im Rahmen unserer Selbstverständlichkeiten nicht sehen (wollen). Sie werden damit zu Ressourcen einer Gottesrede, die der Anwesenheit Gottes in den Erschütterungen eingespielter Sichtpraktiken auf die Spur kommt (vgl Mt. 25).
Das fordert immer wieder auch einen kritischen Blick auf unsere moralischen Gewissheiten ein, und dabei auch steht die Frage nach theologischen Komplizenschaften in der Produktion unserer Selbstverständlichkeiten auf dem Spiel. Im Rahmen der Mbembe-Debatte etwa müssen wir uns fragen, für welche verschwiegenen Abgründe der deutsche Erinnerungsdiskurs und sein Fokus auf den Kampf gegen Antisemitismus offen ist. Wie Astrid Messerschmidt zeigt, kann er sich zu einem Herrschaftsdiskurs entwickeln, wenn dahinter eine “Erlösungsvorstellung [steht], bei der aus der Übernahme der historischen Verantwortung ein geläutertes Selbstbild hergestellt wird.”[3] Damit, so Messerschmidt, kann die Geschichte des Holocaust als abgeschlossen und Rassismus als überwunden imaginiert werden, und sie verweist auf die versteckten Ausschlüsse, die in diesen Herrschaftsdiskurs des Anti-Antisemitismus eingeschrieben sind, dessen “Antityp” der muslimische Immigrant ist[4], und der sich deshalb als diskursives Instrument rassistischer Unterscheidung in der heutigen deutschen Einwanderungsgesellschaft eignet[5].
Schärfer noch formuliert die niederländische Anthropologin Gloria Wekker. Sie spricht von “weißer Unschuld” als dem dominanten Identitätsdiskurs in westeuropäischen Nationen, in der die aggressive Verdrängung einer rassistisch formatierten Gewalt-, Ausbeutungs- und Genozidgeschichte eine kollektive Selbstrepräsentation als tolerant und anti-rassistisch ermöglicht und so die Gewissheit über die eigene moralische Überlegenheit befördert.[6] Deutlich weißt sie darauf hin, wie tief dieses dominante Selbstbild von weißen EuropäerInnen als unschuldig in Erlösungsvorstellungen der christlichen Tradition verwoben ist. Theologische Machttechnologien, so zeigt ein wachsendes Forschungsfeld, waren und sind ein konstitutives Element in der Verschaltung von christlicher Superiorität und weißer Vorherrschaft.[7] In einem kritischen Blick auf diese Komplizenschaften wird auch immer klarer, dass es einer theologischen Reflexion nicht darum gehen kann, ein ursprüngliches, unschuldiges Christentum ‘hinter’ diesen Verstrickungen in Weiße Christliche Vorherrschaft-maskiert-als-Unschuld freizulegen.[8] Erst wenn wir uns von letzten Resten theologischer Selbstverständlichkeit lossagen, können wir theologische Praktiken entwickeln, die es uns erlauben, für die unauflösbare Machtförmigkeit und auch Gewalthaltigkeit christlicher Gottesreden Rechnung abzulegen und uns – immer wieder neu, aber ohne “betuliche Unschuld”[9] – auf die Suche nach eventuell weniger tödlichen Codierung von Schuld und Vergebung zu machen.
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Judith Gruber ist Professorin für Systematische Theologie an der KU Leuven (Belgien).
Bild: privat
Grafik: Juliane Maiterth
[1] Ralf Michaels, “Deutschstunde für alle Welt”, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.2020. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/mbembe-debatte-deutschstunde-fuer-alle-welt-16804545.html
[2] Ebd.
[3] Astrid Messerschmidt, “Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus”, in: Peripherie Nr. 109/110, 28. Jg. 2008, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster. 42-60. 49.
[4] Gil Andijar, “Antisemitism and its Critics”. In: Renton, James / Gidley, Ben (Hg), Antisemitism and Islamophobia in Europe. A Shared Story? Palgrave Macmillan 2017. 187-214.
[5] Messerschmidt verweist auf “eine neue Wendung im deutschen Erinnerungsdiskurs …, bei der die Erinnerung an den Nationalsozialismus zum Instrument einer assimilatorischen Prüfung wird, wodurch es so aussieht, als hätte die Mehrheitsgesellschaft diese Prüfung bereits bestanden.” Damit wird “versucht … den nach wie vor vorhandenen Antismeitismus in der deutschen Gesellschaft an Minderheiten festzumachen … Dabei können die in der deutschen Einwanderungsgesellschaft wirksamen Spaltungen von ‘wir’ (einheimische Deutsche) und ‘ihr’ ([muslimische] Migranten) zur Abwehr einer kritischen Selbstreflexion eingesetzt werden.” Messerschmidt, Erinnerungsprozesse, 52f.
[6] Gloria Wekker. White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race. Duke University Press 2016.
[7] z.B. Willie J. Jennings. The Christian Imagination. Theology and the Origins of Race. Yale University Press 2010.
[8] z.B. Sarah Pinnock, “Atrocity and Ambiguity: Recent Developments in Christian Holocaust Responses”. In Journal of the American Academy of Religion 75/3 (September 2007). 499–523.
[9] Hannah Arendt, zit. nach Michael Schüssler, “Praktische Wende der Politischen Theologie? Von der schöpferischen Kraft des Evangeliums im Risiko der Ereignisse”. In Klingen, Henning / Zeillinger, Peter / Hölzl, Michael (Hg), Extra ecclesiam … zur Institution und Kritik von Kirche. Jahrbuch politische Theologie Band 6/7 Münster 2013. 286–307, 296.