Wo fangen Rassismus bzw. Vorstufen von rassistischen Strukturen und Denkmustern an? Joana Konrad und Volker Niggemeier besprechen das Buch „exit RACISM“ von Tupoka Ogette. Sie stellen erste Überlegungen dazu an, wie rassismuskritisches Denken in der theologischen Lehre an Universität und Schule aussehen könnte.
Die Diversität- und viel beachtete Antirassismus-Trainerin Tupoka Ogette sensibilisiert die Leser*innen in ihrem Buch „exit RACISM“[1] rassistische Denkmuster zu erkennen. Sie bietet so einen Einstieg, den eigenen Rassismus zu entlernen. Den eigenen Rassismus? Ja, Sie haben richtig gelesen: Wir sind wie Generationen vor uns rassistisch sozialisiert worden, so ist Ogettes These prägnant zusammenzufassen.
Black and People of Color (BPoC)[2] werden nach ihrer „echten“ Herkunft gefragt. Das unpassende Stereotyp ist bekannt, dass Schwarze Menschen alle den Rhythmus einfach im Blut haben. Solche Aussagen, sogenannte „Mikroaggressionen“, meint Ogette. Sie fungieren wie kleine Mückenstiche und scheinen einzeln betrachtet nicht sonderlich gefährlich – stellt man sich aber vor, dass BPoC häufiger und ggf. regelmäßig „gestochen“ werden, ergibt sich ein anderes Bild: Diese Stiche sind dann nicht nur lästig, sondern schaden Betroffene gravierend und nachhaltig.[3]
Mit Einblicken in ihre Arbeit als Antirassismustrainerin und dem Anliegen aufzuzeigen, wie Rassismus funktioniert, stellt Ogette die Vielschichtigkeit des Themas und die Subtilität im Umgang damit heraus. Sie möchte aufzeigen, dass Rassismus dabei nicht nur kulturell und auf der (inter)personalen Ebene begegnet, sondern auch institutionell und strukturell fest verankert ist.
„Happyland“ – wo weiße privilegierte Menschen leben, bevor sie sich bewusst mit dem Thema Rassismus befassen.
Dabei bietet sie Lösungsansätze an, mit denen sich Perspektivwechsel einüben lassen. Denn: Wir wohnen im sogenannten „Happyland“, dem Zustand, in dem weiße privilegierte Menschen leben, bevor sie sich bewusst mit dem Thema Rassismus befassen. „Rassistisch? Wir doch nicht!“ Das ist eine erste Reaktion der Bewohner*innen Happylands, denn: weiße Menschen verbinden Rassismus gegen BPoC meist mit Extremismus. Ogette zeigt in ihrem Buch aber gerade den Rassismus auf, den wir meist nicht sehen, und weist einen Weg heraus aus „Happyland“.
Sie ermutigt anschaulich und sprachlich präzise zur kritischen Selbstreflexion. Dies alles geschieht im Modus des Workshops, der neben Input und Interaktion Raum für eigene Reflexion bietet und Erfahrungen von Seminarteilnehmer*innen einbindet. An keiner Stelle verurteilt die Autorin, sondern klärt auf und macht deutlich, dass es um Verantwortung geht, die jede*r von uns übernehmen sollte. Dazu gehört, sich gegen Rassismus und rassistische Strukturen zu äußern, gerade – aber längst nicht nur – als (angehende) Theolog*innen.
In vielen theologischen Disziplinen kann Rassismus zur Sprache gebracht werden.
Sich aus theologischer Perspektive mit dem Phänomen des Rassismus bzw. rassistischen Strukturen auseinanderzusetzen, ist genuine Aufgabe der Theologie als Wissenschaft der Rede von Gott in der Welt, in der wir leben. Wie verhalten wir uns als Christ*innen zu den Erscheinungsformen von Rassismus? Wie thematisieren wir es in unseren jeweiligen Kontexten? Dabei haben wir als Theolog*innen den Vorteil, dass es eine Vielzahl an theologischen Disziplinen gibt, in denen Rassismus zur Sprache gebracht werden kann. Wir denken hier an das (zugegebenermaßen mitunter schwierige) biblische Erbe, welches maßgeblich zu rassistischen Denkmustern beigetragen hat.
Hier kann die Bibelwissenschaft ansetzen. Aber auch in der Kirchengeschichte, theologischer Ethik, Missionswissenschaft etc. finden sich Anknüpfungspunkte. Das Thema gehört in jede theologische Disziplin. Aber wo ist es? Hat eine weiße europäische Theologie vielleicht das Problem, nicht aus dem „Happyland“ herauskommen zu können oder sogar zu wollen? Solche und weitere Fragen stellen wir uns nach der Lektüre des Buches.
Dabei sollten wichtige Handlungsfelder in der universitären Lehre und Ausbildung grundlegende Berücksichtigung erfahren: So können gesellschafts(politische) Analysen vorgenommen, das Thema historisch behandelt und eingeordnet, Entwicklungslinien rassistischen Denkens und seiner Folgen aufgezeigt sowie Phänomene erkannt und als solche benannt werden. Dies alles führt dazu, dass wichtige Kompetenzen (Wahrnehmungs-, Reflexions-, Urteils-, Handlungs- und Partizipationskompetenz) vermittelt werden.[4]
Beim Lesen entwickelt sich ein „Handlungsdrang“.
„Excit RACISM“ klärt nicht nur auf, sondern regt Leser*innen an, sich offen mit der Thematik auseinanderzusetzen und formuliert konkrete Wünsche. Dadurch entwickelt sich beim Lesen ein „Handlungsdrang“, der über die Lektüre des Buches hinaus in den Alltag ausstrahlt. Ogettes Appell richtet sich dezidiert auch an Lehrpersonen, besonders durch einige Reflexionsanstöße wie „Was hast du in der Schule über Rassismus gelernt?“. Diese müssen vermutlich von vielen mit „Nicht viel“ beantwortet werden. Ogettes Anliegen ist v. a., dass sie ihre Kinder in Schulen wissen möchte, die sagen: „Ja, Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, und wir nehmen dies ernst, wann immer wir ihn erkennen oder aufgezeigt bekommen.“[5]
Es ist also zu fragen: Wie können wir nun Lernende für Rassismus sensibilisieren? Welche Anknüpfungspunkte bietet die Theologie hierfür? Und vor allem: Wie können wir als privilegierte Weiße über dieses Thema sprechen? Vielleicht geht es auch Ihnen so, dass das Reden über sensible Themen wie Rassismus mit viel Unsicherheit verbunden ist. Der Anspruch an sich selbst, besonders nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema nicht (mehr) rassistisch zu sein, ist dabei anhaltend. Auch wenn wir meinen, den Auszug aus „Happyland“ vollzogen zu haben, können wir dennoch einzelne Aspekte oder rassistische Strukturen übersehen. Deshalb gilt es sich bewusst zu machen, dass der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Thema keinesfalls einen klaren Abschluss findet.
Wir sollten uns von dem Gedanken befreien, dass unsere Aussagen perfekt und unanfechtbar sein müssen.
Auch wenn eine sensible Sprache und eine erhöhte Aufmerksamkeit für rassistische Äußerungen essenziell sind, kann uns der Drang danach, perfekt mit dem Thema umgehen zu können, ausbremsen. Dabei ist allen bewusst, dass es besser ist, etwas gegen Rassismus zu sagen, als dies nicht zu tun. Aus diesem Grund sollten wir uns von dem Gedanken befreien, dass unsere Aussagen perfekt und unanfechtbar sein müssen. Denn es geht dabei nicht um uns. Vielmehr sollten wir die Chance nutzen, an unseren nicht auf Perfektion zielenden Aussagen wachsen und lernen zu können, so sprachfähig zu werden und einen aktiven Austausch über Rassismus zu fördern.
Besonders der schulische Religionsunterricht und dabei im Speziellen die Form des offenen Unterrichts, bei denen sich die Lehrperson auf Augenhöhe mit Schüler*innen begibt, kann hierfür Raum bieten. Durch Anknüpfung an Themen aus verschiedenen theologischen Disziplinen kann das Thema Rassismus aufgeworfen werden. Hierbei kann sich die Lehrperson gemeinsam mit den Schüler*innen über Rassismus informieren, sensibilisieren, aber auch Vorbild sein. Vorbild dafür, dass man nicht alles über Rassismus wissen muss, um zu helfen, ihn zu dekonstruieren.
Wir könnten die Chancen nutzen, die sich uns bieten – sei es an Universität oder Schule.
Auch kann die Lehrperson aufzeigen, wie man reagieren kann, wenn man Feedback zu eigenem unbeabsichtigtem Rassismus bekommt – entschuldigend und dankbar für die Rückmeldung. Hierbei geht es nicht darum, allen Fragen oder Vorurteilen zu diesem Thema perfekt zu begegnen, sondern sich in einen gemeinsamen Entwicklungsprozess zu begeben. Wird eine solche Atmosphäre geschaffen, kann dies eine gute Grundlage sein, um unserer Verantwortung nachzukommen, über das sensible Thema ins Gespräch zu kommen.
Anstatt dem Perfektionismus hinterherzujagen, könnten wir uns dem von Ogette ausgelösten Handlungsdrang hingeben. Wir könnten die Chancen nutzen, die sich uns bieten, um mit Lernenden – sei es an Universität oder Schule – ins Gespräch über Rassismus zu kommen und um uns selbst, uns untereinander und die uns umgebenden Denkmuster und Strukturen kritisch zu hinterfragen. Wenn diese Gespräche zunächst voller Unsicherheiten und der gemeinsamen Suche nach Antworten sind, sind es am Ende genau solche, aus denen wir am meisten lernen.
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Joana Konrad studiert Katholische Religionslehre und Chemie (Gym/Ges) an der WWU Münster. Volker Niggemeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Exegese des Neuen Testaments der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster.
Beitragsbild: pexels.com – bearbeitet von V. Niggemeier
[1] T. Ogette: Exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen, Münster 72020. Vgl., um einen ersten Einblick zu erhalten auch die Homepage oder „Warum wir rassismuskritisch denken müssen.“ Interview( ZDFheute).
[2] Der/die Verfasser*in wählen diskrimierungssensible Sprache. Vgl. hierzu z. B. das Glossar (amnesty.de).
[3] Mikroaggressionen begegnen dabei nicht nur in Bezug auf Rassismus, sondern auch in anderen Formen der Diskriminierung – sowie „die Grundfragen rassistisch-ausgrenzenden Denkens und Handelns [ohnehin] eng mit weiteren Ausgrenzungsdynamiken […] verbunden [sind].“ (Th. Schlag: Art. Rassismus, in: WiRelex. Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet, 5.
[4] Vgl. hierzu auch Schlag: Rassismus, 6.
[5] Ogette: Exit RACISM, 111.