Y. Congar veröffentlicht 1950 einen wirkungsgeschichtlich folgenreichen Klassiker französischsprachiger Ekklesiologie. Wir brauchen keine Gurus, sondern Geduld. Eine Relecture von Dag Heinrichowski SJ.
Über die Tatsache, dass die Kirche Reformen braucht, herrscht schnell Einigkeit – ecclesia semper reformanda. Vielstimmiger wird es dann bei der Frage, was Reformation und was Deformation ist.
Der französische Theologe Yves Congar OP (1904-1995) veröffentlicht 1950 eine Studie, die sich mit eben diesem Thema befasst: „Wahre und falsche Reform in der Kirche“ (Vraie et fausse réforme dans l’Eglise). Das war lange bevor irgendwer damit rechnen konnte, dass er irgendwann einmal zum Kardinal ernannt werden sollte. Das Werk ist zwar nicht auf Deutsch übersetzt worden. Aber schon in der Einleitung finden sich einige Hinweise, die für die kirchliche Situation in Deutschland heute hilfreich sind.
Die Kirche braucht Selbstkritik, aber keine schlechte.
Neu sind bei Congar sein Interesse für die Geschichte und für die Soziologie, die für ihn Erkenntnisquellen für die Theologie sind (loci theologici). Die Kirche ist nicht nur die überzeitliche Realität, sondern auch eine soziologische Größe, die sich wandelt. Sie braucht Selbstkritik, aber keine schlechte, die destruktiv und durch Wut motiviert ist, sondern konstruktive Kritik. Die Grundhaltung hinter der notwendigen Kritik macht den Unterschied: Wut oder Liebe, zerstörend oder aufbauend.
Vier Kriterien kennzeichnen die gute Art der Selbstkritik nach Congar:
- Sie geschieht aus Liebe und in Vertrauen und ist daher aufrichtig und frei.
- Sie gründet auf einer soliden wissenschaftlichen Basis und einer klaren Analyse der pastoralen und apostolischen Situation der Kirche (hier kommt die Soziologie ins Spiel!).
- Sie kommt zur Sprache, weil denjenigen, die sie vorbringen, wirklich etwas an der Kirche liegt. In ihr kommt ein Verantwortungsgefühl für die Kirche zum Ausdruck.
- Sie schaut auf die Quellen – die biblischen, patristischen und liturgischen – und nimmt sie ernst. Ressourcement ist das Stichwort der Novelle théologie, zu der auch Congar gehört und die für das zweite Vatikanische Konzil wichtige Vorarbeiten geleistet hat.
Das Buch liefert kein konkretes Reformprogramm oder gar einen Aufruf zu einer Revolution, die alles auf null setzt. Es geht Congar darum, die Realität(en) ernst zu nehmen, ehrlich zu sein und das menschliche Gesicht der Kirche an die konkreten Verhältnisse anzupassen. Entscheidend ist der Kontext. Der Kontext verändert sich und damit auch der Ausgangspunkt für die Reform der Kirche. Congar ist sich bewusst, dass dieses Projekt das Risiko beinhaltet, dass die Kirche zu „menschlich“, im Sinne von zu historisch und zu soziologisch gesehen wird. Verweigert man sich allerdings der wahren Reform, läuft man Gefahr, dass der Kern der Kirche unerkennbar wird.
Die Kirche ist ein Hybrid: Sowohl heilig als auch sündig.
Der Motor der Selbstkritik ist die Treue (fidelité). Das Schwierige ist die Unterscheidung zwischen den Teilen, die ständiger Reform und Anpassung bedürfen und denen, die zu der Struktur gehören, die nicht reformbedürftig ist. Die Kirche ist für den Dominikaner ein Hybrid: Sowohl heilig, weil sie in Gott ihren Ursprung hat und er in ihr präsent ist, als auch sündig, weil das Volk Gottes und auch die kirchliche Hierarchie aus Menschen besteht – Menschen, die Schwächen, persönliche Interessen und Begrenzungen mitbringen, ihre Macht missbrauchen.
Die individuelle Schuld führt – das zeigt nicht nur die Kirchengeschichte eindrücklich – zu historischen Fehlern. Mitunter deswegen, weil ein sich verändernder Kontext nicht genügend berücksichtigt wurde. Die Begrenzungen der Kirche in ihrer geschichtlichen Gestalt und der Reformbedarf werden hier deutlich.
Reform gehört zur Kirche und hat nichts mit Zeitgeist oder Ideologie zu tun.
Für heutige Reformversuche ist die Studie ein solcher Schatz: Sie stellt klar, dass Reform zur Kirche gehört und nichts mit Zeitgeist oder Ideologie zu tun hat. Voraussetzung für die Reform sind Freiheit, aber auch Treue, eine klare Analyse der Kontexte, aber auch ein Bewusstsein für die Struktur der Kirche wie auch die Begrenzungen und Schwächen in der Kirche. Nicht zuletzt zeigt sie, wie notwendig Reformen in der Kirche sind.
Das Buch ist aktuell – so schreibt Congar sehr klar über Machtmissbrauch und Klerikalismus in der Kirche –, die Ausgangssituation ist ziemlich ähnlich, obwohl 70 Jahre seit der ersten Auflage vergangen sind. Die Relecture stellt nicht nur die Frage nach der Relevanz der Kirche in der Welt, sondern auch der Relevanz der Theologie in der Kirche.
Die Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen
Eine erste, mutmachende Antwort, ist die Wirkungsgeschichte des Textes: Im Jahr 1952 liest der Apostolische Nuntius in Frankreich, Angelo Roncalli das Buch. Zehn Jahre später beruft er, inzwischen zu Papst Johannes XXIII. gewählt, das zweite Vatikanische Konzil ein. Für heute noch entscheidender: Auch Papst Franziskus hat Congar studiert. Die Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen – ecclesia semper reformanda.
Gerade wenn es in der Kirche zu strittigen Themen kommt, hat der Papst eine undankbare Rolle: Er kann es nur falsch machen. Für die einen verändert er zu wenig und zu langsam – für die anderen zu viel und zu schnell. Und überhaupt beschäftigt er sich mit den falschen Themen.
Congar ist ein Schlüssel, um Franziskus zu verstehen.
Papst Franziskus irritiert immer wieder, weil er sich Themen annimmt, Beratungen anstellt, die Komplexität einer Fragestellung darstellt, und dann oft nicht mehr tut, als zu warten und zu schweigen. Er lässt die offenen Fragen offen und die Uneindeutigkeit mehrdeutig.
Ein Schlüssel, um diese Verhaltensweise zu verstehen, sind die vier Bedingungen, die Congar im zweiten Teil der Studie für eine Reform ohne Schisma aufstellt: Der Vorrang der Nächstenliebe und der Pastoral, das Bewahren der Gemeinschaft mit allen, Geduld und die Erneuerung aus den Quellen und der Tradition. Weil das Risiko eines Schismas besteht, braucht eine Reform Mut.
Reform ist Teamarbeit und nichts für Einzelkämpfer*innen oder Gurus.
Die Nächstenliebe und die Pastoral bekommen den Vorrang, weil eine Häresie sich für Congar dadurch auszeichnet, dass sie den Kontakt zum Boden verloren hat. Sie ist abstrakt und ideologisch, weil sie zu einem Tunnelblick führt: Häretiker*innen sehen nur noch ihre eigenen Ideen – sie verlieren den Kontakt mit der Gemeinschaft, womit das zweite Kriterium angesprochen ist.
Es mag sogar sein, dass eine Häresie einen richtigen Punkt trifft, aber – und da kommt die dritte Bedingung der Reform ins Spiel – die Häresie ist ungeduldig und wartet nicht darauf, dass der Rest der Gemeinschaft folgen kann. Congar nennt das Beispiel der Vorreiter*innen der Religionsfreiheit, die einen wichtigen Punkt ansprechen, aber ihn gleichsam nicht in das Spannungsverhältnis der kirchlichen Gemeinschaft einweben können. Reform ist Teamarbeit und nichts für Einzelkämpfer*innen oder Gurus. Das Gelingen einer Reform liegt im Zusammenspiel dieser vier Bedingungen, in ihrer Beziehung zueinander und im Gleichgewicht.
Ekklesiologie in Spannungsverhältnissen
Gleichgewicht ist auch an anderer Stelle gefordert. Congar beschreibt eine Ekklesiologie in Spannungsverhältnissen. Eine Spannung zwischen zwei Polen, die auch Papst Franziskus immer wieder anführt, entsteht zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Für Congar ist die Rolle der zentralen Organe eher eine Rolle der Moderation und der Bewahrung, Reform beginnt also – und hier zeigt sich die Linie von Franziskus – in der Peripherie und nicht in Rom.
Der Faktor Zeit spielt in diesem Unterfangen eine wesentliche Rolle, vor allem auch, weil es Zeit braucht, um zu erkennen, wo eine Reform notwendig ist. Ein Indiz sind die zwei großen Versuchungen, die es seit jeher in der Kirche gibt: Die eine Versuchung besteht darin, den Zweck durch die Mittel zu ersetzen. Die andere Versuchung sieht Congar in der Fixierung, also einer falschen Treue, die keine Entwicklung zulässt und nicht in die Tiefe führt.
Unterscheidung zwischen der Struktur und den Strukturen der Kirche.
Eine wichtige Unterscheidung für Congar besteht zwischen der Struktur und den Strukturen (la Structure, les structures) der Kirche. Die Struktur bezieht sich gleichsam auf den Kern der Kirche, auf das, was keiner Reform bedarf. Die Strukturen hingegen müssen sich erneuern, sie sind die Formen, aus denen sich die Kirche regelmäßig häuten muss.
Diese wichtige Unterscheidung ist selten einfach. Die Kurienreform, ein Projekt von Franziskus, spielt sich wohl auf der Ebene der Strukturen ab, ebenso die vielen Regelungen von Missbrauchsprävention. Hier können die Strukturen relativ effektiv reformiert werden, sobald die Notwendigkeit erkannt ist, dass diese Teile die Struktur verdunkeln und sogar Leid verursachen – hier sind klare und schnelle Maßnahmen wichtiger als geduldiges Warten. Schwieriger wird es bei der Frage nach dem Zölibat, der zwar auch zu den Strukturen zu zählen wäre, aber wo es unklar ist, ob die Einheit mit allen zum momentan Zeitpunkt gewahrt bleiben kann.
Die Forderung nach Geduld wirkt manchmal unverschämt, aber scheint doch der entscheidende Faktor zu sein.
Für die Frage nach dem Diakonat der Frauen hat der Papst verschiedene Arbeitsgruppen eingesetzt. Die entscheidende Frage liegt in der Unterscheidung, ob hier die Strukturen oder die Struktur berührt wird, ob es eine Innovation ist, die nicht organisch auf dem kirchlichen Acker gewachsen ist, oder eine Vertiefung in der Tradition, ein Schöpfen aus den Quellen.
Eine Reform braucht Mut und ist anstrengend. Das Zusammenspiel zwischen Peripherie und Zentrum knirscht oft. Die Forderung nach Geduld wirkt manchmal unverschämt, aber scheint doch der entscheidende Faktor zu sein.
Reform ist ein Unternehmen der gesamten Kirche.
Im Gegensatz zur Deformation ist die Reform ein Unternehmen der gesamten Kirche unter der Führung des Heiligen Geistes, es braucht also ein gegenseitiges Hören und eine offene und weite Unterscheidung, um voranzugehen. Damit braucht es Zeit und Geduld.
Die Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen – ecclesia semper reformanda.
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Text: Dag Heinrichowski SJ studiert Theologie am Centre Sèvres, der Hochschule der Jesuiten in Paris.
Bild: Wikimedia Commons
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