Eine junge Theologin flaniert durch das Frankfurter Bahnhofsviertel. Lisa Quarch findet dabei eine Form der Theologie, die sich nicht entwickeln, sondern heben lässt. Das „Moseleck“, eine Eckkneipe in der Münchner Straße, wird dabei als Lernort sozialpastoraler Weite erkennbar.
„Thorsten erzählt mir viel über das Moseleck, also den Laden, in dem wir gerade sitzen. Für ihn ist das sein zweites Zuhause. Er feiert auch Weihnachten hier, da sind viele Menschen da, die sonst niemanden haben und auch die meisten seiner engen Freunde. Das Moseleck ist für Thorsten ein Raum, indem alle willkommen sind: „Kommse rein, sind Sie Banker? Ist egal! Sind sie Techniker? Ist egal! Sind sie Nutte? Ist egal. Kommse rein, trinken se was!“ Thorsten erzählt mir, dass viele der Menschen hier schlimme Schicksale haben. Viele davon kennt er.“ (Feldtagebuch E.Quarch)
Theologie als Wahrnehmungswissenschaft
– konkret
Theologisches Arbeiten ereignet sich nicht nur in der Analyse von biblischen Texten und kirchlichen Traditionsbeständen, es ereignet sich auch an ungewöhnlichen Orten. So habe ich vom 4. bis zum 11. Januar 2020 in der Münchner Straße in Frankfurt am Main eine empirisch qualitative Studie für meine Abschlussarbeit in katholischer Theologie durchgeführt. Die Studie konzentrierte sich auf die Fragestellung „Was lässt sich für die Theologie bzw. für Theolog*innen aus der Münchner Straße und den Menschen dort lernen?“.
Erfahrungen sind zu heben.
Die Münchener Straße habe ich als einen urbanen Raum verstanden. Besonders an der Münchner Straße ist ihre Heterogenität, in ihr finden sich Hinterhöfen mit türkischen Supermärkten, HipsterTreffpunkte, Spielkasinos und jede Menge Menschen die in den ansässigen Kneipen viele Stunden ihres Lebens verbringen.
Wie in jeder qualitativen Studie liegt das Ziel nicht in repräsentativen Zahlen, sondern in beispielhaften Erfahrungen, die als Expert*innenwissen erhoben werden.
Gott im Bahnhofsviertel?
Und so beschäftigte ich mich an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit mit der Frage „Gott im Bahnhofsviertel? Urbane Räume als Theologische Erkenntnisorte“.
Um dieses Thema zu bearbeiten, habe ich mich mit der Teilnehmenden Beobachtung und der dichten Beschreibung nach Clifford Geertz in die Münchner Straße begeben. Also habe ich 7 Tage lang in dieser Straße gelebt. Was habe ich da gemacht?
sehr unwohl und sehr wohl gefühlt
Ich bin gefühlte 1000 mal die Straße auf- und abgelaufen, habe alle Aufkleber auf Stromkästen gelesen, Essen ausgegeben bekommen, morgens um 10:00 Uhr mit den Kellner*innen Schnaps getrunken, in der Moschee Baklava gegessen, bei Scientology einen Persönlichkeitstest gemacht, im Latin Music Club ein bisschen Latin Dance gelernt und die Nacht durchgetanzt (ja, sowas gab es im Januar noch). Ich bin unangenehm angeflirtet worden, habe in der Bahnhofsmission Geschichten gehört, im „Fit food“-Café das ekligste Getränk meines Lebens getrunken, in einem Hinterhof-Restaurant eines der leckersten Essen meines Lebens gegessen ,auch wenn ich nicht genau weiß, was das war, war alles nur auf Arabisch beschrieben, habe mich sehr unwohl gefühlt und sehr wohl. Ich habe traurige Lebensgeschichten gehört, bin gefragt worden, wo Gott im Vietnamkrieg war; mir ist in Gesprächen tiefe Hoffnung begegnet, Zweifel, Angst, Freude, Liebe. Und über all das habe ich ein wissenschaftliches Tagebuch geführt. Dies war die Hauptquelle meiner Forschungsarbeit. All diese Erfahrungen hier zu beschreiben würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, deswegen gehe ich hier auf einen der markantesten und prominentesten Orte der Münchner Straße ein: Das Moseleck. Über diese Kneipe wurden sogar schon mehrere Lieder geschrieben. Hier einige Zeilen aus einem dieser Liedern, dass die besondere Atmosphäre dort sehr gut beschreibt:
Wurd‘ die Wohnung dir gekündigt
der Clubeintritt verwehrt
wurd‘ die Trennung dir gekündigt.
dein Konto von der Bank gesperrt
Dann denke nicht an Suizid
nein, begehe nicht gleich Selbstmord
für dich, mein Freund, sing‘ ich dies Lied
drum mach‘ dich auf – zu einem besond’ren Ort
REFRAIN
Ja, das Dasein kann so grausam sein
unberechenbar und hundesgemein
doch sind auch Frau und Kinder weg
bleibt die letzte Zuflucht Moseleck
(von Matze FFM)
Das Moseleck, existiert schon seit 1995. Vorher leitete der Inhaber und ehemalige Boxer Harald Statt eine andere Kneipe im Bahnhofsviertel, den Dampfkessel. Diese schloss irgendwann aber Stammgäste kamen mit ins Moseleck. Die Stammgäste sind das, was Statt als die Seele seines Ladens bezeichnet. Dennoch wird sich an diesem Ort um jede*n gekümmert, nicht nur um Stammgäste, ein Kaffe oder ein Bier dort zu trinken ist keine anonyme Aktion, es gibt immer Raum für Gespräche und ein offenes Ohr.
Theologie als Wissenschaft des Suchens
Und ich behaupte nun, dass dieser Ort ein theologischer Erkenntnisort ist und das obwohl die theologische Beschäftigung und religiöse Fragen an diesem Ort eigentlich nicht im Zentrum stehen. Das Moseleck ist einfach eine ganz normale Kneipe, wenn auch eine sehr bekannte. Und als ganz normale Kneipe, kann dieser Ort ein theologischer Erkenntnisort sein, da Theologie nicht nur eine Wissenschaft von Gott ist, sondern vor allem auch eine Wissenschaft des religiösen Suchens von Menschen. Jeder Mensch ist essentiell auf Gott verwiesen, deswegen kann an jedem Ort der Welt, an dem Menschen sind, etwas über Gott gelernt werden und damit auch neue Erkenntnisse für die Theologie gewonnen werden.
Wie das „Moseleck“ vielen zum
zweiten Zuhause wird
Unterscheiden muss ich in den Ergebnissen zwischen generellen Schlussfolgerungen, wie z.B., dass soziologische und auch gerade empirische Arbeit wertvoll und wichtig für die Theologie sind, und konkreten Erkenntnissen, die bei der Auswertung einzelner Passagen meines wissenschaftlichen Feldtagebuchs herausgekommen sind.Die Menschen im Moseleck, die mir ihre Geschichten erzählt haben, haben über diesen Laden, in dem sie arbeiten oder der für sie ein zweites Zuhause geworden ist, alle vor allem eines sehr deutlich formuliert: Im Moseleck sind alle Menschen willkommen, ganz genau so wie sie sind.Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die Kneipe jeden Tag von 6:00Uhr bis 4:00 Uhr früh geöffnet hat, also fast rund um die Uhr ein Anlaufpunkt ist. Wie weit die Akzeptanz im Moseleck geht und wie unterschiedlich die Menschen in diesem Ort sind, zeigt noch einmal besonders dieses Zitat aus meinem Feldtagebuch:
„Ein älterer Mann (um die 70?) kommt an unseren Tisch, stellt sich mir vor. Er wirkt ein bisschen neben der Spur, aber begrüßt mich sehr freundlich und sagt, dass er sich immer freue, wenn neue Leute ins Moseleck kämen. Ich lächele zurück. Er geht weiter. Thorsten erzählt mir, dass der ältere Mann öfter mal Drogen nimmt und dass er früher mal Zuhälter war. Heute verkauft er Oldtimer. Letzte Woche hatten sie Ex-Zuhälter-Stammtisch im Moseleck. War wohl witzig. Thorsten sagt: „Auch die sind hier willkommen.
Hier ist ein Ort, da ist jeder willkommen, egal welche Geschichte er hat. Solche Orte fehlen so sehr an anderen Stellen. Einfach da sein zu können, ohne sich rechtfertigen zu müssen, aber dennoch angenommen zu werden.“ (Feldtagebuch E.Quarch)
Ein Ort, der ist, was die Kirche gerne sein will.
Solche Orte fehlen. Dieser Satz lässt mich als Theologin und Christin aufhorchen. Ist das nicht genau das, was Kirche gerne sein will? Ich als angehende Mitarbeiterin der Kirche möchte dies auf jeden Fall. Johann Baptist Metz formuliert in seinem Werk „Mystik der offenen Augen“ zwei biblische Imperative, die diese Mystik für ihn charakterisieren. Diese sind Seht hin [1] und „Du sollst dir kein Bildnis machen“[2]. Beides passt für Metz sehr gut zusammen, denn es betont einerseits die Aufforderung, die konkreten Situationen, Nöte, Wünsche, das Glück und das Leid der Menschen um einen herum wahrzunehmen und darauf zu reagieren. – Anderseits legt es aber auch einen Schwerpunkt darauf, Menschen ohne Vorurteile und möglichst ohne Vorannahmen zu begegnen; ihnen offen und frei entgegenzutreten, um wirklich den Menschen, der mir begegnet, sehen zu können und nicht mein Bild von ihm*ihr.
Alle sind hier.
Dieser Ansatz der Theologie wird im Moseleck, in der legendären Kneipe des Frankfurter Bahnhofsviertels, erfüllt. Denn wie einer der langjährigen Kellner des Moseleck sagt: „Hier kann jeder hinkommen. Die Crack Nutte sitzt neben dem Millionär. Sie kennen sich und reden. Der Obdachlose bekommt nen Kaffee ausgegeben. Alle sind hier.“ (Feldtagebuch E.Quarch)
Klingt fast ein bisschen wie das Reich Gottes.
Das Moseleck ist ein Ort, an dem Menschen fast ohne Hierarchie zusammenfinden können, solche Orte werden in der Soziologie auch als Dritte Orte (Third Spaces) bezeichnet.[3] Dritte Orte sind für den Soziologen Ray Oldenburg (geboren 1932), der die Theorie der Dritten Orte entwickelt hat, gewissermaßen die Seele eines Gebietes. Sie sorgen dafür, dass Fremde sich in einem Ort / einer Stadt / einer Straße zuhause fühlen können und bieten Raum, Freundschaften zu pflegen und zu schließen. Wie Ray Oldenburg es formuliert: „We may not need third place association to build a town hall anymore, but we need it to contract the infrastructures of human relationships’’. Damit etwas ein dritter Ort ist, gelten noch ein paar andere Kriterien, aber auch diese lassen sich sehr gut auf das Moseleck anwenden: Dritte Orte sind Treffpunkte jenseits von Arbeit und Zuhause (erster und zweiter Ort), in denen sich Menschen willkommen fühlen, Zeit verbringen, interagieren und miteinander ins Gespräch kommen können. Sie sind Räume für Freizeit und Kommunikation. Ein Problem ist: Solche Orte sterben in den Städten. Dazu hat einer der Angestellten des Moselecks gesagt: „Die Straße hat sich verändert in den letzten Jahren, viele der alten Läden haben geschlossen. Zu teure Mieten, überall kommen neue, teure Ketten hin. Aber es ist dennoch ein guter Ort hier. Du wirst hier viel sehen.“ (Feldtagebuch E.Quarch)
Dritte Orte fördern
Dritte Orte sterben, und das, obwohl sie doch fehlen. Die Mieten sind zu teuer, die Ketten haben mehr Geld. Und ich frage mich: Könnte dies nicht auch ein Ansatz für pastorale Arbeit sein? Welche Wege gibt es für die Kirchen, „dritte Orte“ zu fördern, wenn sie selbst schon keine sind? Und wäre es nicht vielleicht auch möglich, Dritte Orte als einen neuen Ort von Kirche zu denken?
Wenn meine Studie eines deutlich ergeben hat, dann: der Alltag ist der Ort, an dem sich Spiritualität und Glaube ereignen. Große Fragen nach Leben und Tod, nach Leid und Hoffnung, nach Heiligkeit und Solidarität stellen sich in den ganz normalen Orten einer Stadt ein. Die Menschen, die sich auf den Straßen und in den Kneipen einer Stadt aufhalten, können wertvolle Beiträge zu theologischen Diskussionen liefern. Neue Aspekte zu Fragen wie z. B. „wie funktioniert authentische Verkündigung?“ wurden mir, natürlich in anderen Worten, in der Münchner Straße aufgezeigt. Es ist ein Fortschritt für die Wissenschaft, immer wieder einfach zuzuhören und dann mit dem Gehörten zu arbeiten.
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Autorin: Lisa Quarch hat im Juli 2020 ihren Magister in katholischer Theologie erworben und begann zum 1.9.20 die Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Limburg.
Foto: Lisa Quarch
[1] Vgl. Metz, Johann Baptist, Mystik der offenen Augen, Freiburg im Breisgau 2017, (Reikersdorf, Johann (Hg.) Gesammelte Schriften 7), S. 14.
[2] Vgl. Metz, Johann Baptist, Mystik der offenen Augen, Freiburg im Breisgau 2017, (Reikersdorf, Johann (Hg.) Gesammelte Schriften 7), S. 20-21.
[3] Vgl. Oldenburg, Ray, The Great Good Place – Cafes, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons and Other Hangouts at the Heart of a Community, New York 1999, S. 5.