Zur Reflexion des vergangenen Online-Semesters greift Verena Suchhart-Kroll auf das Vier-Faktoren-Modell der Themenzentrierten Interaktion (TZI) zurück: Das Umfeld verändert sich. Anderes bleibt erstaunlich konstant.
Das Thema „digitale Hochschullehre“ hat das vergangene Semester so stark geprägt wie keines vor ihm. Neben den intensiven Diskussionen – auch hier auf feinschwarz.net[1] – und größeren Projekten[2] gab es vielfältigen kollegialen Erfahrungsaustausch: Was funktioniert wie am besten? Mit dem vergangenen Semester im Rücken stellt sich nicht nur die Frage: „Wird das bevorstehende Semester wieder digital sein?“, sondern auch: „Was hat sich so bewährt, dass es auch in Zukunft ohne Corona-Bedingungen digital sein könnte?“
Um diese Frage praktisch zu diskutieren, möchte ich Erfahrungen des vergangenen Semesters reflektieren. Zur Strukturierung greife ich dabei auf das Vier-Faktoren-Modell der Themenzentrierten Interaktion von Ruth Cohn zurück:
„Jede Gruppe ist durch vier Faktoren bestimmt: die Person (Ich), die Gruppeninteraktion (Wir), die Aufgabe (Es), das Umfeld (Globe). Die Anerkennung und Förderung der Gleichgewichtigkeit der Ich-Wir-Es-Faktoren im Umfeld ist die Basis der TZI-Gruppenarbeit.“ (LINK: ruth-cohn-institute.org)
1. Der Globe verändert sich, die pädagogischen Herausforderungen bleiben erstaunlich konstant.
Digitalisierung verändert den Globe des Lernens: Seminarraum, Sitzordnung, Raumtemperatur, technische Ausstattung – all das wird ersetzt durch Online-Seminare, Einzelarbeit mit voraufgezeichneten Audio- oder Video-Formaten u.v.m. Auch die Zeitstruktur wird mitunter flexibler. Die vielleicht noch unaufmerksame Teilnahme bei der frühmorgendlichen Vorlesung wird ersetzt durch das Einzelstudium am Abend. Die wöchentliche Veranstaltung wird zum intensiven Erarbeitungsblock kurz vor der Prüfung. Der zwischen Vorlesungssälen, Mensa und Bibliothek verbrachte Tag wird verlagert an einen computerisierten Arbeitsplatz z.T. viele Kilometer von der Unistadt entfernt.
Die didaktischen Herausforderungen bleiben im Kern dieselben.
Bei solch gravierenden Veränderungen scheint es naheliegend, dass auch Lehre sich komplett verändert. Meine Erfahrung und der Austausch mit anderen Lehrenden führt mich jedoch immer wieder zu der überraschenden Erkenntnis, dass die didaktischen Herausforderungen im Kern dieselben bleiben.
Eine Kollegin berichtet, dass die Beteiligung an einem Online-Tutorium schwierig war. Es sei für sie belastend gewesen, in einen schwarzen Bildschirm hineinzusprechen. Die Studierenden hätten alle ihre Kameras ausgestellt, Reaktionen wären nur schleppend gekommen. Auf die Rückfrage, ob in vorherigen Semestern im Seminarraum die Beteiligung besser gewesen sei, ist ihre Antwort jedoch: „Nein, das war bei dieser Veranstaltung immer schon schwierig.“ Auch andere Fragen wie z.B.: „Wie schaffe ich es, dass meine Studierenden die Relevanz der Studieninhalte für sich entdecken?“, oder: „Wie kann ich Studierende gut auf Prüfungen vorbereiten und ihnen – über Videokonferenz oder E-Mail – ein hilfreiches Feedback geben?“, bleiben – unter leicht veränderten Vorzeichen – gleich.
So sehr Digitalität den Globe verändert, verändert sie doch nicht die Grundfrage, was eigentlich Bildung ist und was gute Lehre ausmacht.
So sehr Digitalität den Globe verändert, verändert sie doch nicht die Grundfrage, was eigentlich Bildung ist und was gute Lehre ausmacht. Das Anliegen, „die Entfaltung des Menschen zu sich, zu seinem Menschsein“[3] zu unterstützen, die Studierenden in ihrer „Bildung zu Subjektivität und Autonomie, zu Mündigkeit und Urteilskraft“[4] zu begleiten, ist erstmal eine Haltungsfrage, die in entsprechende methodische Überlegungen übersetzt werden muss – in welchem Globe auch immer.
2. Ich und Es – Kann digitale Lehre das eigenständige Lernen stärken?
Vergleiche ich das zurückliegende mit den vorherigen Semestern, dann fällt mir auf, dass ich dieses Mal einen besseren Einblick in Fragen und Anliegen, Stärken und Schwächen der einzelnen Studierenden hatte. In früheren Seminaren hatte ich oft das erste Einzelgespräch bei der Hausarbeitsvorbesprechung.
Das Wir trat zurück. Der Fokus richtete sich auf die verschiedenen Ichs und ihre Auseinandersetzung mit dem Es.
Im Corona-Semester entfiel oftmals die Seminarzeit. Stattdessen wurde vielfach mit Einzelaufgaben gearbeitet. Studierende konnten sich diese zeitlich flexibel einteilen. Sie bekamen individuelles Feedback und Möglichkeiten für inhaltliche Fragen. Während also im Seminarraum trotz aller Bemühungen stille Studierende aus meinem Blickfeld zu geraten drohten, waren mir nun alle mit ihrer je eigenen Arbeit präsent. Die Gruppe, das Wir, trat zurück. der Fokus richtete sich auf die verschiedenen Ichs und ihre Auseinandersetzung mit dem Es, den Inhalten des Seminars.
Digitale Lehre kann Kommunikation und die Rolle des Ich im eigenen Lernprozess fördern, wenn man die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in diesem Sinne nutzt. Mein Ziel für das Lernen der Studierenden ist schließlich, dass sie „sich bewusst zum Subjekt ihres eigenen Lernprozesses machen und diesen aus den eigenen Fragen heraus aktiv gestalten“[5]. Digitale Formate können diese Haltung bei Studierenden unterstützen, indem ihnen in der Organisation des Lernprozesses mehr Freiheit und Eigenverantwortung gegeben wird.
3. Und wie geht jetzt das Wir?
Das Dreieck aus Ich, Wir und Es, das sich – so das Vier-Faktoren-Modell – in einer dynamischen Balance befinden sollte, droht bei digitalen Lehrformaten zur Ich-Es-Beziehung zu kippen. Das Wir unter diesen Bedingungen zu stärken, erfordert also gute Ideen.
Ein Weg ist Kleingruppen-Arbeit in verschiedensten Formen – angefangen bei den sogenannten Break-Out Sessions über die Einteilung in sich zeitlich und räumlich selbstständig organisierende Lerngruppen für einzelne Seminareinheiten bis hin zur kompletten Umstellung auf ein Peer Learning-Format. Auch Tools, die asynchrone Gruppenarbeiten ermöglichen, können das gemeinsame Arbeiten und damit die Wir-Es-Beziehung stärken.
Dabei ist der veränderte Globe nun ganz praktisch zu beachten. Ein zentrales Thema für die Wechselwirkungen von Globe und Ich-Wir-Beziehung ist z.B. die Frage, wer wann mitbekommt, was andere sagen. In physischer Präsenz hat man gelernt, mit dieser Frage umzugehen. Überblickt man die Seminargruppe und fühlt sich mit allen im Raum Anwesenden einigermaßen wohl, traut man sich vielleicht auch als schüchterne Person, eine Rückfrage zu stellen.
Der veränderte Globe macht eine Klärung notwendig, wie die Gruppe mit Anonymität umgehen möchte.
Die Überwindung wird in der Video-Konferenz mit einer großen Zahl unbekannter Teilnehmender tendenziell größer, gerade wenn man selbst aus der Anonymität heraustritt, bei anderen aber die Kamera ausgeschaltet bleibt – auch das vielleicht im Bemühen, das eigene Zimmer vor fremden Blicken zu schützen. Gleiches gilt für schriftliche Diskussionsforen, bei denen die eigene Frage längere Zeit für einen Personenkreis sichtbar ist, den man selbst nur bedingt einschätzen oder gar kontrollieren kann.
Im Seminarraum merkt man, wenn die Dozentin an die Kleingruppe herantritt. In der Break-Out Session gibt es auf einmal die Möglichkeit, dass sie sich zuschaltet, ohne sofort sichtbar zu sein. Der veränderte Globe macht es also notwendig, explizit miteinander zu klären, wie die Gruppe mit Anonymität oder auch mit für Kleingruppengespräche geschützten Räumen umgehen möchte. Kann z.B. ein anonymes Umfragetool oder auch ein verstärktes Bemühen um Kennenlernen und Vertrauen in der Seminargruppe mehr Beteiligung unterstützen und welche Verhaltensregeln sollten miteinander vereinbart werden?
Digitalisierung erfordert also ein Bewusstsein dafür, wo sich der Globe so ändert, dass das Wir den Umgang untereinander neu aushandeln muss. Zugleich zeigen sich vielfältige Chancen, das lernende Ich zu stärken und die Möglichkeiten der Digitalisierung als gestaltbare Chance wahrzunehmen. Geht es nach meinen Studierenden, dann sollen – so die fast einstimmige Meinung bei der Evaluation – zumindest in Teilen die digitalen Seminarformate auch über die Corona-Zeit hinaus bleiben.
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Text und Bild: Verena Suchhart-Kroll ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitstelle für Theologische Genderforschung in Münster.
Ebenfalls von der Autorin bei feinschwarz.net erschienen:
Wen zitiere ich (nicht)? Macht in der theologischen Wissensproduktion
[1] Vgl.
Präsenz: Zurück in die Zukunft der vergangenen Hochschullehre?
Auf dem Weg zur Dekarnation? Theologische Anmerkungen zur digitalen Lehre
[2] Vgl. z.B. den schon vor Corona-Zeiten geplanten und bald erscheinenden Sammelband Theologiestudium im digitalen Zeitalter, herausgegeben von Andree Burke, Ludger Hiepel, Volker Niggemeier und Barbara Zimmermann, der auf die gleichnamigen Münsteraner Fachgespräche vom 8.-9. März 2019 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster zurückgeht.
[3] Könemann, Judith: „Bildung und Pastoral. Die Frage nach einem fast verloren gegangenen Zusammenhang und seiner heutigen Relevanz“, in: Zeitschrift für Pastoraltheologie 35.1 (2015), S.10.
[4] Ebd., S.11.
[5] Hunze, Guido: „Technisches Upgrade oder soziokulturelle Transformation? Warum Digitalisierung mehr ist als der Einsatz digitalisierter Medien in der Lehre“, in: Burke, Andree u.a. (Hg.): Theologiestudium im digitalen Zeitalter (Stuttgart 2020) [im Erscheinen].