Dass der Begriff der ‚Klasse‘ nicht nur ein Relikt des real existierenden Sozialismus und seiner Theoriebildung darstellt, sondern ein höchst aktuelles Konzept zur Analyse gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, zeigt Judith König mithilfe des gerade in deutscher Sprache veröffentlichten Buches „Where We Stand. Class Matters“ [1].
#MeToo, Black Lives Matter und „I can’t breathe“ – Die letzten Jahre waren in Hinblick auf unbequeme Themen ohne Zweifel laute Jahre. Sicher sind Frauenbewegung und antirassistische Bemühungen keine Erfindung der 2010er Jahre. Dennoch behauptet die Gleichberechtigung von Personen aller Geschlechter und aller Hautfarben ihren Platz konstant und laut auf der gesellschaftspolitischen Tagesordnung des Jahres 2020 – Covid-19 zum Trotz.
Fragen der Gerechtigkeit lassen sich nicht aufschieben.
Auch die kirchliche Öffentlichkeit diskutiert angeregt über beide Themen. So löste zum Beispiel das Posieren Donald Trumps mit einer Bibel inmitten der Proteste anlässlich des gewaltsamen Todes George Floyds im vergangenen Juni heftige Kritik aus. Und was das Thema Sexismus und Misogynie betrifft: (Nicht nur) im deutschen Katholizismus ist die Erkenntnis gereift, dass sich die „Frauenfrage“ nicht mehr verschieben lässt: „Wir werden nicht mehr warten können, dass Frauen zu gleichen Rechten kommen“[2], zitierte das Nachrichtenportal katholisch.de den neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing kurz nach dessen Wahl Anfang März.
Ist die „Tagesordnung“ also erschöpft und die Diskurs- und Diskussionsfreudigkeit genug strapaziert für ein Jahr?
Ein Buch zur „Klasse“
Keineswegs! Denn im August präsentierte der Unrast-Verlag die Übersetzung eines amerikanischen Klassikers der intersektionalen Literatur – des Buches „Where We Stand. Class Matters“ der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Feministin bell hooks. Von Jessica Yawa Agoku erstmals ins Deutsche übersetzt lautet der Titel „Die Bedeutung von Klasse“ und hält damit nicht mit dem Anliegen des Buches hinter dem Berg. Es geht um Klasse. Und über dieses Buch sollte diskutiert werden!Es ist nämlich eine überaus lohnende Lektüre für alle diejenigen, die ‚Klasse‘ irgendwie an Karl Marx erinnert und ansonsten nicht viele Assoziationen weckt. Ebenso gewinnbringend ist die Lektüre aber auch für diejenigen, die sich für die Zusammenhänge zwischen Rassismus, Sexismus und der Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozioökonomischen Schicht interessieren.
In 14 Essays schreibt die 1952 geborene bell hooks, die mit bürgerlichem Namen Gloria Watkins heißt, von ihrer eigenen Kindheit und Jugend, ihren Erfahrungen an der Universität und so mancher Erkenntnis, die ihre aktuelle Lebensphase prägt. Geboren im ländlichen Hopkinsville, Kentucky, studierte bell hooks in Stanford und an der University of Wisconsin. Nach ihrer Promotion an der University of California lehrte sie in Yale, Oberlin und New York, bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben ihrer Bücher widmete. Im Jahr 2000 erschien mit ihrem Buch „Where We Stand. Class Matters“ ihre erste umfassende Veröffentlichung zum Thema ‚Klasse‘.
Die Perspektive der amerikanischen Arbeiterklasse
Alle Essays – im englischen Original ebenso wie in der nun erschienenen deutschen Übersetzung – verbindet hooks präziser Blick auf die USA der 1960er bis 2000er Jahre. Sie schreibt aus der Perspektive einer afroamerikanischen Frau, deren Eltern aus der ‚Arbeiterklasse‘ kommen. Und auch wenn das Buch in erster Linie die USA im Blick hat, so fühlt man sich als Leser*in durchaus angesprochen, wenn es gleich in der Einleitung heißt: „Überall, wo wir uns in unserem Alltag […] hinwenden, werden wir mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich konfrontiert.“[3]
Erfahrungen des Alltagsrassismus
Ungeschönt erzählt hooks davon, was es in den USA bedeutet, Woman of Color zu sein. Was es bedeutet, arm zu sein. Was es bedeutet, mehr Geld zu verdienen, als je ein Familienmitglied vor ihr, und dennoch im Kaufhaus immer für die Verkäuferin gehalten zu werden.
Sie spricht über die individuellen Verstrickungen in die Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht und Einkommen. Von den Vorurteilen, die wir mit uns herumtragen, selbst wenn wir uns für liberal, tolerant und weltoffen halten. Von dem Unbehagen, das uns die Einsicht in diese Vorurteile verursacht. Davon, dass diese Vorurteile nicht nur auf Hautfarbe oder Geschlecht zielen, sondern auch darauf, wie wir die finanziellen Möglichkeiten unseres Gegenübers einschätzen.
Gesellschaftliche Strukturen rücken
in den Blick
Und hooks spricht von den Strukturen, die die Diskriminierungen ermöglichen, bekräftigen – oder aber die Macht hätten, ihnen entgegen zu wirken. „Während meiner gesamten Kindheit verkörperte sowohl unser Haus als auch die Gemeinde als Ganzes den Glauben daran, dass Ressourcen geteilt werden sollten.“[4] Explizit nimmt sie Bezug auf die Befreiungstheologie und spricht von „Solidarität mit den Bedürftigen, so wie ich es selbst auch gelernt hatte, während ich aufwuchs – eine Solidarität, die durch Worte und Taten zum Ausdruck kommt.“[5]
Eine unbequeme Wahrnehmung
„Die Bedeutung von Klasse“ ist ein unbequemes und aktuelles Buch, obwohl zwischen der Veröffentlichung des englischen Originals und der deutschen Übersetzung 20 Jahre liegen.
Das Buch fordert die deutschen Leserinnen und Leser auf eine besondere Art und Weise heraus, denn schon die angemessene Übersetzung der zentralen Begriffe ‚race‘, ‚gender‘ und ‚class‘ ist nicht ganz einfach. Zu viel Begriffsgeschichte, Bedeutungsverschiebung vom Englischen ins Deutsche und auch Konfliktpotential bringen sie mit. Auch deshalb erreicht die deutsche Übersetzung leider nicht ganz die Eleganz des englischen Originals.
Und schließlich ist „Die Bedeutung von Klasse“ auch deshalb ein unbequemes Buch, weil es mit einer sprachlichen Radikalität herausfordert, gegen die man besonders als deutsche Leserin und als deutscher Leser Einspruch erheben will, könnte und vielleicht auch sollte. So schreibt hooks beispielsweise von „Klassengenozid“[6] und vergleicht durch Zäune und Tore vom Rest der Stadt abgegrenzte Elendsviertel in den USA explizit mit den nationalsozialistischen Ghettos und Konzentrationslagern.[7]
drängende Fragen nach kirchlichen Diskriminierungen
Gerade diese Radikalität zeigt aber auch die Eindringlichkeit der Fragen, die bell hooks stellt und die auch den deutschen Sprachraum und auch kirchliche Kontexte betreffen: Haben wir in unseren Gemeinden, kirchlichen Einrichtungen und Verbänden auch diejenigen im Blick, die nicht als Ärzt*innen, Lehrer*innen und Ingenieur*innen arbeiten? Und wenn ja: Auf welche Weise? Wie drücken wir Solidarität aus? Welchen Stellenwert hat Wohlstand und Vermögen für uns ganz persönlich aber auch bei der Besetzung kirchlicher Gremien oder der Verteilung haupt- und ehrenamtlicher Aufgaben? Und wie können wir als Christ*innen dafür sorgen, dem Traum einer gerechteren Welt tatsächlich näher zu kommen?
„Schweigen brechen – über Klasse sprechen und akzeptieren, wo wir stehen – ist ein notwendiger Schritt, wenn wir in einer Welt leben wollen, in der Wohlstand und Reichtum geteilt werden können, und in der Gerechtigkeit sowohl in unserem öffentlichen als auch privaten Leben verwirklicht werden kann.“[8]
___
Autorin: Judith König ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg und war bis zum August 2020 zusätzlich an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der selben Universität beschäftigt.
Foto: Nadine Shaabana / unsplash.com
[1] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 177.
[2] https://www.katholisch.de/artikel/24730-baetzing-frauenfrage-wird-wichtigste-herausforderung-meiner-amtszeit [Zugriff am 11.09.2020].
[3] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 11.
[4] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 52.
[5] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 55.
[6] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 12.
[7] Vgl. hooks, Die Bedeutung von Klasse, 105.
[8] hooks, Die Bedeutung von Klasse, 8-9.