Der Titel der neuen Enzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“ hat schon zu Debatten geführt, ob der Text genügend gendergerecht sei: Er ist es! Ein Kommentar von Christian M. Rutishauser SJ.
Fratelli tutti – das Zitat von Franz von Assisi wird gleich auf eine globale Geschwisterlichkeit hingelenkt und im ganzen Text durchgehalten. Eine Ausnahme sind die Ausführungen über „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit“, die sich auf das Motto der französischen Revolution beziehen. Die Enzyklika hat aber nicht die Genderdebatte zum Thema. Sie widmet sich den aktuellsten gesellschaftlichen Entwicklungen, die global gesehen, durch die Covid-Pandemie verstärkt, in ihrer negativen Dynamik in die Kritik genommen werden.
In markanten und scharfen Worten verurteilt Papst Franziskus die Folgen einer rein profitgetriebenen, technokratischen und neoliberalen Globalisierung. Seine Ansicht ist aus vielen früheren Reden und Texten bekannt, die auch reichlich zitiert und in einen größeren Rahmen gestellt werden. Es ist eine Entwicklung, die entsolidarisiert und sogar tötet. Menschen werden entsorgt. Dabei beschreibt Franziskus den Popularismus, den Verfall der Debattenkultur, den wachsenden Nationalismus, den Rassismus, die Kommunikation in den sozialen Medien etc. Er sieht diese Phänomene alle vom selben Geist geprägt. Sie sind Reaktionen auf die Globalisierung, die geschichtliche und kulturelle Entwurzelung mit sich brachte. Sie geben Heimat vor, schotten jedoch ab und berücksichtigen nur die eigene Gruppe, führen in einen neuen Tribalismus.
Kritik an profitgetriebener, technokratischer und neoliberaler Globalisierung.
Die Enzyklika bietet kaum tiefgreifendere soziologische Analysen. Die Darstellung der gesellschaftlichen Situation wird skizziert. Sie fokussiert auf die Schattenseiten der Globalisierung, ohne auch Errungenschaften positiv zu würdigen. Mit einigen Darstellungen mag auch der/die wohlwollende Leser/in nicht übereinstimmen. Doch man schaut darüber hinweg, wenn man realisiert, dass Papst Franziskus die ganze Entwicklung in einem falschen Menschenbild begründet sieht. Sie ist Phänomen einer Sicht, die den Menschen nur von seinen unmittelbaren, materiellen Bedürfnissen her denkt, von einem Individualismus her, gemäß dem der Mensch zuerst für sich selbst schauen muss, bevor er sich anderen zuwendet. Dem setzt er kraftvoll ein Menschenbild entgegen, das davon ausgeht, dass der Mensch am Fremden und am Andern wächst. Jeder Mensch, aus welcher Nation und aus welcher Gesellschaftsschicht er auch kommen mag, hat seine Würde. Jeder Mensch wird in der mühsamen Kleinarbeit des Dialogs, in der Begegnung mit dem Fremden, dem Andern. Solidarität und Geschwisterlichkeit sind nicht Optionen, denen er sich zuwendet, sondern sie begründen sein Personsein.
Christliches Menschenbild: Der Mensch wächst am Fremden und am Andern.
Nur an wenigen Stellen greift der Text auf theologische Reflexionen zurück, obwohl dies auch für eine Sozialenzyklika durchaus charakteristisch wäre. Vielmehr stellt er das Gebot der Nächstensliebe ins Zentrum und zwar anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter aus Lk 10. Nicht fragen, wer ist mein/e Nächste/r, sondern sich jedem anderen Menschen zum/zur Nächsten machen! Franziskus greift dabei auf die jüdische Tradition, die/den Fremde/n zu lieben, zurück. Er unterstreicht seine Zusammenarbeit mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb, die zur Erklärung der Brüderlichkeit von Abu Dhabi führte. Als Frucht der islamisch-katholischen Zusammenarbeit stellt Franziskus den Text auch dar, wenn er sich auf Franz von Assisi und auf Charles de Foucault bezieht, die ihre Spiritualität der Geschwisterlichkeit in der Begegnung mit dem Islam formuliert haben. Wenn die Enzyklika gegen Ende hin die Religionen in den Dienst der Friedenarbeit stellt, religiöse Gewalt verurteilt, betont, dass im interreligiösen Dialog die Frucht das soziale Engagement sein soll, und Religionen zwar die Autonomie der Politik anerkennen, doch alle Bereiche der menschlichen Existenz, auch jene der Politik prägen sollen, ist der Text zugleich ein Statement darüber, wie Franziskus islamisches und christliches Engagement in der Welt sieht. Die Religionen werden als Traditionen stark gemacht, die in der Krise von heute mit ihren Werten Freundschaft, Solidarität und politisches Handeln stärken können. Mit dem Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit für Minderheiten, für einzelne Bevölkerungsgruppen und für die Opfer der Geschichte aus dem Dokument von Abu Dhabi endet der Text. Ein Gebet, gesprochen in Assisi bei der Unterzeichnung der Enzyklika, wird angefügt.
In der Krise stärken Religionen.
Die Enzyklika steht alles in allem für eine alternative Globalisierung: Solidarität aller Menschen über nationale Grenzen hinweg, radikal gleiche Würde aller, Engagement für das Gemeinwohl, Pflege der unterschiedlichen Kulturen, die Beheimatung geben, jedoch sich nicht gegeneinander abschotten. Sie entlarvt gerade die digitale und wirtschaftliche Hegemonie der westlichen Welt, die unter dem Anschein von technischem Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg Gesellschaften in ihrer Eigenentwicklung zerstört. Das Zusammenspiel von lokalen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteur/inn/en wird als notwendig gekennzeichnet, um eine alternative humanere Welt zu gestalten. Vor allem ruft Franziskus die Errungenschaften der EU, der UNO und anderer internationaler Strukturen in Erinnerung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, mit Abstand zu den Weltkriegen heute aber verloren zu gehen drohen. In diesem Sinn ist der Text konservativ und lobt die säkularen Errungenschaften der Spätmoderne. Dabei werden der rationale Diskurs und der Dialog als unerlässliche Mittel stark gemacht, zugleich aber auch ermahnt, dass es objektive Wahrheiten und transzendente Vorgaben braucht, an denen sich der Mensch auszurichten habe. Menschenwürde, Solidarität, Wahrheit, Gerechtigkeit, etc. seien Werte, die universal sind und nicht relativiert werden dürfen, wie dies heute zuweilen geschehe.
Alternative Globalisierung!
Kapitel 5, das die Politik gegenüber der Wirtschaft stärkt und ihre Aufgabe in einer globalisierten Welt beschreibt, kann der Selbstreflexion und Gewissenserforschung für jeden Politiker und jede Politikerin dienen: Der Dienst an der Gesamtgesellschaft jenseits von Einzelinteressen wird gefordert; der Fang von Wähler/innen-Stimmen dürfe nicht ausschlaggebend sein; die Orientierung an Werten und nicht an Eigeninteressen stehe im Zentrum; die Führung der Wirtschaft wäre wichtig, um ihr nicht ausgeliefert zu sein. Wenn Franziskus die Politiker/innen an den Movens der sozialen Freundschaft und die Nächstenliebe als Kern auch des politischen Handelns hinführt, dann spricht er sie auch als Menschen an, die nicht in ihrer gesellschaftlichen Funktion aufgehen dürften. Wenn die Nächstenliebe zum Beispiel den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin darin ermahne, jemandem zu helfen, einen Fluss zu durchqueren, so bedeute sie für den/die Politiker/in, eine Brücke zu bauen. Überhaupt versucht der Text, immer wieder die persönliche Verantwortung mit strukturellen Forderungen zu verbinden.
Soziale Freundschaft und Nächstenliebe als Kern politischen Handelns.
Damit eine vielfältige globale Welt entsteht, ist es notwendig, dass der Mensch sich der ganzen Wirklichkeit stellt, die konkrete Begegnung, das Gespräch und den Austausch über alle Grenzen hinweg immer wieder neu wagt. Papst Franziskus plädiert für eine nachhaltige humanistische Bildung, die sich immer am Gegenüber ausrichtet, nie nur das Individuum im Blick hat. Weil der Mensch in Kollektiven eingebettet ist und diese Kollektive auch immer wieder miteinander in Auseinandersetzung geraten, brauche es vor allem Bemühungen der Versöhnung. Daher widmet die Enzyklika ein eigenes Kapitel der Konfliktbewältigung. Klar spricht sie sich darin aus, dass Krieg angesichts der technischen Vernichtungswaffen und der globalen Vernetzung heute kein Weg der Konfliktlösung ist. Franziskus stellt sich nochmals gegen die Todesstrafe wie auch gegen die lebenslange Haft. Immer wieder soll der Mensch eine neue Möglichkeit erhalten, neu gebildet und integriert zu werden. So hat der Text sehr pointierte Aussagen zu verschiedenen ethischen Fragen. Gerade auch die Aussagen zur Migration als Quelle der kulturellen Bereicherung sind lesenswert.
Migration als Quelle der kulturellen Bereicherung.
Franziskus schreibt die katholische Soziallehre fort. «Fratelli tutti» muss sicher als Ergänzung zu «Laudato si’» gelesen werden. Die ökologische Frage wird hier nicht mehr aufgenommen, sondern durch einen Blick auf die unmittelbaren gesellschaftlichen Phänomene ergänzt. Der Stil ist weniger analytisch, sondern von vielen persönlichen Reflexionen und Erfahrungen gespeist. Die Erfahrungen von Lateinamerika und die Fragestellungen, die an der Amazonassynode diskutiert wurden, scheinen an vielen Stellen durch. Interessant ist, dass ca. zehn verschiedene Bischofssynoden aus aller Welt zitiert werden. Man sieht das Bemühen, die weltweite, dezentralisierte, kirchlich-hierarchische Kompetenz einfliessen zu lassen. Die Enzyklika ist eine kräftige Stimme, nicht bei materiellen und wirtschaftlichen Fragen anzusetzen, um Lösungen für die globale, gesellschaftliche Krise zu suchen, sondern sich auf ein Menschenbild zu besinnen, wie es die intellektuelle abendländische Tradition über Jahrhunderte entwickelt hat. Im Dialog mit den Traditionen anderer Kontinente können Wege in eine solidarische und geschwisterliche Weltgemeinschaft gegangen werden. Franziskus bleibt mit diesem Text seinem missionarischen, sozial-ethischen Engagement treu, ganz den Gesellschaftsfragen zugewandt. Die ungelösten, innerkirchlichen Fragestellungen mögen ihm nicht in den Rücken fallen.
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Text: Dr. Christian M. Rutishauser SJ, Provinzial der Schweizer Jesuiten, Lehraufträge für Jüdische Religion in München, Rom, Fribourg, Mitglied der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission der Schweizer und der Deutschen Bischofskonferenz; ständiger Berater des Heiligen Stuhls für Belange des Judentums.
Bild: Christian M. Rutishauser