Das Fahrrad hat sich, nicht zuletzt durch die Pandemie, mittlerweile flächendeckend in allen Bevölkerungsschichten als zeitgemäßes Fortbewegungsmittel etabliert. Aus der Erfahrung eines Rad(el)sommers heraus formuliert Simone Birkel Assoziationen – Analogien – Anarchisches.
Viele Menschen haben im Sommer 2020 öffentliche Verkehrsmittel gemieden und den Urlaub zuhause verbracht. Das hatte Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche. Die Fahrradbranche in Deutschland meldet beispielsweise bis zu 40 % Prozent gestiegene Verkaufs- und Produktionszahlen. 1 Nicht wenige mussten aufgrund von Lieferengpässen monatelang auf das neue Fahrrad warten. Dabei ist es auf dem seit Jahren boomenden Zweiradmarkt gar nicht so einfach, das passende Rad zu finden, denn mittlerweile ist die Zahl der unterschiedlichen Fahrradtypen schier unüberschaubar. Es gibt City-Räder, Mountainbikes, Rennräder, Cross-Bikes, Travel Bikes, nicht zu verwechseln mit dem Gravel-Bikes usw. Sie unterscheiden sich je nach Einsatzgebiet, Ausstattungsmerkmalen oder sind angepasst an den individuellen Style der Fahrerin, wie z.B. Beach Cruiser oder Retro-Bikes.
City-Räder, Mountainbikes, Rennräder, Cross-Bikes, Travel Bikes, Gravel-Bikes
Außerdem stellt sich bei einem Neukauf die grundlegende Frage: Mit oder ohne elektrischen Rückenwind? Wer auf den Fahrradwegen des Landes unterwegs ist, bekommt schnell den Eindruck, dass es mittlerweile gesetzlich verboten wäre, Fahrräder ohne Unterstützung anzubieten. Tatsächlich wurden im ersten Halbjahr 2020 in Deutschland rund 1,1 Mio. E-Bikes gekauft.2 Mittlerweile haben Fahrradfahrer*innen, die auf zwei Rädern aus eigenem Antrieb durch den Tritt in die Pedale ohne elektrische Unterstützung fortbewegen, Seltenheitswert und werden als „Natur-Radler*innen“ im Gegensatz zu den E-Biker*innen bezeichnet. Hier zeichnen sich bereits erste Lagerbildungen ab, auf die noch einzugehen sein wird.
Wer sich mit dem Themenbereich „Frauen und Fahrrad“ beschäftigt, stößt schnell auf die Tatsache, dass gerade in den Anfängen des Radsports dieses Thema mit vielen Vorbehalten behaftet war.3 Bis zum ersten Weltkrieg galt es in Deutschland für Frauen unschicklich, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Die öffentliche Ordnung würde untergraben, wenn Frauen mehr und mehr mobil und damit weniger ans Haus und damit an die häuslichen Tätigkeiten gebunden sind. Die angepasste Kleidung (Verzicht auf das Korsett und stattdessen das Tragen von Hosenröcken oder sogar Hosen!) sowie der Verdacht auf eine mögliche Begünstigung der Masturbation durch die gespreizte Beinhaltung, machte fahrradfahrende Frauen mehr als verdächtig. Umso erstaunlicher, dass derartige Argumentationen zum Teil bis in die heutige Zeit in kirchlichen Kreisen zumindest latent vorhanden sind. Nicht alle Frauen schaffen es auf Anhieb, misogynen Kommentaren rund um das Thema Fahrradfahren eine deutliche Abfuhr zu erteilen.
Frauen untergraben die öffentliche Ordnung.
Theologinnen, die aus Überzeugung leidenschaftlich Fahrrad fahren, sind gar nicht so selten. Zunächst eine Definition von leidenschaftlich Fahrradfahren: gemeint sind Menschen, die nicht nur ab und zu das Fahrrad als Fortbewegungsmittel nutzen, sondern jährlich mindestens im vierstelligen Bereich als Natur-Radler*in unterwegs sind. Auf Anhieb fallen mir aus dem persönlichen Bekanntenkreis Namen wie Gunda Werner, Katrin Bederna, Annegret Langenhorst oder Sabine Bieberstein ein. Vielleicht, so könnte gemutmaßt werden, könnte analog zur niederländischen Frauenbewegung De Evolutie von 1895 das Radfahren der Theologinnen auch als „Akt der Befreiung, mit dem die Frauen der Enge und erstickenden Atmosphäre […] entfliehen“4 gleichgesetzt werden? Sie alle teilen die Erfahrung, wie schweißtreibend Anstiege, wie nervig zu eng vorbeifahrende oder auf dem Radweg parkende Autos, wie demotivierend schlecht ausgebaute Fahrradwege oder wie zermürbend Regen oder Gegenwind sein können. Diese Erfahrungen sind zwar den meisten Radfahrer*innen bekannt. Theologinnen, die Fahrrad fahren, werden diese jedoch nochmal auf einer anderen Ebene reflektieren: Sie kennen systematisches Ausgebremst- und Blockiertwerden, mittelmäßige bis schlechte Infrastrukturen, aggressive Überholmanöver von Klerikern mit röhrenden Motoren sowie Gegenwind oder Dauerberegnung von reaktionären kirchlichen Minderheiten. Gleichzeitig wissen sie auch um die beglückenden theologischen Gipfelerfahrungen mit unglaublichen Weitblicken, wohltuenden (echten) Rückenwindpassagen, erfüllenden Fahrradfreundschaften mit Gleichgesinnten, die gemeinsam auf dem Weg sind, und die Freiheit, nicht auf fossile respektive ausbeuterische Brennstoffe oder elektronische Infrastrukturen angewiesen zu sein.
Ausgebremst- und Blockiertwerden
Um solch befreiende Erfahrungen unter Verschluss zu halten, gab und gibt es unterschiedliche Strategien, Frauen das Fahrradfahren abspenstig zu machen. Wie Anne-Katrin Ebert, Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien aufzeigt, erschienen um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert mehrere Erzählungen, die ein funktionierendes Familienleben allein durch die Einsicht und den Verzicht der Frau auf das Fahrradfahren propagierten.5 Auch heute im 21. Jahrhundert gibt es Versuche, „Frauen in der Öffentlichkeit und an Orten, wo sie gesehen werden können“ das Fahrradfahren zu verbieten. Zwar gilt dieses Verbot nicht in der katholischen Kirche, eine Analogie legt sich jedoch nahe. Bekannterweise dürfen ja Frauen in der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit und an Orten, wo sie von anderen gesehen werden können, keine eucharistische Gottesdienste feiern. 2016 reagierten Frauen auf das im Iran ausgesprochene Fahrradfahrverbot mit Protesten und posteten auf den sozialen Netzwerken unter #IranianWomenLoveCycling Bilder von sich, auf denen sie fahrradfahrend abgebildet sind.6
Women love cycling.
Noch eine Überlegung zum scheinbaren Konflikt zwischen E-Bike und Naturbike: Natürlich kommen Emotionen auf, wenn frau sich aus eigener Muskelkraft womöglich noch mit Tourengepäck und hochrotem Kopf den Berg hochquält, um dann von unsportlichen E-Biker*innen locker flockig überholt zu werden. Insgesamt gesehen freue ich mich jedoch über alle, die mir auf einem Fahrrad begegnen. Zeigt es doch, dass die Sehnsucht nach Freiheit, Bewegung und frischer Luft wegführt von alteingefahrenen, verkehrslärmenden und stickigen Fahrspuren und Schnellstraßen.
Sehnsucht nach Freiheit
Die Wende hin zum Fahrrad lässt nämlich auch Städteplaner*innen allmählich umdenken: In vielen Städten wird eine neue Infrastruktur in Form von eigenen Fahrradstraßen geschaffen.7 Auch hier bietet sich eine kirchliche Analogie an: neue pastorale Planungen und Innovationen, die angemessen auf die Veränderungen reagieren, sind notwendig und überfällig. Auch was die Wahl des Fahrrads betrifft, gibt es gute Gründe für die unterschiedlichen Typen. Manchmal ist es einfach schön und erfüllend, mit dem Rennrad schnell und in einer Gruppe von leistungsstarken Fahrer*innen unterwegs zu sein. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, welch irre Geschwindigkeiten beim Windschattenfahren in der Gruppe erreicht werden können, weiß wie beglückend es sein kann, mit stärkeren Fahrer*innen mithalten zu können, ohne sich völlig verausgaben zu müssen. Diese Technik des Windschattenfahrens im Team sollten Theologinnen gerade in Zeiten, wenn der Wind von vorne kommt und das Ziel noch meilenweit entfernt ist, üben und nutzen.
Windschattenfahren
Andererseits können mit einem geländegängigen Fahrrad individuell auch Wege gefahren werden, die abseits vom Mainstream liegen und nicht selten spannende Entdeckungen beinhalten. Und auch die klassischen Tourenräder haben nach wie vor ihre Berechtigung: Sie ermöglichen es den Fahrerinnen, lange Distanzen zu überwinden und kontinuierlich unterwegs zu sein. Und zu guter Letzt: auch E-Bikes aller Art sind nicht grundsätzlich abzulehnen. Wenn ein Ziel schnell und schweißfrei erreicht werden will, leistet es gute Dienste. Oder auch, wenn die Kondition noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist, ist das E-Bike eine gute Option, insbesondere wenn es solidarisch geteilt wird. So können auch Schwache oder Marginalisierte im Strom mitfahren, in die Gemeinschaft eingebunden werden und gemeinsam gesetzte Ziele erreicht werden.
Gegen den Mainstream.
Und das scheint mir als radelnder Theologin doch gerade das Reizvolle zu sein: Gemeinsam mit möglichst vielen unterschiedlichen Menschen frei, sinnerfüllend und zukunftsfähig unterwegs zu sein. Und so bleibt mit dem bekannten Zitat von Albert Einstein zu resümieren: „Das Leben ist wie Fahrrad fahren, um die Balance zu halten, musst du in Bewegung bleiben.“ Und so ist es auch mit der Theologie und sogar mit der katholischen Kirche …
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Text: Dr. Simone Birkel ist Dozentin für Jugend- und Schulpastoral an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Mitglied des Bundesvorstandes von AGENDA – Forum katholischer Theologinnen e.V.
Bild: Simone Birkel
- Vgl. Beitrag von Thomas, Wagner, In der Corona-Krise steigt die Nachfrage nach Rädern. ↩
- Vgl. https://www.zeit.de/mobilitaet/2020-09/radfahrer-coronavirus-fahrrad-boom-staedte-zahlen-verkehr. ↩
- Vgl. exemplarisch dazu Kuhn, Heike, Vom Korsett zum Stahlroß. Zur Entstehung des Frauenradsports in Deutschland, St. Augustin 1995, S. 68ff. ↩
- Zitiert nach: Ebert, Anne-Katrin, Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940 (= Campus historische Studien. Nr. 52), Frankfurt am Main/New York 2010, S.131. ↩
- Vgl. dazu das Kapitel „Selbsttändigkeit durch das Rad? Die »Neue Frau« und die Erfahrung des Radfahrens“ ebd. 131-135. ↩
- Vgl. https://www.instagram.com/explore/tags/iranianwomenlovecycling/. ↩
- Vgl. beispielsweise Pinzler, Petra, Laufen und Laufen lassen, in: DIE ZEIT 39/2020. ↩