Eine Weggeschichte mit „Maria“ erzählt Schwester Katharina Ganz. Sie ist im Sommer durch den Spessart gewandert.
Meinen Sommerurlaub habe ich coronabedingt dieses Jahr hauptsächlich in der näheren Umgebung in Unterfranken verbracht. Zunächst lief ich drei Tag zu Fuß durch den Spessart zu Schwestern unserer Gemeinschaft nach Niedernberg bei Aschaffenburg, und dann auf einer anderen Strecke wieder zurück ins Kloster Oberzell bei Würzburg, wo ich lebe.
Keine zwei Stunden waren vergangen, als ich dabei Anfang August auf einem Feldweg bei Hettstadt einen geplatzten Luftballon fand mit einem Anhang in Herzform, dessen Aufschrift noch gut lesbar war. Auf dem Zettel stand auf der einen Seite die Adresse einer Maria K. aus Kleinwallstadt und auf der Rückseite die Worte: „Ich werde euch vermissen!“
Ich hob die Überreste des Ballons auf und sah auf meiner Wanderkarte nach, wo Kleinwallstadt liegt, neugierig herauszufinden, wie weit der mit Gas gefüllte Ballon wohl geflogen sein mag. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass der Ort gleich neben Niedernberg liegt, keine 7 Kilometer weg, nur auf der anderen Mainseite. Da die Reste ja nicht viel wogen, packte ich sie ein und nahm mir vor, Maria K. aufzusuchen, um ihr zu Fuß den Ballon zurückzubringen, zu berichten, wo ich ihn gefunden hatte und wie weit er geflogen war.
Ich werde euch vermissen.
In den drei Tagen, die ich bei großer Hitze und mit vielen Blasen an den Füßen durch den Spessart wanderte, wünschte ich mir oft, ich wäre der Ballon gewesen und hätte einfach über Wald und Wiesen fliegen können, ohne die Strapazen des Weges in Kauf nehmen zu müssen. Oft dachte ich an Maria und fragte mich, wie alt sie wohl ist. Ihre Schrift sah aus wie die eines Mädchens. Welchen Abschied hatte sie wohl erlebt? Wen würde sie in Zukunft vermissen? Vielleicht hat sie mit dem Ende des Schuljahres die Schule verlassen?
Manchmal überlegte ich, in welcher Familie sie wohl lebte, wer ihre Eltern waren, ob sie noch Geschwister hatte, wer den Namen Maria für sie ausgewählt hatte. Irgendwann fing ich an, mich zu fragen, ob ich sie überhaupt antreffen würde. Vielleicht war sie ja in die Sommerferien weggefahren. Oder es wäre einfach niemand zuhause, wenn ich in Kleinwallstadt ankäme. Also schrieb ich ihr vorsichtshalber einen Brief und teilte ihr alles mit, was ich ihr erzählen wollte. Nach drei Tagen kam ich bei glühender Nachmittagshitze am Untermain an. Ich verließ den schattigen Wald und lief noch einige Kilometer über die völlig ausgetrocknete Mainebene. Mit Hilfe einer App konnte ich leicht die Adresse ausfindig machen, ohne einen Umweg gehen zu müssen.
Am Hoftor befand sich ein Briefkasten mit allen Vornamen der Familie. Maria hatte also Geschwister. Als ich klingelte, öffnete mir eine noch relativ junge Frau K. Ihr Mann stand in Arbeitskleidung im Hof und war wohl gerade am Streichen der Wohnung – ein Handwerker. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken erzählte ich meine Geschichte mit dem Luftballon ihrer Tochter Maria, und dass ich ihn persönlich zurückgetragen hatte. Dem Vater standen sofort Tränen der Rührung in den Augen und er zog sich ins Haus zurück. Die Mutter lud mich ein, im Garten Platz zu nehmen und bot mir Wasser an. Maria war an dem Nachmittag bei einer Freundin. Dennoch hatte ich Glück: Am Wäscheständer trocknete gerade die letzte Wäsche, bevor die Familie am nächsten Tag in Urlaub fahren würde.
Glück
Dann rief Frau K. per What‘s App ihre Tochter an und stellte die Kamera an. So konnte ich Maria sehen, ein 10-jähriges Mädchen mit dunklen Augen und langen Haaren. Den Ballon hatte sie an der Abschlussfeier nach der Grundschulzeit steigen lassen. Sie selbst wird weiter auf die Mittelschule gehen, während viele ihrer Klassenkamerad*innen auf andere Schulen wechseln. Rund 70 Kilometer war der Ballon geflogen. Kurz bevor er wieder den Main erreicht hätte, war er auf der Hettstadter Höhe geplatzt.
Als ich erzählte, wer ich bin, gestand mir Marias Mutter, sie sei nicht getauft und habe bislang auch keinen Bezug zur Kirche gefunden. Ihr Mann sei aber Kleinwallstadter, Maria habe den Namen ihrer Oma bekommen, alle Kinder seien katholisch getauft. Nach einiger Zeit verabschiedete ich mich wieder, denn es war spürbar, dass Frau K. noch einiges zu erledigen hatte, bevor sie mit ihrer Familie am nächsten Tag in den Urlaub fahren konnte.
Drei Tage lang hatte ich über das Mädchen Maria und ihren Namen nachgedacht, hatte sie in mir getragen und zu ihr hin gespürt, ohne zu wissen, wer sie war und was sie ausmachte. Vielleicht war es Maria, der Mutter Jesu ähnlich gegangen, als sie über Stock und Stein ins jüdische Hinterland geeilt war, um mit ihrer Cousine Elisabeth über ihre ungewöhnliche Schwangerschaft zu sprechen. (Allerdings war Maria damals die junge Frau, und Elisabeth die deutlich ältere, die Besuch bekam, nicht umgekehrt wie in meinem Fall!)
Meine kleine Weggeschichte erinnert mich an ein Gebet des kürzlich verstorbenen Bischof Pedro Casaldáliga:
„Am Ende des Weges wird man mich fragen:
Hast Du gelebt?
Hast Du geliebt?
Und ich werde,
ohne etwas zu sagen,
das Herz auftun – voll von Namen.“
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Text: Sr. Dr. Katharina Ganz OSF, Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen.
Bild: Sr. Katharina Ganz