In seiner Enzyklika Fratelli tutti hat Papst Franziskus den erstarkenden Nationalismus in vielen Ländern heftig kritisiert. Er sei ein gesellschaftlich-politisches Gift, das vielfältiges Elend hervorbringe, namentlich die Ausgrenzung und Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen. So klar hat noch kein Pontifex zuvor gesprochen. Mit einer Ausnahme: Pius XI. Er sah im Nationalismus die Triebfeder schlechthin für den rassischen Antisemitismus, namentlich in NS-Deutschland. So die Recherche von Klaus Kühlwein.
Im Frühsommer 1938 hatte sich Papst Pius XI. zu einem gewagten Schritt entschlossen. Er wollte fortan politischen Widerstand leisten gegen den rassischen Antisemitismus. In Deutschland war der Judenhass von Jahr zu Jahr gewachsen und die Diskriminierung der Juden unerträglich geworden. Im faschistischen Italien bahnten sich ähnliche Entwicklungen an. Unübersehbar loderten Flammenzeichen am Horizont.
Pius XI. war entschlossen, den übertriebenen Nationalismus als Brutstätte für Rassismus und Antisemitismus zu verurteilen.
Im letzten Jahr seines Pontifikats war der alte Papst zur Überzeugung gelangt, dass nicht pseudowissenschaftliches Denken über höhere und niedere Rassen und deren Folgerungen für die Judenverachtung und beginnende Judenverfolgung in NS-Deutschland verantwortlich sei, sondern der „völkische“ Nationalismus. Pius XI. war entschlossen, diesen Zusammenhang in einer Enzyklika darzulegen und den übertriebenen Nationalismus als Brutstätte für Rassismus und Antisemitismus zu verurteilen. Das Schreiben sollte sein Vermächtnis werden an die Welt. Doch dazu kam es nicht. Papst Pius wurde hingehalten und am Ende ausmanövriert.
„The Pope is mad!“
Als der langjährige und einflussreichste Ordensobere der Jesuiten, Pater Wladimir Ledóchowski SJ, am Sonntagabend, den 26. Juni 1938 ins Jesuitengeneralat kam, rief er entsetzt auf Englisch: »The Pope is mad!« Er war gerade von einer Privataudienz bei Pius XI. gekommen, in der er erfahren hatte, dass eine Enzyklika über Nationalismus und Rassismus-Antisemitismus veröffentlicht werden soll. Einen fähigen Autor hatte Pius auch schon beauftragt: Jesuitenpater John LaFarge aus New York. Für den Pater General Ledóchowski war eine Enzyklika mit diesem Thema und in dieser Zeit ein Unding. Wollte der Papst wirklich ein großes Fass Öl ins Feuer gießen? Nach Ledóchowski war der Kommunismus die große Gefahr. Die Rassenfrage war subsidiär und außerdem für die Kirche nur eine theologische Thematik für den akademischen Bereich und kein soziologisch-politisches Problem. Zudem gäbe es für Antisemitismus auch berechtigte Gründe. In der vatikanischen Kurie dachte man ähnlich. Das wusste der bestens vernetzte Jesuitenobere.
Pius XI. zu LaFarge: „Schreiben Sie einfach so, als wären Sie der Papst!“
Beim Pater General läuteten auch Alarmglocken, weil Pius XI. ihn im Vorfeld übergangen hatte. Das war tatsächlich mehr als ungewöhnlich. Papst Pius XI. hatte Pater LaFarge während seiner Europareise geradezu konspirativ zu sich zitiert und ihn unter vier Augen streng vertraulich beauftragt, den Grundtext der geplanten Enzyklika zu schreiben. Für Pius XI. war der Pater der ideale Kandidat. LaFarge dagegen war perplex und fühlte sich, als sei der Felsen Petri auf ihn gestürzt. Pius XI. erinnerte den Pater an dessen gesellschaftskritisches Buch Interracial Justice, das er ein Jahr zuvor in den Staaten veröffentlicht hatte. Es sei wirklich das Beste, was er zu diesem Thema gelesen habe, lobte Pius. Insbesondere interessiere ihn der Zusammenhang zwischen Nationalismus und Rassismus. Das beschäftige ihn in letzter Zeit sehr. »Schreiben Sie einfach so, als wären Sie der Papst«, ermutigte Pius XI. den immer noch verdutzten Pater, und Pius XI. verlangte, dass er das Manuskript ihm persönlich übergeben solle.
Neben dem Jesuitengeneral Ledóchowski hat Papst Pius XI. übrigens auch seinen Kardinalstaatssekretär Pacelli übergangen. Auch dieser wusste anfänglich nichts über das Vorhaben seines Chefs. Warum diese Geheimniskrämerei vor seinen engsten Mitarbeitern? Sie standen doch in vorderster Reihe, wenn es darum ging, eine Enzyklika zu planen und vorzubereiten.
LaFarge solle im Verborgenen mit Hilfe zweier fähiger Leute an der Enzyklika arbeiten und am besten nicht hier in Rom.
Bereits am nächsten Tag, nachdem der Papst den Jesuitenoberen instruiert hatte, traf sich dieser mit LaFarge. General Ledóchowski schärfte dem US-Pater ein, das Projekt ja geheim zu halten. Nichts davon dürfe öffentlich werden. Andernfalls würden sämtliche Regierungen Europas innerhalb von vierundzwanzig Stunden den Vatikan einrennen und ihre Standpunkte darlegen, so der Jesuitenchef. LaFarge solle im Verborgenen mit Hilfe zweier fähiger Leute an der Enzyklika arbeiten und am besten nicht hier in Rom. Die Wahl fiel auf Paris, wo einer der zwei Helfer wirkte, der Sozialethiker Pater Desbuquois SJ. Die andere Stütze war der deutsche Pater Prof. Gundlach SJ, ein ausgewiesener Experte für Gesellschaftsphilosophie.
Arbeitstitel „Die Einheit des Menschengeschlechts“ (Humani Generis Unitas)
Ende September 1938 war das Manuskript mit dem Arbeitstitel „Die Einheit des Menschengeschlechts“ (Humani Generis Unitas) fertig. Derweil hatte es in Rom wegen dreier kurzer Redebemerkungen von Pius XI. über den gefährlichen Nationalismus und den Antisemitismus jeweils heftige politische Erschütterungen gegeben. Letztere trieb ihre Bebenwelle aktuell sogar um den Globus. Mussolini steigerte sich von Ärger zu Wut und schließlich wurde er rasend. Staatssekretär Pacelli hatte alle Hände voll zu tun, um die Fauxpas des Pontifex diplomatisch klein zu reden. Die letzte Äußerung von Pius XI. bei einer Pilgeraudienz: »Der Antisemitismus ist unannehmbar, spirituell sind wir alle Semiten«, wurde sogar in vatikanischen Medien unter der Decke gehalten. Pacelli war dafür weitgehend verantwortlich. Aus der Welt schaffen ließ sich das „Wort“ aber nicht mehr, denn zahleiche Zeitungen rund um den Planeten druckten es genüsslich ab. Heute ist man im Vatikan der Peinlichkeit ausgesetzt, eine außervatikanische Quelle angeben zu müssen, wenn in einer päpstlichen Verlautbarung stolz an das Semiten-Wort Pius XI. erinnert wird.
Pater Rosa war die graue Eminenz der richtungsweisenden Jesuiten-Publikation Civiltà Cattolica. Viele antisemitisch orientierte Artikel stammten aus seiner Feder.
Pater General Ledóchowski hatte sich mittlerweile einen listigen Plan zurechtgelegt, wie er die Enzyklika sabottieren könnte. Er verabredete ausgerechnet mit Pater Enrico Rosa SJ die Begutachtung des Textes. Pater Rosa war die graue Eminenz der richtungsweisenden Jesuiten-Publikation Civiltà Cattolica. Viele antisemitisch orientierte Artikel stammten aus seiner Feder. Bis zum Herbst 1938 war die Linie Rosas bzw. der Civiltà Cattolica klar: Die Juden sind ein Fremdkörper in den Völkern – auch im italienischen Volk – und ihr vielfältiger, feindlicher Einfluss schadet der christlichen Gesellschaft und der Kirche. Das gelte insbesondere für die jüdischen Umtriebe liberalistischer, kommunistischer und freimaurerischer Art. Der Staat und die Kirche hätten das Recht, sich zu verteidigen.
Ende September verlangte der Jesuitenobere mit seiner ganzen Autorität, dass ihm LaFarge das Manuskript aushändigen solle – entgegen des ausdrücklichen Verlangens Pius XI. Schließlich müsse der Text erst sorgfältig von Experten geprüft werden. LaFarge solle gehorchen und sofort nach New York abreisen. Dem Pater blieb nichts anderes übrig. Als der Mitautor Pater Gundlach kurz darauf davon erfuhr, war er entsetzt. Das Manuskript in Händen des Pater Generals und Pater Rosas! Welche Rolle Kardinal Pacelli dabei spielte, bleibt unklar. Bislang sind im Vatikanarchiv dazu keine Dokumente aufgetaucht. Ziemlich sicher kann aber gesagt werden, dass Pacelli von Pater Ledóchowskis und Pater Rosas Expertise-Vorhaben wusste.
Der Pater General würde mit Hilfe seiner Experten die Begutachtung so lange in die Länge ziehen, bis sich das Problem durch den Tod des alten, kranken Papstes von selbst löste.
In einem Brief an seinen überrumpelten Mitbruder LaFarge machte Pater Gundlach seiner Enttäuschung Luft. Der Pater General würde mit Hilfe seiner Experten die Begutachtung so lange in die Länge ziehen, bis sich das Problem durch den Tod des alten, kranken Papstes von selbst löste. Die einzige Chance sei, wenn Pius einen persönlichen, erklärenden Brief bekäme. Dann könne der Text vielleicht noch gerettet werden. LaFarge schrieb den peinlichen Brief. Doch es ist sehr zweifelhaft, dass er jemals in die Hände von Pius gelangte. Das legen die Umstände und eine spätere Bemerkung Pater Gundlachs nahe.
Es blieb dabei. Der Text wurde vom Schreibtisch Pius XI. ferngehalten. Bis heute wird das verteidigt mit dem Hinweis, dass die theologische Passage zum Judentum, die das herkömmliche antijudaistische Denken der Kirche beschreibe, auf keinen Fall hätte veröffentlicht werden dürfen. Tatsächlich ist es bedauerlich, dass sich die drei Autoren genötigt sahen, die bis dato geltende Ansicht über die „verstockten“ Juden in ihren Entwurf einzubauen. Das schmälert aber nicht den Wert vieler starker Passagen. Pius XI. hätte die antijudaistischen Einschübe streichen und es beim Hinweis auf seine Verurteilung des Antisemitismus (1928) belassen können.
Dem todkranken Papst volle 7 Monate nach dem dringlichen Geheimauftrag so etwas zu schreiben, war einfach nur unverschämt.
Dazu hatte der alte Papst keine Gelegenheit mehr. Erst drei Wochen vor seinem Tod wurde ihm widerwillig der Text weitergereicht. Der sehr kranke Pius hatte ultimativ nach dem Manuskript verlangt. Im Begleitbrief schrieb Pater Ledóchowski aber unumwunden, dass die Vorlage nicht zu gebrauchen sei und man am besten das Projekt vergessen solle. Falls seine Heiligkeit aber das Projekt doch weiter verfolgen wolle, dann stünde er bereit, eine Vorlage zu beschaffen – nach altbewährter Art. Dem todkranken Papst volle 7 Monate nach dem dringlichen Geheimauftrag so etwas zu schreiben, war einfach nur unverschämt.
Es gelang Pius XI. nicht mehr, den Text von Pater LaFarge zu studieren. Am frühen Morgen des 10. Februar 1939 starb er nach Tagen immer größer gewordener Schwäche.
Nachdem Staatssekretär Pacelli zum neuen Papst gewählt wurde, stampfte er das Projekt ein. Eine Enzyklika zum Nationalismus-Rassismus-Problem war ihm zu heiß. Es sollte über 80 Jahre dauern, bis ein Papst wieder auf den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Rassismus aufmerksam macht.
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Autor: Dr. Klaus Kühlwein arbeitet beim Bildungswerk der Erzdiözese Freiburg. Sein Schwerpunkt: Vatikan/Kirche in der NS-Zeit
Beitragsbild: Johann Pock, privat