Den Klischees über Studierende der Theologie geht Helene Hild nach und zeigt mit dem Einblick in das Student*innenwohnheim, dass sich manche Themen des Studiums zwischen Abwasch und Schimmel doch über Jahrzehnte ähnlich bleiben.
„Was mich an diesen Christen nervt”, sage ich und köpfe einige arglose Gänseblümchen, „was mich an diesen Christen nervt, ist, dass sie sich ständig für die besseren Menschen halten. Vor allem diese Gewissheit und moralische und religiöse Überlegenheit, mit der die immer meinen, mir mein Leben und den Rest der Welt erklären zu müssen, das kann ich einfach nicht mehr hören.”
Ich sitze mit einem Freund auf einer grünen Wiese, die Sonne scheint, ich habe trotzdem schlechte Laune.
„Als ob das immer so einfach wäre, alles richtig zu machen, nicht zu zweifeln, auch wenn die Welt einen einfach nur in den Wahnsinn treibt! Das können die doch auch nicht!”
Vor allem diese Gewissheit nervt.
Ein weiteres Gänseblümchen muss dran glauben.
Der Anlass für jenes frustrierte Pflanzen-Massaker sind Menschen, genauer diejenigen, mit denen ich zusammen lebe. In meinem Studierendenwohnheim leben knapp vierzig Menschen, die Mehrheit von ihnen studiert Theologie an der benachbarten Universität und keiner von ihnen weiß der Existenz von Spülschwämmen auch nur im Entferntesten irgendeinen Sinn beizumessen. Zugegebenermaßen sieht unser Spülschwamm auch eher aus wie eine wilde und sehr beunruhigende Kolonie wohlgepflegter Giftpilze, entfernt verwandt mit „Kleiner Onkel“, dem Schimmel auf der Fensterbank. Ja, er hat einen Namen, nein, er hört nicht darauf. Das, was einst ein nützliches Küchenkraut war und auf selbiger Fensterbank verweilte, lässt nun in stummer und lebloser Trauer das hängen, was von seinen pelzigen Zweigen übrig ist. Umso lebendiger ist dafür der Inhalt des Kühlschranks und der beiden Mülleimer, letztere beherbergen eine Kolonie Fruchtfliegen in sämtlichen Entwick-lungsstadien.
Anleitungen auf dem Mitteilungsbrett
Manchmal vermisse ich das Wohnheim in meiner Heimatstadt Hamburg. Es ist nicht so, dass die Küche, die Flure oder die Gemeinschaftstoiletten dort auch nur annähernd sauber gewesen wären. Aber die Grabenkämpfe um ein angemessenes Ausmaß an Ordnung wurden hier viel direkter und öffentlichkeitswirksamer ausgetragen. Beispiele sind sehr explizite Anleitungen auf dem Mitteilungsbrett, wo die Eigentümer*innen des ungespülten Geschirrs selbiges doch verstauen möchten, Stapel verwaister Pfandflaschen, die vor der Zimmertür mutmaßlicher Übeltäter aufgetürmt werden, oder die vorübergehende Beschriftung der Küchenfenster mit „Gelber Sack“ und „Restmüll“ als Auflehnung gegen die Verpflichtungen des Mülldienstes.
Das psychologische Spielchen
In meinem neuen Wohnheim wird das Spiel psychologischer gespielt. „Nächstenliebe heißt auch abwaschen!“ steht in vermeintlich heiter geschwungenen Buchstaben über der Spüle und erinnert mich daran, dass ich in der Erfüllung meiner Christenpflicht scheitere, wenn ich meine Frühstücksschüssel ungespült auf der Anrichte stehenlasse. Eines Nachts, als ich versuche, im Angesicht der Apokalypse eine Portion Nudeln mit Pesto zu verspeisen, bekomme ich Gesellschaft von meinem Mitbewohner Jonathan.
Segen und Fluch des Theologiestudiums ist, dass Gespräche, vor allem die über das Studium, schnell eine sehr persönliche Ebene erreichen. Was anfängt als „Und, wie läuft die Hausarbeit?“ endet gerne in existenziellen Diskussionen über Gott, die Welt und das eigene Leben mit beiden. So auch dieses Mal – ich erzähle, dass ich mich über die Freundschaft zu „Kleiner Onkel“ und meinen anderen neuen Mitbewohner*innen freue und viele Uni-Veranstaltungen richtig spannend finde. Und dass ich trotzdem manchmal meine Freunde aus meiner Heimatstadt Hamburg ganz schön vermisse und ab und an das Gefühl habe, irgendwie noch nicht so richtig angekommen zu sein.
„Ich glaube“, sagt Jonathan, „ich glaube, dass Gott uns nicht ohne Sinn vor große Herausforderungen stellt. Wenn wir leiden, haben wir unsere Aufgabe nur noch nicht richtig verstanden. Gott lässt uns nicht ohne Hintergedanken leiden, er will uns etwas zeigen. Mir helfen da Lobpreis-Lieder manchmal ganz gut – so weiß ich, dass ich noch auf dem richtigen Weg bin.“
Einerseits eine beeindruckende Sicherheit
Ich huste und versuche, eine halb-inhalierte Spaghetti-Nudel aus meiner Luftröhre zu entfernen. Es ist dies nicht das erste Mal, dass ich im Laufe meiner Studienzeit einer Theologie wie dieser begegne. Trotzdem überrascht es mich immer wieder. Einerseits beeindruckt mich die Gewissheit von Menschen wie Jonathan. Das Wissen darum, dass auch Schimmel, Fruchtfliegen und Giftpilze ein überwindbares Übel darstellen und irgendwo einen Sinn haben, stelle ich mir beruhigend vor. Andererseits fühle ich mich im Angesicht eben jener Gewissheit oft fremd, manchmal sogar ein bisschen angegriffen. Sind das die besseren Menschen? Muss ich gegen alle Nahrungsreste im Abfluss und Staubflusen unter der Anrichte anlieben? Und sollte ich dafür dankbar sein? Geht das überhaupt? Will ich das überhaupt? Warum ist das für andere Leute so leicht? Und welche Konsequenzen muss ich daraus für mein Leben ziehen?
Blumen metzeln
Ich setze meine existenzielle Pflanzen-Hinrichtung fort und fühle mich fast noch schlechter, weil ich meinen Frust jetzt auch noch an unschuldigen Gänseblümchen auslasse. Ich halte inne. Ist dies der Moment der Umkehr? Kann ich auch diesem schrecklichen Gemetzel etwas Positives abgewinnen? Ich sammle die geköpften Gänseblümchen ein und ordne sie zu einem kleinen zerzausten Strauß. Als ich mich auf den Weg nach Hause mache, beschließe ich, ihn unter dem Zimmernamensschild meines Mitbewohners Jonathan zu platzieren – die Diskussion letzte Nacht ist vielleicht doch ein bisschen eskaliert.
Die Moralität der Sicheren kommt an Grenzen
Als ich unser Wohnheim betrete, weht mir der Duft von Frittierfett entgegen – Jonathan macht Pommes. Als ich die Küche betrete, finde ich eine verlassene Ansammlung von leeren Ölflaschen, einen Topf mit lauwarmem Fett und einige ungespülte Teller auf der Abtropffläche. Ich lächle. Irgendwie ist es auch beruhigend, dass die Moralität und das Leidensbewusstsein dieser Unerschütterlichen in einer menschenfreundlichen Abwaschetikette ihre Grenzen finden. Ich bin nicht die einzige, die manchmal scheitert – Nächstenliebe heißt auch abwaschen.
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Autor*in: Helene Hild, *1997 ist Theologiestudentin und befindet sich derzeit in ihrem Auslandssemester in Irland. Zuvor studierte sie evangelische Theologie in Hamburg und Göttingen und vermisst nun von Zeit zu Zeit das ordnungswidrige, aber sehr gemeinschaftliche Leben im Wohnheim.
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