»Gott« ist eine Mogelpackung. Mit »Gott« ist hier allerdings das neue Buch von Ferdinand von Schirach gemeint. Eine Buchbesprechung von Konstantin Sacher.
Menschen wie ich, die Theologie zum Beruf haben, freuen sich ja immer, wenn ihr Thema auch mal außerhalb der eigenen Blase Beachtung findet. Wenn also ein neues Buch mit Bestsellergarantie erscheint und Gott zum Thema macht, wow, das muss man sich ansehen.
Nun, leider werden wir enttäuscht. Klar gilt das erst einmal nur für mich persönlich, aber ich bin mir sicher, auch die meisten von Ihnen werden enttäuscht sein. Leider kann ich also keine Buchempfehlung aussprechen. Anhand des als Buch erschienenen Theaterstücks lässt sich allerdings dennoch durchaus etwas Wichtiges zeigen – und zwar gerade, weil das Buch so schlecht ist, wie es ist.
Sein Buch Gott nennen?
Eine nicht nur biblische Weisheit besagt ja: Bevor man die anderen kritisiert, sollte man erst einmal bei sich nach Fehlern suchen. Bin ich nicht selbst auf den Trick mit »Gott« auf dem Cover hereingefallen? Es gäbe ja durchaus auch für einen Theologen genug Gründe, ein Buch, das Gott im Titel führt, aus Prinzip schon links liegen zu lassen, anstatt sich zu freuen, dass das eigene Thema mal ins Rampenlicht rückt. Religion, zumal die christliche, kommt ohne Gott nicht aus. Wenn wir beten, beten wir in Gottes Richtung, wenn wir loben oder klagen, suchen wir nach einem Adressaten. Aber ein Buch über Gott schreiben? Sein Buch Gott nennen?
Nicht einmal das Buch der Bücher ist ja ein Buch über Gott. Sicher spielt Gott eine Rolle in unserer Heiligen Schrift, aber er, sie, es steht sicher nicht im Mittelpunkt, ist nicht die Hauptfigur. Wir erfahren etwas von Eva und Adam, von Sarah und Abraham, von Israel, von Gesetzen, Klagen, Lob, von Hoffnungen und Träumen und Ängsten der Menschen, von schrecklichen Ereignissen der Geschichte, auch von Wundern. Später dann können wir etwas über Jesus von Nazareth lesen, über die Entstehung der ersten Gemeinden, wir finden Briefe und erste theologische Abhandlungen.
Nur weil man Bestsellerautor ist, muss man ja noch keine Ahnung von Religion haben.
Aber Gott? Jahwe und Elohim kommen vor, der Vater im Himmel und noch andere Namen für das, was wir in der Religion dann als Gott adressieren. Aber Gott, womöglich auch noch in Fettdruck und Großbuchstaben wie auf dem Cover des Buches, um das es hier geht? Schon ein Blick in die Heilige Schrift lehrt uns, dass Gott nichts ist, was man außen auf ein Buch schreibt. Viel zu geheimnisvoll, viel zu groß und unbegreiflich ist das, was damit gemeint sein könnte.
Naja, nur weil man Bestsellerautor ist, muss man ja noch keine Ahnung von Religion haben. Ferdinand von Schirach, oder sein Verlag, hat das Buch eben »Gott« genannt. Und wenn damit der Gottesgedanke wieder einmal zum Thema des Nachdenkens wird, würde man ihm diesen Lapsus auch schnell verzeihen. Nur leider, nicht einmal das.
Ein Theaterstück, das eine Sitzung des Ethikrates nachstellt: Richard Gärtner möchte seinem Leben ein Ende bereiten.
Worum geht es also in diesem Buch? Es ist ein Theaterstück, das eine Sitzung des Ethikrates nachstellt. Ein sympathischer älterer Herr, Richard Gärtner, möchte seinem Leben mit Hilfe eines Arztes oder einer Ärztin ein Ende bereiten. Er ist nicht krank, er ist nur lebenssatt. Seine Frau, die er sehr liebte, ist an einer schrecklichen Krankheit gestorben, musste leiden, konnte nicht selbstbestimmt aus dem Leben gehen. Gärtner ist einerseits von dieser Erfahrung geprägt. Andererseits ist er seit dem Tod seiner Frau, trotz Kinder und Kindeskinder, jeder Freude des Lebens entrissen.
Gärtners Charakter leuchtet ein. Hier zeigt Schirach sein Können. Mit wenigen Worten skizziert er einen Menschen, über den man mehr erfahren möchte. Nur leider geht es dann gar nicht mehr um ihn. Er und sein Fall spielen im Folgenden keine Rolle mehr. Gärtners Rolle ist mit der eines Streichholzes vergleichbar. Ferdinand von Schirachs benutzt ihn, um das Stück in Gang zu bringen. Dann wird er allerdings achtlos liegen gelassen. Er ist sozusagen ein Verschleißteil.
Drei Sachverständige: eine Juraprofessorin, ein Mediziner und ein katholischer Bischof.
Schirach lässt stattdessen nacheinander drei Sachverständige auftreten, die schablonenhafter nicht hätten gezeichnet werden können. Litten, Sperling und Thiel. Eine Juraprofessorin, ein Mediziner und ein katholischer Bischof.
Litten argumentiert für Gärtners Anliegen, Sperling und Thiel dagegen. Die Argumente werden in völlig gekünstlelten Dialogen hintereinander aufgereiht. Littens Argumente laufen zu auf den Satz: »Das Recht sich selbst zu töten, ist, wie gesagt, ein Freiheitsrecht des Menschen.« Sperlings Argumente münden in der Beteuerung, dass der ärztliche Standeseid eine Hilfe bei der Selbsttötung verbiete.
Der Bischof wird gezeichnet als traditionalistischer Holzkopf.
Und der Bischof? Er wird von Schirach gezeichnet als traditionalistischer Holzkopf. Seine Argumente sind die von Augustinus und Thomas, und es scheint ihm egal zu sein, dass wir weder im vierten noch im dreizehnten Jahrhundert leben. Der einzige smarte Charakter ist Biegler, der Anwalt des alten Herrn Gärtner. Er weiß immer alles besser als die Sachverständigen, es gibt nichts, was ihn überraschen könnte. Der Anwalt Biegler ist im Stück des Anwalts Schirach der mit Abstand klügste Kopf und strahlende Kämpfer für das Gute.
Und so ist der Clou der Schirach’schen Theaterstücke, die eigentlich glänzende, schon aus seinem letzten Stück »Terror« bekannte Idee, dass am Ende das Publikum abstimmen darf, in diesem Fall, wie der Ethikrat entscheidet, eine Farce. Es ist schlicht nicht denkbar, dass irgendein Publikum gegen Gärtner und Biegler stimmt. Schirach ist in seiner Schilderung einfach zu parteiisch.
Der Bischof: »Der Selbstmörder lehnt sich gegen den Sinn des eigenen Lebens auf.«
Doch Schirach lässt seinen Bischof tatsächlich noch einen theologischen Satz aufsagen, nachdem er seitenlang rein traditionalistisch argumentiert hat und sich der Leser und die Leserin fragt, was denn nun der Antrieb dieses Herren ist. Schließlich darf er also Folgendes sagen: »Leben bedeutet zu leiden, Herr Biegler. Das Christentum, wenn man es ernst nimmt, ist die Religion des Leidens. Das ist schwer und passt nicht in die Moderne. […] Leiden ist schrecklich, oft kaum zu ertragen, ja aber das Leiden des gläubigen Christen ist nie eine Strafe. Sein Leid […] ist Reinigung.«
Und weiter unten dann noch einmal: »Der Selbstmörder, der sich gegen das Leiden auflehnt, lehnt sich gegen den Sinn des eigenen Lebens auf.« Und diese Sätze, zusammen mit dem Titel des Buches, mit »Gott« also, führen uns zu der oben angesprochenen Pointe, die das Stück für uns trotz seiner schablonenhaften Charaktere und seiner parteiischen Darstellung interessant macht.
Paul Ludwig Landsberg: »Das moralischen Problem der Selbsttötung« (1942)
Der jüdisch-katholische Philosoph Paul Ludwig Landsberg, 1944 von den Nationalsozialisten ermordet, hat 1942, als er versteckt im besetzten Frankreich lebte, den Essay »Das moralischen Problem der Selbsttötung« geschrieben. Die Argumentationslinie des Essays entspricht ziemlich genau der des Bischofs Thiel, doch unterscheidet sich Landsbergs Essay an einem entscheidenden Punkt: Anders als Schirachs Stück hat Landsbergs Denken existentielle Tiefe.
Landsberg fragt sich (selbst), ob er sich im Falle einer Verhaftung töten dürfe, um seine Freunde und Freundinnen nicht zu verraten. Es ist überliefert, dass Landsberg zu diesem Zeitpunkt noch ständig eine Zyankalikapsel mit sich führte, um genau dieses Vorhaben notfalls schnell in die Tat umsetzen zu können. Doch im Essay kommt er zu einem anderen Entschluss. Es liest sich fast so, als hätte Bischof Thiel einmal bei Landsberg nachgelesen. So heißt es dort: »Erinnere dich daran, was Christus und die Märtyrer erduldet haben. Du musst dein Kreuz tragen wie sie. […] Du darfst dich nicht töten, denn du darfst dein Kreuz nicht von dir werfen.« Wer sich gegen das Leiden auflehne, »lehnt sich in Wahrheit gegen den Sinn des eigenen Lebens auf. […] der Sinn des Lebens [erfüllt, KS] sich für den Christen im Leiden und durch das Leiden.« (37f.).
Landsberg kommt also zu dem Schluss, Selbsttötung sei Verleugnung des Lebenssinns. So hat er die Zyankalikapsel bald darauf entsorgt. Nicht viel später wurde er tatsächlich verhaftet. Schließlich ist er 1944 im Konzentrationslager Oranienburg gestorben. Soweit bekannt, hat er dennoch niemanden verraten. Landsbergs Position verlangt Ehrfurcht ab, schon alleine deswegen, weil sie aus echter existenzieller Betroffenheit heraus entwickelt ist.
Nirgends behauptet Landsberg, dass seine Position verallgemeinerungsfähig wäre.
Aus existenzieller Betroffenheit heraus kann Landsberg diese Position für sich einnehmen, aber Landsberg reflektiert ausdrücklich darauf, dass es sich hier um eine christliche Position handelt, die er selbst aufgrund seines Glaubens, den er als Nachfolge Christi auslegt, erlangt hat. Nirgends also behauptet er, dass seine Position verallgemeinerungsfähig wäre.
Schon gar nicht kommt Landsberg auf die Idee, die letztlich hinter dem irrlichternden Titel des Stückes von Schirach steht, dass das Leben aller Menschen oder auch nur sein eigenes Leben einem Gott gehören könnte. Diesen Satz nämlich lässt Schirach seinen Helden Biegler am Ende als Frage formuliert auch noch sprechen: »Wem gehört unser Leben? Gehört es einem Gott?«
Gehört das Leben Gott? Wer dieses Argument einem Christen aus dem Jahre 2020 in den Mund legt, betrachtet das aufgeklärte Christentum als naiven Theismus.
Solches Denken liegt Landsberg ferne. Für ihn ist die Religion eine Art mit den Erfahrungen des Lebens umzugehen, die dem Leben Tiefe verleiht. Wer also einen Satz wie das Leben gehört Gott als christliche Position in Anschlag bringt, der möchte gar nicht verstehen, um was es bei der christlichen Gottesidee unter den Voraussetzungen unserer Zeit noch gehen kann.
Gott ist keine Macht, die etwas besitzen könnte. Gott ist vielleicht ein Abschlussgedanke unseres Verstandes, ein Gefühl unseres Herzens oder eine Ahnung unserer Seele oder etwas ganz anderes. Theologie kann bei solchen Bildern natürlich nicht stehenbleiben. Sie fragt nach dem Ursprung der Bilder und Ideen. Jedenfalls, wer Gott als Besitzer charakterisiert und dieses Argument einem Christen aus dem Jahre 2020 in den Mund legt, der hat nun wirklich nichts verstanden von moderner Religiosität und betrachtet das aufgeklärte Christentum als naiven Theismus.
Die Kritik an Schirach ist gleichzeitig eine Selbstkritik.
Was ist nun also das Wichtige, das sich an Schirachs Stück zeigen lässt und es wert macht, dieses Stück trotz seiner Schwächen zu besprechen? Die Kritik an Schirach ist gleichzeitig eine Selbstkritik. Denn bei aller Parteilichkeit, die er offensichtlich an den Tag legt, bei aller Übertreibung, die seine Darstellung des Bischofs ausmacht, überspitzt er hier nur etwas, was es im Kern auch in Wirklichkeit gibt.
Wenn selbst Intellektuelle wie Ferdinand von Schirach (dass er einer ist, kann man in anderen Büchern von ihm lesen, nicht in diesem) das Christentum als naiven vorkritischen Theismus betrachten, dann verweist das auf ein immenses Vermittlungsproblem. Wie kann es sein, dass eine Position christlicher Ethik auf der Ebene eines naiven Theismus verhandelt wird? Warum schaffen wir (die Theologinnen und Theologen) es nicht, ein besseres Bild von unserem Gegenstand zu vermitteln? Insofern ist dieses klägliche Theaterstück eben auch nur ein Spiegel des oftmals kläglichen Bildes, das die großen christlichen Kirchen Deutschland in ethischen Diskussionen dieses Landes hinterlassen.
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Konstantin Sacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der Universität Leipzig und Schriftsteller.
Bild: Buchcover
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Literaturangaben
Paul Ludwig Landsberg: Das moralische Problem der Selbsttötung. Mit einem
Essay von Wilhelm Kamlah: Meditatio Mortis, hg. von E. ZWIERLEIN,
Matthes & Seitz 2017.
Ferdiand von Schirach: Gott, Luchterhand 2020.